von Gerrit Wustmann
Fast ein Jahr lang saß der Kölner Sozialarbeiter Adil Demirci in der Türkei in Haft – er war eines von zehntausenden Opfern der Willkürjustiz. Nun hat er darüber ein Buch geschrieben. Gerrit Wustmann hat mit ihm gesprochen.
Aslı Erdoğan. Doğan Akhanlı. Can Dündar. Ahmet Altan. Deniz Yücel. Sie alle und unzählige andere haben eines gemeinsam: Sie wurden Opfer der Macht- und Willkürpolitik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie wurden und werden mit hanebüchenen Anklagen zum Teil bis ins Exil verfolgt, nachdem sie monate- oder jahrelang in der Türkei in Haft waren. Weil sie kritische Texte geschrieben haben, weil sie keinen Hehl aus ihrer oppositionellen Haltung machten oder auch einfach weil sie zum falschen Moment am falschen Ort waren.
Dass sie heute frei sind, liegt nicht zuletzt daran, dass sie prominent und gut vernetzt sind. Zehntausende andere befinden sich nach wie vor in Haft, gegen Hunderttausende laufen Prozesse. Noch vor wenigen Jahren setzte sich die Bundesregierung intensiv für die Verfolgten ein. Heute schweigt sie, und auch das Auswärtige Amt tut so, als wäre nichts, selbst wenn aus der Türkei Geflüchtete von Erdoğan-Anhängern in Deutschland bedroht und angegriffen werden. Man will wieder ein gutes Verhältnis zum Despot aus Ankara, zum NATO-Partner. Man will, dass deutsche Unternehmen am Bosporus kräftig investieren können, und das ist schwierig, wenn andauernd über Menschenrechte debattiert wird. Und vor allem will man den sogenannten Flüchtlingsdeal aufrechterhalten, der sicherstellt, dass Erdoğan gegen beträchtliche Geldzahlungen der EU keine Menschen mehr über die Grenze schickt.
Man muss sich das in Momenten bewusst machen, in denen Berlin, wie zur Zeit, klare Kante gegen den belarussischen Diktator Lukaschenko zeigt. Es ist eine Haltung nach Interessenlage, nicht aus Überzeugung bezüglich demokratischer und pluralistischer Werte. Der Despot, mit dem man heute die Schwerter kreuzt, kann morgen schon wieder ein Buddy sein. Je nachdem. „Menschenrechte als Alibi“ hat Bahman Nirumand das einmal genannt.
In diese Mühlen geriet im Frühjahr 2018 der Kölner Sozialarbeiter und Journalist Adil Demirci. Eigentlich wollte er bloß Verwandte besuchen. Doch am 13. April stürmte mitten in der Nacht die Polizei die Wohnung und nahm ihn mit. Die Gründe sollte er erst eine Weile später erfahren. Es war der Beginn einer Odyssee. Er blieb zehn Monate lang in Haft und erst im Juni 2019 wurde auch die Ausreisesperre aufgehoben und er konnte in den Flieger zurück nach Köln steigen.
Über diese Zeit und die Umstände hat er ein Buch geschrieben. „Zelle B-28. Als politische Geisel in Istanbul“ heißt es, erschienen im Eckhaus Verlag, Weimar. Es ist nicht der erste Bericht aus den Mauern der Haftanstalt Silivri bei Istanbul, leider. Es ist ein Gefängnis, das eine ganze Abteilung nur für politische Häftlinge hat. Der Journalist und ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar saß hier ein, der Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan, der Journalist Deniz Yücel. Sie alle haben Gefängnisbücher geschrieben, und es kommt einem manchmal so vor, als habe jeder türkische Intellektuelle inzwischen so ein Buch, als habe jeder diese Mauern schon von innen gesehen. Künstler und Autoren landen hier, Journalisten und Akademiker; Menschen, die etwas auf Twitter gepostet haben und deshalb als „Terroristen“ gelten, Anhänger von Fethullah Gülen, Mitglieder der Oppositionspartei HDP. Die weiblichen Häftlinge landen im Frauengefängnis Bakirköy. In der Haft lernte Adil Demirci auch Ahmet Altan kennen, der inzwischen, nach mehreren Jahren in Silivri, ebenfalls freigelassen wurde. Er habe den jüngeren Gefangenen Mut gemacht, ihnen den Rücken gestärkt, schreibt Demirci in seinem Buch.
„Im Gefängnis habe ich ein Tagebuch geführt, das ich bei der Entlassung mitnehmen konnte“, erzählt er heute. „Erst im letzten Sommer habe ich das wieder gelesen, weil ich Abstand brauchte. Mir war es dann wichtig, im Buch auch auf meine Vorgeschichte einzugehen, die Gründe, weshalb ich in der Türkei war, und auch auf die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, daher habe ich Exkurse zu den Gezi-Protesten, Wahlen und anderen Ereignissen eingebaut. Das war für mich auch eine Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung. Das Schreiben hat mir geholfen, damit abzuschließen. Zugleich wollte ich auf die große Solidarität eingehen, die ich erfahren habe.“
Warum hat es Adil Demirci erwischt? Die Staatsanwaltschaft warf ihm Folgendes vor: Im Jahr 2015 nahm er an der Beerdigung von zwei Mitgliedern der linksextremen MLKP in Istanbul teil – er berichtete darüber für eine Nachrichtenagentur. Aus demselben Grund besuchte er eine weitere Beerdigung und eine Veranstaltung an der Istanbuler Bosporus-Universität. Mit anderen Worten: Er wurde für die Ausübung seiner Arbeit als Journalist angeklagt. Um das zu verstehen muss man wissen, dass die Berichterstattung über in den Augen der Regierungspartei unliebsame Themen inzwischen so gut wie immer als staatsfeindliche oder gar Terrorpropaganda eingestuft wird. Womit jeglicher unabhängiger Journalismus unmöglich wird.
„Es geht immer weiter“, sagt Demirci mit Blick auf die jetzige Lage. „Aktuell ist da zum Beispiel Mahmut Güneş aus Bochum, der in Kayseri wegen Beiträgen in den Sozialen Medien festgehalten wird. Es ist schon zur Routine geworden, dass immer wieder Menschen verhaftet werden. Deswegen ist es so wichtig, klarzustellen: Das ist nicht normal. Und man muss etwas dagegen tun, muss den Betroffenen helfen.“
Eine freie Presse gibt es in der heutigen Türkei ebensowenig wie eine unabhängige Justiz. Das Verfahren gegen Adil Demirci war eine Farce, ein Schauprozess – wie jeder andere dieser politisch motivierten Prozesse auch. Und längst trifft es nicht mehr nur Menschen in der Türkei. Im Juni wurde der nach Deutschland geflüchtete Journalist Erk Acerer in Berlin von türkischen Rechtsextremen angegriffen, deutsche Erdogan-Kritiker, darunter etwa die Grünen-Politiker Cem Özdemir und Berivan Aymaz, werden von der gleichgeschalteten türkischen Presse immer wieder zur Zielscheibe gemacht. Und würden sie nicht in Deutschland leben, wer weiß, ob sie nicht längst ebenfalls in Silivri und Bakirköy gelandet wären? Vor wenigen Monaten ließ Lukaschenko ein Flugzeug landen und entführte den belarussischen Blogger Roman Protasewitsch. Es ging ein Aufschrei durchs politische Berlin. Wie ernst dieser Aufschrei zu nehmen ist, demonstriert die vernichtende Stille angesichts der Tatsache, dass Erdoğan schon seit Jahren immer wieder Oppositionelle aus dem Ausland entführen lässt und sie in der Türkei vor Gericht zerrt.
Demirci: „Es gab viel größeren öffentlichen Druck, als es die prominenteren Fälle betraf, das hat leider stark nachgelassen. Dabei brauchen die Menschen, die nicht so bekannt und vernetzt sind, unsere Unterstützung umso mehr. Sie bekommen zwar konsularische Betreuung, aber der Kontakt zum Auswärtigen Amt und zur Politik hat nachgelassen, auch weil es weniger öffentlichen Druck gibt.“
Adil Demirci hatte das Glück, dass sich Freund*innen, Kolleg*innen und Politiker*innen in Deutschland für ihn einsetzten. Sein Bruder und dessen Freundin gründeten die „Stimmen der Solidarität“ und hielten regelmäßige Mahnwachen in Köln ab. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker machte sich für ihn stark ebenso der Journalist Günter Wallraff und der SPD-Abgeordnete Rolf Mützenich. Und am Ende half Altbundespräsident Christian Wulff dabei, Demirci nach Hause zu holen.
„Am meisten hilft es den Betroffenen, wenn man ihnen zeigt, dass sie nicht allein sind“, erklärt er. „Das war auch für mich damals sehr wichtig. Zu wissen, dass Freunde, Familie und andere Menschen an mich denken, sich engagieren, das hat mir Kraft gegeben. Daran knüpfen wir nun auch mit dem Verein ‚Stimmen der Solidarität‘ an. Wir wollen zeigen, dass jeder etwas tun kann, sei es, indem man Postkarten und Briefe schreibt, sei es, indem man Unterschriften sammelt. Und wir versuchen, den Familien zu helfen, sie nicht mit all dem allein lassen. Patrick Kraiker aus Gießen ist seit März 2018 in der Türkei in Haft, und seine Mutter war lange ganz allein, nun sind wir mit ihr in Kontakt und versuchen, mit Abgeordneten zu sprechen und uns für ihren Sohn einzusetzen.“
Bitter war die Willkürhaft für Demirci aber nicht nur, weil er mehr als ein Jahr seines Lebens verlor. Sondern auch, weil seine Mutter starb, kurz bevor er die Türkei verlassen konnte. Ähnlich erging es 2010 dem Schriftsteller Doğan Akhanlı („Verhaftung in Granada oder Treibt die Türkei in die Diktatur?“, KiWi Verlag), dessen Vater starb, als er in Istanbul in Haft saß. Es sind dies auch die erschütterndsten Passagen in Demircis Buch, die zeigen, wie gnadenlos und menschenverachtend das AKP-Regime agiert, das immer brutaler um sich schlägt, je mehr seine Machtbasis bröckelt. Denn die Umfragen sind längst eindeutig: Eine faire und freie Wahl könnte Erdogan heute nicht mehr gewinnen. Demirci sieht das so: „Im Moment ist die Lage in der Türkei sehr schwierig. Die Gesellschaft ist gespalten. Vor allem Akademiker haben die Hoffnung aufgegeben und versuchen, das Land zu verlassen. Aber ich glaube nicht, dass das noch lange so weitergehen kann und dass sich die Regierung ewig mit Gewalt an der Macht hält. Zumindest hoffe ich das.“
Am Ende bleibt ein Wunsch: Dass die Türkei wieder eine Zeit erleben darf, in der keine Gefängnisbücher mehr geschrieben werden müssen.
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