Literarischer Stadtplan für New York City

von Isabella Caldart

Seit anderthalb Jahren gibt es ein Einreiseverbot für Europäer*innen in die USA, das noch immer nicht wieder aufgehoben wurde. Ein Glück, dass man sich mithilfe von Büchern sicher, günstig, schnell und umweltschonend an persönliche Traumziele weltweit lesen kann. Ein besonders beliebtes Traumziel ist für viele New York City; rund 65 Millionen Besucher*innen (darunter 13 Millionen aus dem Ausland) verzeichnete die Stadt in prä-pandemischen Jahren. Zugleich gehört New York auch zu den beliebtesten Schauplätzen von Romanen.

Wer an New-York-Bücher denkt, denkt zumeist an Romane wie Fegefeuer der Eitelkeiten, Manhattan Transfer oder Die New-York-Trilogie. Aber es gibt eine wesentlich größere Bandbreite an literarischen Texten, die New York als Setting haben. Auffällig dabei: Im East Village und in Harlem sind besonders viele Geschichten angesiedelt, und vor allem die siebziger Jahre, eine Zeit, in der New York dreckig und gefährlich war, werden als zeitlichen Rahmen gerne gewählt. Eine Auswahl. (Hier geht es zu Literarischer Stadtplan für New York City Teil I)

Christina Horsten, Felix Zeltner – Stadtnomaden (2019)

Gesamte Stadt

„In New York, vielleicht mehr als in anderen Städten, entscheidet sich ein großer Teil der Bewohner ganz bewusst dazu, genau dort zu leben … trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen … über die der Gedanke an diese ganz speziellen New-York-Momente dann immer wieder hinweghilft.“

Nachdem den beiden deutschen Journalist*innen Christina Horsten und Felix Zeltner ihre Wohnung an der Upper East Side gekündigt wird, wagen sie ein ganz besonderes Experiment, um einen der härtesten Wohnungsmärkte der Welt auszutricksen: Ein Jahr lang werden sie samt Kind und Kegel jeden Monat in einer anderen Wohnung wohnen, um so die Stadt kennenzulernen wie nie zuvor. Ein Experiment, das glückt: Ihre temporären Unterkünfte führen sie quer durch Manhattan, nach Chelsea, zur Upper West Side und ins East Village, rüber nach Dumbo und Williamsburg in Brooklyn, und natürlich auch nach Queens, Staten Island und in die Bronx.

Wie diese Erfahrung war, haben sie in ihrem Buch Stadtnomaden festgehalten. Um ihre Viertel richtig kennenzulernen, machen sie nicht nur ausgedehnte Spaziergänge, sondern unterhalten sich viel mit den Anwohner*innen. Besonders wichtig dabei: Die von ihnen organisierten Neighborhood Dinner, bei denen sie Fremde kontaktieren und zu einem gemeinsamen Abendessen einladen, das mit einer simplen Frage eingeleitet wird: „What’s your neighborhood story?“ Und die Nachbar*innen erzählen. Dadurch ist Stadtnomaden ein kurzweiliges Buch, das sowohl für diejenigen, die sich in New York bereits auskennen, als auch für jene, die sich einen ersten Überblick verschaffen möchten, empfehlenswert ist.

Ann Petry – The Street (1946, Deutsch von Uda Strätling, 2020)

Harlem, vor allem die 116th Street

„Schwer zu sagen, was schlimmer war – dass er allein in der engen, trostlosen Wohnung hockte oder dass er draußen spielte, wo der heftige Verkehr auf der 116th Street … noch das geringste Problem war … um andere Gefahren der Straße zu erkennen, war Bubb zu klein. Etwa die Gangs, die Knirpse wie ihn gern rekrutierten, weil man sie gut vorschicken konnte.“

Dieses Buch wird nicht gut enden, das ist kein Spoiler, sondern von der ersten Seite an klar. Die junge Schwarze Mutter Lutie, Protagonistin in The Street von Ann Petry (1908-1997), lebt mit ihrem Sohn, genannt Bubb, im Harlem der vierziger Jahre. Sie zieht in eine kleine Wohnung in der 116th Street und arbeitet hart, um sich die Miete leisten zu können, hat aber kein soziales Netz – und somit muss sich der achtjährige Bubb nach der Schule alleine beschäftigen, bis seine Mutter von der Arbeit kommt. Damit nicht genug, macht der Hausmeister des Gebäudes Lutie das Leben zur Hölle. Die wenigen Hoffnungsschimmer, die sich hie und da auftun, zerschlagen sich ebenso schnell wieder. So sehr sie sich für die Zukunft ihres Sohns um sozialen Aufstieg bemüht, verweist sie die rassistische, klassistische und sexistische Gesellschaft immer wieder auf ihren Platz.

Petrys Debüt ist allein schon wegen der Publikationsgeschichte eine Sensation, verkaufte sich das Buch nach der Erstveröffentlichung 1946 stolze 1,5 Millionen Mal – und das in einer Zeit, in der die wenigen schreibenden Frauen, die damals verlegt wurden, weiß waren. Nachdem er vor vielen Jahrzehnte in Vergessenheit geraten war, wurde der Roman endlich wiederentdeckt. Zum Glück, denn The Street ist ein starkes wie deprimierendes Sozialporträt, ein intensiver Gesellschaftsroman, der dicht und anhand einer komplexen Hauptfigur die harte Realität der Schwarzen Bevölkerung im Harlem zum Ende des Zweiten Weltkriegs schildert.

Colson Whitehead – Harlem Shuffle (2021, Deutsch von Nikolaus Stingl, 2021)

Harlem nördlich der 120th Street

„Die erste Hitzewelle des Jahres war ein Probelauf für den bevorstehenden Sommer … An der Ecke drehten zwei weiße Polizisten fluchend den Hydranten wieder zu. Kinder waren seit Tagen durch den Strahl gerannt. Fadenscheinige Decken säumten Feuertreppen. Die Aufgänge wimmelten von Männern in Unterhemden, die Bier tranken und quatschten, zum Lärm von Transistorradios.“

Anders als bei seinen vorherigen Erfolgsromanen Underground Railroad und Die Nickel Boys geht es in Colson Whiteheads neuem Buch wenig um die Fragen von Race und sozialer Gerechtigkeit. Da Harlem Shuffle im Harlem der sechziger Jahre angesiedelt ist, schwingen diese Themen im Hintergrund immer mit; der Roman aber ist plotlastig und wie ein Krimi angelegt. Er handelt von Ray Carney, einem Händler von Second-Hand-Möbeln mit einem Geschäft in der 125th Street, der hie und da kleinere illegale Deals macht, aber sonst recht unbescholten ist. Doch dann lässt er sich von seinem Cousin in einen Coup hineinziehen: Sie überfallen das edle Hotel Theresa, ein Verbrechen, das komplett misslingt.

Harlem Shuffle ist nicht nur flott erzählt, sondern vor allem ein Abbild des prä-gentrifizierten Harlems mit shady Kriminellen, harten Arbeitenden, einer reichen Mittelklasse in der Strivers‘ Row, Musik auf den Straßen, dunklen Dive-Bars und schmutzigen Hähnchenbistros. Wer sich zutraut, Bücher auf Englisch zu lesen, sollte allerdings nicht zu der vermurksten deutschen Übersetzung greifen, sondern lieber noch ein wenig warten – das Original erscheint am 14. September, einen knappen Monat nach der deutschen Fassung.

Louis Auchincloss – East Side Story (2004, Deutsch von Karl A. Klewer, 2007)

York Avenue/Sutton Place und Upper East Side, vor allem Fifth Avenue und 57th Street

„Um das Jahr 1900 rum hatten sich die Carnochans einen festen Platz etwa in der Mitte der gesellschaftlichen Leiter New Yorks gesichert. Von der zweiten Generation – vom Auswanderer David an gerechnet – lebte niemand mehr außer Douglas‘ Witwe Eliza. Nur noch selten verließ sie das Haus aus rötlich-braunem Sandstein an der 57th Street, in dem sie still und geachtet mit ihrer unverheirateten Tochter Annie lebte; ihre anderen Kinder hatten es deutlich weiter gebracht. Das Stadthaus, das sich Bruce im französischen Stil hatte errichten lassen, war den Touristen, die an der Fifth Avenue die Wohnsitze der Reichen bestaunten, ein vertrauter Anblick.“

Im 19. Jahrhundert wandert David, der die Dynastie der Carnochans begründen wird, in die Vereinigten Staaten aus. Die Familie bringt es im Laufe der Jahrzehnte an der East Side in Manhattan zu Wohlstand und Macht. In zwölf mehr oder weniger chronologisch aufbauenden Kapiteln, beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Vietnamkriegs, erzählt Louis Auchincloss (1917-2010) in East Side Story von vier Generationen, jeweils aus der Perspektive eines Familienmitglieds. Die Kapitel bilden eine zusammenhängende Geschichte, funktionieren als eigenständige Kurzgeschichten aber ebenfalls sehr gut.

Alkoholismus, ein gewisses Rebellentum gegen die eigene Familie und die Frage, wie man taktisch am geschicktesten heiratet, sind die Hauptmotive des Romans. So zum Beispiel die vielleicht spannendste Story um Alida, die sich erst freut, als ihr Mann sich einer Sekte zuwendet, weil er dadurch dem Alkohol entsagt, bis er der Sekte eine halbe Million Dollar spenden will. Oder Jaime, der die High Society der dreißiger Jahre schockiert, als er seiner Frau eine offene Ehe vorschlägt. Oder der Patriarch, der weiterhin mit Firmen aus Nazideutschland zusammenarbeiten will. Das Schöne an East Side Story: Auf weniger als 300 Seiten bekommt man einen ebenso breiten wie tiefen Einblick in das Milieu der Upper Class. Wer auf Familienporträts steht, ist hier genau richtig.

Britta Boerdner – Was verborgen bleibt (2012)

East Village, vor allem E 4th Street und E 9th Street

„Auch mir gelingt ja nur der Blick von außen, wie die Touristen nehme auch ich nicht teil, erfasse keine Begebenheit als Ganzes. Unsere Bewegungen sind statisch, fixiert auf das Augenfällige ist auch unser Blick, wir spüren den Puls nicht, wir sehen nur den Verkehr.“

Es sollte die Zeit ihres Lebens sein: Ein Paar Mitte 30 beschließt, nach New York auszuwandern. Gregor hat die Green Card gewonnen und ist schon da, sie, die namenlose Ich-Erzählerin in Was verborgen bleibt von Britta Boerdner, besucht ihn nach monatelanger Trennung, um die Stadt besser kennenzulernen und einen Job zu finden. Doch schon bei ihrer Ankunft verrutscht der Begrüßungskuss – und danach geht es nur noch bergab. Gregors Gesicht entgleist, als sie ihm eröffnet, dass sie ganze drei Wochen bleiben will. Er hat keine Zeit, muss arbeiten, und so läuft die junge Frau alleine mit ihren Gedanken durch die Stadt, schlendert tagelang orientierungslos durch ein eiskaltes New York. Straßen, Cafés und Wahrzeichen werden namentlich genannt, doch New York City heißt immer nur „die Stadt“, eine Stadt, die ihr fremd bleibt. Das urbane Erlebnis als Offenbarung bleibt aus. Und während sich Gregor der US-amerikanischen Mentalität angepasst hat und nur noch vorne blickt, schaut sie zurück und fühlt sich in den USA europäischer denn je.

Britta Boerdners Debüt erzählt nicht nur von einer kalten, fremden Stadt, sondern vor allem auch von zwei Menschen, die sich nichts mehr zu sagen habe. Was verborgen bleibt ist ein leise erzählter Roman, der von vergessenen großen Gefühlen und dem Scheitern einer Beziehung berichtet. Am Ende bleibt die Erkenntnis, was dem Paar wirklich fehlte: „Aber nie sprachen wir über die Einsamkeit.“

iO Tillett Wright – Darling Days (2016, Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann, 2017)

Bowery im East Village, vor allem 13 E 3rd Street und E 4th Street

„Aber selbst 1985, die Stadt ohnehin pleite und im Chaos versunken, in der Schlussphase von Punk und in der Hochphase der Aids- und Crack-Epidemie, stach die Third Street durch ihre besonders raffinierte Gewalttätigkeit heraus, ein Kaleidoskop des Irrsinns.“

Bis Mitte der neunziger Jahre war das East Village, gerade Alphabet City und die Bowery, eine heruntergekommene unsichere Gegend. Einen guten Einblick in diesen Stadtteil zu jener Zeit gibt der 1985 geborene Autor, Podcaster und Fotograf iO Tillett Wright in seinem Memoir Darling Days. Als Kind einer Schauspielerin und eines Künstlers ist sein Leben nicht nur wegen des Wohnorts, sondern in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Die Eltern, Bohemians und drogenabhängig, lassen ihr Kind aufwachsen, wie es ihm beliebt, stören sich nicht daran, als er, bis dahin als Tochter erzogen, bereits im Alter von sechs eröffnet: „Ich bin dein Sohn.“ Gleichzeitig bedeutet ihr freies, künstlerisches und nicht mit der Gesellschaft konformen Leben, dass es dem kleinen iO oft an elementaren Dingen wie Essen und Kleidung mangelt. Dazu kommt, dass er nach dem Wegzug des Vaters nach (ausgerechnet) Karlsruhe und dem irrationalen Verhalten der Mutter schon als Kind ganz alleine dasteht.

Gender und Sexualität, Coming of Age in den letzten Tagen von gritty Lower Manhattan und die Beziehung zu zwei unorthodoxen Elternteilen sind die großen Themen des Buchs. Darling Days ist in dem Sinne keine große Literatur – das Buch mit zahlreichen Fotos folgt wie ein Tagebuch einem strikt chronologischen Ablauf und ist ziemlich adjektivlastig und deskriptiv, mit sehr subjektivem Blick – es will aber auch gar nicht mehr sein als die leicht zu lesende Beschreibung einer interessanten Biografie, eines Manhattans, das es nicht mehr gibt. Und am Ende ist das Buch, trotz allem, was geschehen ist, und trotz der einleitenden Entschuldigung an seine Mutter zugleich auch eine Liebeserklärung an sie.

Siri Hustvedt – Was ich liebte (2003, Deutsch von Uli Aumüller, Erica Fischer und Grete Osterwald, 2003)

SoHo und Bowery, vor allem 27 Greene Street

„Als dann gegen Ende Oktober 1983 die Arbeiten zur Hysterie ausstellungsreif waren, war das SoHo, wohin Erica und ich 1975 gezogen waren, verschwunden. An die Stelle seiner meist ausgestorbenen Straßen und seiner Schäbigkeit war neuer Glanz getreten. Eine Galerie nach der anderen machte auf – mit abgezogenen und frisch gestrichenen Türen. Modeboutiquen schossen aus dem Boden…“

Ihr Ehemann Paul Auster ist zwar bekannt für seine New-York-Romane, doch Siri Hustvedt hat mit Was ich liebte sogar einen noch viel besseren verfasst, der zweifelsohne zu den ganz großen New-York-, Gesellschafts- und Kunstromanen gehört. Sie erzählt darin von zwei avantgardistischen Künstlerpaaren, die im prä-gentrifizierten SoHo leben, und folgt ihrem Leben über mehrere Jahrzehnte. Protagonist und Erzähler Leo und seine Frau Erica lernen den zu dem Zeitpunkt noch unbekannten Künstler Bill und seine Frau Lucille, eine Lyrikerin, kennen, und beide Paare ziehen in nebeneinander liegende Wohnungen in der Greene Street. Später werden auch ihre Kinder Mark und Matthew fast zeitgleich geboren.

Der zweite Teil des umfangreichen Romans beginnt mit einem Schock, und danach zieht das Tempo merklich an. Bill wird zu einem international gefeierten Künstler, doch sein Sohn Mark, der auch für Leo und Erica wie ein zweiter Sohn ist, rutscht in immer dunklere Kreise ab – bis es sogar den Verdacht gibt, er könne in einen Mord involviert sein. Was auf den ersten Blick vielleicht too much klingt, ist stark autobiographisch und bezieht sich auf Paul Austers Sohn aus erster Ehe, wie ihr hier nachlesen könnt. Vielleicht einer der Gründe, warum Siri Hustvedts Was ich liebte ein so dichter, intensiver, perfekt durchkomponierter und emotionaler Roman ist.

Kim Gordon – Girl In A Band (2015, Deutsch von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger, 2015)

Lower East Side und Bowery und Alphabet City im East Village, vor allem 84 Eldridge Street

„Von uns beiden wohnte Thurston in dem erheblich schlimmeren Block, der Thirteenth Street in Alphabet City. Niemand, der noch halbwegs bei Verstand war, wollte nachts zu Fuß auf der Eldridge Street zwischen Hester und Grand unterwegs sein – die Straße hatte lauter dunkle Ecken, war unheimlich und drogenverseucht – aber dort war es nicht annähernd so schlimm wie auf der Thirteenth Street zwischen den Avenues A und B.“

Sonic Youth gehört zu diesen Bands, die auf der feinen Grenze zwischen Underground und Mainstream zu verorten sind, die viel größere Gruppen wie Nirvana maßgeblich beeinflusst hat, aber selbst so gut wie nie im Radio zu hören ist. 30 Jahre lang hat es die Band gegeben, 30 Jahre lang waren auch Kim Gordon und Thurston Moore zusammen. Die Autobiografie Girl In A Band erzählt die Geschichte von Kim Gordon und von Sonic Youth, erzählt von einem New York zu Zeiten, als die Mieten im East Village noch 150 Dollar betrugen, und erzählt vom Schmerz nach dem Ende einer Ehe. Aufgewachsen im Kalifornien der sechziger und siebziger Jahre, das geprägt war von freier Liebe sowie von der Manson Family, verschlug es Kim Gordon 1980 nach New York City (somit fängt das Buch da an, wo „Just Kids“ von Patti Smith aufhört, zwei teilweise ähnliche Biografien), erlebte die ranzigen Punkrock-Zeiten in Lower Manhattan mit. Und beantwortet die Frage, die Kim Gordon häufig gestellt wurde: Wie ist es, das einzige Girl in einer Band zu sein?

Girl In A Band ist eine feministische Autobiografie, lesenswert nicht nur für jene, die Sonic Youth schätzen, sondern sich generell für Underground-Musik und -Kunst und für US-amerikanische Popkultur interessieren, für ein New York vor der Gentrifizierung bis hin zu 9/11, und ja, am Ende auch für Geschichten über die Liebe und den Verlust der Liebe.

Susan Jane Gilman – Die Königin der Orchard Street (2014, Deutsch von Eike Schönfeld, 2015)

Lower East Side und Little Italy, vor allem Orchard Street

„Nun allerdings blinzelten wir in das staubige Morgenlicht, meine Schwestern und ich, in der beengten, übervölkerten, flachen Orchard Street. Das hier war eher wie Wischnew als Amerika. Überall Jiddisch. Straßenkarren, Hausierer, Kauflustige, Pferde und Kinderbanden verstopften die Gehsteige. Der Lärm war unfassbar. Von der Skyline Manhattans war nichts mehr übrig … Einwanderer, ein einziges Elend.“

Die Königin der Orchard Street ist eine Geschichte des American Dreams: Kurz nach der Jahrhundertwende kommt die jüdische Russin Malka mit ihrer Familie an die Lower East Side. Statt den erhofften Straßen aus purem Gold erwartet die Familie das übliche Elend der Einwanderer; Dreck, Armut und Hunger gehören zum Alltag. Auch Malka muss mit ihren fünf Jahren bereits Geld verdienen, um ihren Beitrag zu leisten. Als sie von einer Pferdekutsche angefahren wird, verstößt sie die Familie, der Kutscher selbst nimmt das gehbehinderte Kind bei sich auf. Die Dinellos leben in Little Italy und verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung von Gelato. Als Christin getauft und in Lillian umbenannt, wird das junge Mädchen nach und nach in die Geheimnisse rund um das Eis der Dinellos eingeweiht. Als sich ihre italienischen Brüder eines Tages gegen sie verbünden, schwört Lillian auf Rache: Sie will ein riesiges Eisimperium aufbauen und die Dinellos vom Thron stoßen.

Geschickt verbindet Susan Jane Gilmans Roman die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit der fiktionalen Erzählung ihrer Protagonistin. In vielen Rückblenden von der Gegenwart des Romans Anfang der achtziger Jahre erinnert sich Lillian an ihr Leben. Beide Weltkriege, die Prohibition, die Depression, der Aufstieg von McDonald’s, Disco und HIV, all diese Ereignisse beeinflussen ihr Leben. Trotz der vielen widrigen Umstände lässt sich Lillian aber nicht unterkriegen und verfolgt hartnäckig ihren Traum, die Eiskönigin der USA zu werden. Sie ist eine Antiheldin, die für ihre Ziele über Leichen geht – und für die man doch Sympathien empfindet.

Betty Smith – Ein Baum wächst in Brooklyn (1943, Deutsch von Eike Schönfeld, 2017)

Williamsburg und East Williamsburg, vor allem Bogart Street, Lorimer Street und Manhattan Avenue

„Auch New York war enttäuschend. Die Gebäude waren höher und die Menschenmengen dichter, aber sonst unterschied es sich kaum von Brooklyn.“

Anfang des 20. Jahrhunderts ist Brooklyn inzwischen zwar ein Borough von New York City, Manhattan wird aber nach wie vor als „die Stadt“ oder „New York“ bezeichnet. Man bleibt im eigenen Viertel; wer in Brooklyn wohnt, überquert den East River nicht, schon gar nicht, wenn man in so ärmlichen Verhältnissen aufwächst wie Francie Nolan. Ist wieder mal kein Geld für Essen da, spielt Francies Mutter Katie mit ihren Kindern „Expedition“, und tut so, als säßen sie am Nordpol fest und müssten warten, bis Hilfe einträfe. In Ein Baum wächst in Brooklyn erzählt Betty Smith (1896-1972) in von mehreren Generationen der Nolan-Familie, vor allem den Frauen, neben Erzählerin Francie ist Katie die zweite Protagonistin, eine pragmatische Frau: Sie hält die Familie zusammen und sorgt für den Großteil des Einkommens, während ihr Ehemann Johnny zwar ein gutes Herz hat, aber auch ein Taugenichts ist.

Katie ist zudem sehr progressiv, redet zum Beispiel mit ihrer Tochter offen über Sex. Das ist nicht nur deswegen bemerkenswert, weil das Buch in den zehner und zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielt, sondern vor allem, weil es selbst schon ziemlich alt ist: Der Roman wurde erstmals 1943 veröffentlicht. Und auch abgesehen von seiner Progressivität ist Betty Smiths Ein Baum wächst in Brooklyn ein fantastischer Familien-, Gesellschafts- und Brooklyn-Roman, eine gekonnte Milieustudie über eine Einwandererfamilie in Williamsburg und ihrem unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg – der so groß ist, dass Katie ihren Kindern schon im Babyalter jeden Tag eine Seite Shakespeare und eine aus der Bibel vorliest, um ihnen Bildung zu vermitteln.

Jacqueline Woodson – Ein anderes Brooklyn (2016, Deutsch von Brigitte Jakobeit, 2018)

Bushwick

„Wir trugen Rasierklingen in unseren Kniestrümpfen und ließen uns lange Fingernägel wachsen… Doch Brooklyn hatte längere Nägel und schärfere Klingen.“

Dieses Buch ist so durch und durch Bushwick, dass Jacqueline Woodson Ein anderes Brooklyn sogar dem Stadtteil gewidmet hat. „Anders“ ist ihr Brooklyn, weil Woodsons Bushwick nichts mit dem Bild des hippen Brooklyn zu tun hat, das wir heute kennen. Protagonistin August kehrt nach zwanzig Jahren zurück in das Viertel, in dem sie in den siebziger Jahren aufwuchs. Die Erinnerungen an ihre Teenagerzeit prasseln auf sie ein; Erinnerungen an sie selbst und an ihre drei Freundinnen, die damals aus ganz unterschiedlichen Familien stammten. Und doch sind die Erfahrungen, die sie als Mädchen und junge Frauen in dem gefährlichen Stadtteil machen, vergleichbar

In Abschnitten, die durch Sprache und Textbild an Lyrik erinnern, erzählt Jacqueline Woodson von den Jahren dieser vier Mädchen, in denen sie viel zu früh gezwungen sind, erwachsen zu werden, gezwungen durch den Hunger, die Brutalität und die durchdringenden Blicke der Männer. Überall lauert Gefahr. Formell erinnern Struktur, die weniger einer kohärenten Story und Handlung folgt, und Rhythmus an ein Prosagedicht, das der Geschichte einen traumhaften Ton verleiht. Woodson gelingt es in diesen assoziativen Fragmenten, ein lebendiges, atmosphärisches Bild dieses Stadtteils zu vermitteln, das in dieser Form heute nicht mehr existiert. Ein stilistisch wie inhaltlich fantastisches Buch.

Bild von Isabella Caldart

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