“Pick me Boys” – Eine Sozialfigur im Zeitalter Taylor Swifts

von Katharina Walser

Viel und gerne haben wir in feministischen Diskursen der letzten Jahre über sie gesprochen, gescherzt und kritisch die Stirn gerunzelt: die “Pick me Girls”. Jovana Reisinger schlug in ihren clever-witzigen Abhandlungen zum Barbiecore vor, die “Tussi” als Gegenfigur zum “Pick me Girl” zu entwickeln, Sophie Passmann  kreiste in ihrer Auseinandersetzung mit ihrem inneren “Pick me Girl” in Teenagerjahren vor allem um sich selbst und zahlreiche Lifestyle-Magazine mahnten an, dass wir “diese 5 Pick-Me-Girl-Phrasen” aus unserem Vokabular verbannen sollten.

Mittlerweile hat sich eine recht klare Typologie dieser symbolischen Figur etabliert. Sie ist die Frau, die gelernt hat, all das, was stereotypisch weiblich gelesen wird, und das in einem patriarchalen System zu Diskriminierung führen könnte, abzulehnen. Sie ist one of the boys, eine “von den Jungs”, die professionelle Maniküren ebenso belächelt, wie sie hormonell bedingte Stimmungsschwankungen kleinredet. Sie trinkt Bier statt Espresso Martini, während sie lautstark über den sexistischen Witz des Kollegen lacht.  Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, so gut es geht in einer Welt zu bestehen, die nicht für sie gemacht wurde – allerdings auf Kosten anderer Frauen, von denen sie behauptet, sie seien “zu laut”, “zu hysterisch” oder schlicht “zu kompliziert”. So ist das “Pick me Girl” der Antitypus feministischer Solidarität. 

Brotkrumen für Fans

2024 allerdings, ein Jahr nach der Barbiecore-Mania und Passmans fragwürdiger Offenbarung, ist es vielleicht mal wieder an der Zeit einen ganz anderen Antitypus zu feministischen Bemühungen ins Bild zu rücken: den “Pick me Boy”. Was nicht zuletzt auch Taylor Swift mit ihrem aktuell (Rekorde brechenden) Album “The Tortured Poets Department” nahelegt. Schon der Titel, der wohl nicht zufällig an den “Club der toten Dichter” erinnert, ist ein absolutes (pun intended) Gedicht. Er führt zwei Vorstellungswelten zusammen, die schon vor dem ersten Hören verdeutlichen, welche Stereotype in diesem Album verarbeitet werden sollen. Auf der einen Seite klingt in ihm das elitäre Pathos des Filmklassikers mit Robin Williams an: Eine Klasse pubertierender Privatschüler entdeckt, dass Poesie mehr ist als nur Verse, die man auswendig lernen muss, ja dass man mit Lyrik sogar Frauen für sich gewinnen kann. Am Ende verabschieden sie tränenreich ihren Lehrer, der ihnen die Augen für das Wahre im Leben geöffnet hat, mit der Parole “Captain, my Captain”. Auf der anderen Seite steckt in dem Albumtitel – in typischer Taylor-Swift-Manier – ein versteckter Hinweis auf den letzten Boyfriend der Sängerin. Genauer: auf Joe Alwyn, der, wie er gegenüber der britischen GQ erzählte, mit seinem Kollegen Paul Mescal einen Whats-App-Channel mit dem Titel “Tortured Man Club” teilt – eine Anspielung auf die Rollen der beiden Schauspieler in den TV-Verfilmungen der Sally-Rooney-Romane. 

Bei so offensichtlichen Analogien scheint es ziemlich überzeugend, dass Taylor Swift sich bewusst dafür entschieden hat, mit dem Titel ihres Albums das Bild eines ganz bestimmten Männer-Typus aufzurufen. Schließlich betreibt die Sängerin ihr Fan-Marketing schon seit Langem, indem sie für ihre Fans eine clevere Spur aus Brotkrumen in Form von Zahlenrätseln und anderen Symbolismen legt. Auch, wenn sie selbst in Interviews gerne betont, dass sie es sei, die in den vergangenen Jahren viel “Tortured Poetry” geschrieben habe.  

Das Männer-Bild, das sich hinter “The Tortured Poets Department” verbirgt, bewegt sich in einem bestimmten assoziativen Dunstkreis, der gar nicht mehr so weit von der Barbie-Mania von 2023 entfernt ist. Schließlich erinnert es sehr an den Liebeskummer gequälten Ken, der versucht, seine Barbie mit dramatischen Songs auf der Akustikgitarre für sich zu gewinnen. Wenn es Meredith Grey aus “Grey’s Anatomy” gewesen sein soll, die für die Bezeichnung “Pick me Girl” sorgte, indem sie regelrecht um Mc Dreamys Aufmerksamkeit bettelte und dabei die Phrase “Pick me!” wiederholte, so ist Ken in seinem verzweifelten Ringen um Barbie der Vorzeige “Pick me Boy”. Das trifft auch auf einige Protagonist:innen im Club der Toten Dichter zu – und auf die Männer in Sally Rooneys Romanen (die so viele Gefühle haben und so wahnsinnig wenig Zugang zu ihrem Ausdruck). 

Der Pick me Boy bei Taylor Swift

Natürlich finden sich auch in den Sozialen Medien, insbesondere auf Meme-Kanälen, inzwischen zahlreiche Beispiele für das männliche Pendant des “Pick me Girls”. Dabei tut sich vor allem die Autorin Laura Melina Berling, aka @littlefeministblog, hervor, deren Memes ein klares Bild des Stereotypen umreißen, der auch bei Taylor Swift anklingt. Versuchen wir also auch für ihn eine kleine Typologie (mit Memes und Texten von Taylor Swift auf dem Spickzettel): 

Der “Pick me Boy” rühmt sich ein Feminist zu sein und hat dabei das wirklich basalste Verständnis von Feminismus. Dabei setzt er sich gerne von anderen Männern ab, indem er demonstriert, wie nachdenklich und belesen er ist. (“You left your typewriter at my apartment, straight from the Tortured Poets Department.”) 

Seit etwa einem Jahr ist er in Therapie und setzt die neu erlernten Begriffe “Me Time”, “Trauma Response” und “toxische Muster” gerne als Ablenkungstaktik ein, wenn ein Streit nicht zu seinen Gunsten auszugehen droht. Generell werden Dinge bei ihm gerade dann groß und poetisch, wenn alles den Bach runtergeht. Denn das findet er bedeutend und auf verquere Weise sexy. (“You’re not Dylan Thomas, I’m not Patti Smith. This ain’t the Chelsea Hotel. We’re modern idiots.”) 

Außerdem, die vierte Charakter-Säule des “Pick me Boys”, auf die auch der TikToker Jack Joseph immer wieder aufmerksam macht: Seine feministischen Überzeugungen, die Selbstreflexion und die gelernte fortschrittliche Gesprächsführung, fallen wie ein Kartenhaus zusammen, sobald der “Pick me Boy” Ablehnung erfährt. Ken ging dabei damals sogar so weit, das Patriarchat zu erfinden. Ein Verhaltensmuster, das für den “Pick me Boy” nur so lange gut geht, wie er ein manipulierbares Gegenüber hat. (“Once I fix me, he’s gonna miss me.”) 

Kritisches Männlichkeitsmarketing

An dieser Stelle muss man einmal klarmachen, dass “Pick me Boy” natürlich kein neuer Begriff ist. Er ist schon etwa so lange präsent, wie es das “Pick me Girl” gibt. Auch, weil die Umkehr erst einmal so simpel scheint. So simpel sogar, dass direkt nach dem Release von Sophie Passmanns Buch zum Thema, die Betreiber:innen vom Literaturcafe eine KI baten, den gesamten Text als Gegenentwurf für einen männlich sozialisierten Autoren zu verfassen. Das von der KI generierte Inhaltsverzeichnis liest sich wie beinahe jedes Sachbuch zu kritischer Männlichkeit, das seither erschienen ist. Und da sind wir auch schon beim Schlagwort – kritische Männlichkeit – und dem Grund, weshalb Taylor Swifts Erinnerung an eine bestimmte Männer-Trope genau zur richtigen Zeit kommt. Inzwischen ist das Nachdenken über die eigene Männlichkeit nämlich sowohl innerhalb des Literaturbetriebs, als auch bei anderen in der Öffentlichkeit stehenden Männern einer linken Bubble zu einer echten Marketing-Maschinerie geworden. 

Beispiele gibt es zuhauf. Etwa die schnell in ein Mikrofon gesprochenen Bekenntnisse von Lars Eidinger, Sebastian Tigges und anderen. Männer, die nicht müde werden, auf großer Plattform zu wiederholen, wie sie einen Beitrag zur Gender-Gerechtigkeit leisten, weil sie sich gerne die Nägel lackieren oder auch mal über Care-Arbeit nachdenken. Aber auch lang geplante Projekte, wie der “Oh Boy” Sammelband, in dem ein autobiografischer Täter-Text, unter ausdrücklichem Widerspruch des Opfers dennoch veröffentlicht wurde, verfallen den “Pick-Me-Boy”-Dynamiken. In diesem Fall sowohl vor als auch nach der Veröffentlichung.  Zuvor – auf schöpferischer Ebene – indem der Autor überhaupt zu dem Schluss gekommen ist, seine eigenen Erkenntnisse aus der eigenen Täterschaft zu teilen, sei wichtiger als die Bestimmung des Opfers über die eigene Geschichte. Danach – als der Band online bereits einiges an Kritik erfahren hatten –  auf diskursiver Ebene. 

Denn die berechtigte Kritik am Verhalten des Autors und des Verlags  zog schnelle Rückzugsgesten nach sich und führt bei so manchen Autor:innen, wie Nadine A. Brügger in der NZZ, bis heute (fast ein Jahr später) dazu, mal wieder das viel beschworene Ende der Debattenkultur auszurufen.

Bei @littlefeministblog gibt es übrigens eine Meme-Szene, die sich über genau diese Dynamiken lustig macht,  unter dem Untertitel AK kritische Männlichkeit: “Matze hat einen Vorwurf bekommen, dass er übergriffig war. Wir lösen uns deshalb auf”.

Das Stereotyp des “Pick me Boys” wird in seinen Meme-Varianten übrigens in noch sehr viel mehr, kleinteiligeren Facetten als in der vorläufigen Typologie beschrieben. Der “Pick me Boy” ist auch der, der uns vor dem Schlafengehen fragt, ob er uns Passagen aus dem Max Frisch – Ingeborg Bachmann Briefwechsel vorlesen darf. Der, der zu bestimmten Themen schweigt, weil er ja angeblich Expertise für eine feministische Stellungnahme bräuchte. Littlefeministblog schreibt dazu (ebenfalls unter dem Untertitel AK kritische Männlichkeit) “Über Care-Arbeit können wir nicht reden. Niemand von uns ist Vater” – und Tigges sagte vor kurzem gegenüber dem Tagesspiegel, er sei mit seiner Entwicklung noch nicht weit genug, sich mit gutem Gewissen Feminist nennen zu können. Der “Pick me Boy ist der, der für etwas gefeiert wird, das FLINTA* schon immer leisten (Stichwort: Vater, der “babysittet”) und der sich zwar total bewusst ist, dass Beziehungen viel Verantwortung sind, aber diese gerade “nicht tragen kann”.

Diskussionen bei Swift-Konzerten

Der “Pick me Boy” begegnet uns deshalb auch überall, im Dating-Leben wie im Literaturbetrieb –einfach überall da, wo Mann die Oberfläche feministischer Diskurse performativ wiedergibt, während er Verantwortung von sich weist, sich für minimales Engagement feiert und leider auch gefeiert wird. Dieses Spektrum des “Pick me Boys” deckt auch Taylor Swift in ihren Lyrics ab. Zumindest wenn es nach Stephanie Burt geht, Englischprofessorin an der Harvard University, die im Frühlingssemester 2024 einen Kurs mit dem Titel “Taylor Swift and Her World” unterrichtete: ““Swift sagt nicht nur (dem Typ in dem Lied), dass er nicht so talentiert ist. Sie meint damit auch, dass wir nicht die Art von Künstlern sein sollten, die ihre selbstzerstörerische, gequälte Natur in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellen.“.”

Auch bei Taylor Swifts drei Konzerten in Deutschland wid mit Sicherheit der ein oder andere “Pick Me Boy” dabei sein, der ausgerechnet dort, an der Seite seines Fan-Dates auf die Idee kommt, die Diskussion darüber zu führen, ob Taylor Swift als Inbegriff der reichen, weißen Frau wirklich eine feministische Ikone der Neuzeit sein darf. Er hat nämlich im Vorfeld lieber oberflächliche Talking Points zur Intersektionalität herausgesucht, statt die Songtexte zu lernen. 

Aber ist der “Pick me Boy” nun wirklich die diametrale Gegenfigur zum “Pick me Girl”? Ja und nein: Beide distanzieren sich von dem Stereotyp ihres Genders. Sie, indem sie den Feminismus verkennt, und er, indem er seine Phrasen mal als Schutzschild, mal als Aphrodisiakum nutzt. Aber in ihrem eigenen gesellschaftlichen Status und der Triebfeder hinter dem jeweiligen “Pick-Me”-Verhalten, unterscheiden sich die Bilder radikal. Schließlich versucht sie, in einem System zu bestehen (oder gar zu überleben), das nicht für sie gemacht wurde. Er dagegen versucht einfach nur weiter mit seinem männlich hegemonialen Verhalten durchzukommen, jetzt mit aufpoliertem Vokabular. Oder anders: Treffen sich das “Pick me Girl” und der “Pick me Boy”, sagt sie zu ihm: “You wouldn’t last an hour in the asylum where they raised me”.

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Foto von Dilan NaGi auf Unsplash

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