Solidarität auf Eis – Ein Kommentar zu Phrasen der Pandemiebekämpfung

von Katharina Walser

Anfang Dezember letzten Jahres erntete Olaf Scholz Jubelrufe, Schlagzeilen und Bewunderung dafür, wie er zur Primetime bei einem großen Fernsehsender über die Corona-Pandemie sprach. Tags darauf hieß es unter anderem, er habe einen “kühlen Kopf”(handelsblatt) behalten; um eine „beispiellose Pandemieansprache”(focus) habe es sich gehandelt und der neue Bundeskanzler nehme nun „den Kampf gegen die Pandemie auf”(Spiegel).

Zur Verfügung gestellt wurde der Sendeplatz von Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf, die im Rahmen ihres Formats „Joko & Klaas gegen Pro Sieben” 15 Minuten freie Sendezeit erspielen. Am 1. Dezember nutzten sie diesen Slot, um auf die Entwicklungen der Corona Pandemie aufmerksam zu machen. Und auch, wenn manch einer dieses Sendeformat als Marketing Clou für den Sender ProSieben oder vielleicht sogar als Sensationsjournalismus bezeichnen mag, leistet es, ungeachtet der Motivation und der ästhetischen Umsetzung, zweifelsohne einen wichtigen Beitrag dazu, komplexe Themen sozialer Relevanz aus ihrer wissenschaftlichen und feuilletonistischen Bubble zu holen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.  

Ein derart öffentliches Statement zur Lage der Pandemie, wie das von Olaf Scholz, das nicht in Online-Übertragungen von Pressekonferenzen während eines Werktags versteckt ist, sondern zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird, kam allerdings im zweiten Pandemie Jahr nicht nur sehr spät, seine Rede zur vierten (!) Corona-Welle hielt darüber hinaus wenig Neues bereit. Er appellierte, wie so viele in den vergangenen Jahren, an die gesamtgesellschaftliche Solidarität: „Jeder kann und sollte sich impfen!”, lautete seine Kernaussage. Und auch Scholz’ Neujahrsansprache schlug ähnliche Töne an. Scholz betonte wie gut im vergangenen Jahr gemeinsam “angepackt” wurde. Er sehe “eine riesige Solidarität” und appellierte daran, weiterhin solidarisch zu bleiben, forderte Ungeimpfte auf, keine Termine mehr aufzuschieben, Angebote ohne Terminvergabe zu nutzen und die bereits Geimpften, sich doch endlich boostern zu lassen. Er erweckte den Eindruck, dass es doch alles ganz simpel sei und zeigt deutlich, dass dem Allgemeinplatz der Solidarität, die Vorstellung von Hürdenlosigkeit zu Grunde liegt. Und darin liegt das derzeitige Kernproblem in der Aufforderung zu gemeinschaftlichem Zusammenhalt.

Kaum ein Begriff wurde in den vergangenen zwei Jahren so oft bemüht, wie der der Solidarität und kaum ein Konzept, wurde so gebeutelt zwischen euphorischem Optimismus und völliger Entwertung. Kaum ein Begriff beschwört im Kontext der Pandemiebewältigung so viel gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demut und bleibt gleichzeitig so leer. Denn so oft er ins Feld geführt wurde, so ungenau wurde bisher definiert, worin ein solch gesamtgesellschaftlich verantwortliches Handeln eigentlich realisiert wird. Weiter als bis zu dem Anspruch, man solle sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Nächsten impfen lassen, scheint er nämlich bisher nicht gedacht worden zu sein. Das Prinzip der Solidarität wird bisher anscheinend lediglich als Grundverantwortung des Individuums gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft gedacht, als die Verantwortung des Einzelnen. Diese Vorstellung der Solidarität, die an die Verantwortung des Individuums appelliert, formuliert sich in einem Sollen und Müssen, und setzt das Können als gegeben voraus.

Was so in der öffentlichen Debatte zur Pandemiebewältigung weiter unterzugehen droht ist, dass dieses Können, von dem auch Scholz spricht, dieses Vermögen, die geforderte Solidarität auch umsetzen zu können, gesellschaftlich nicht gleichmäßig verteilt ist. In den Reden von der Gesamtgesellschaft geht so unter, dass nicht alle dieselbe Kraft aufbringen können, um ihren Teil dieses eingeforderten verantwortlichen Handelns zu leisten. Man scheint die “Gesamtheit” zu oft zu verwechseln mit “Einheitlichkeit” und zu vergessen, dass die Gesellschaft in ihrer Diversität beim Tragen dieser genannten Verantwortung auf heterogene Hürden stößt.  

Wo hier und da Elemente dieser Problematik kurz aufgeflammt sind, beispielsweise in Diskussionen um die Frage, wer sich besonders sichere FFP2- oder FFP3-Masken und regelmäßige Selbsttests leisten kann, fehlt nach wie vor ein großangelegter Diskurs, der alle Bereiche von ungleicher Ressourcenverteilung in den Blick nimmt. Und dazu gehören neben monetären Ressourcen auch zeitliche, physische, geistige, technische Ressourcen sowie Möglichkeiten zur medialen Teilhabe.

Nicht ganz klar ist auch, wieso nach zwei Jahren Pandemie in solchen Solidaritätsreden immer noch vor allem diejenigen zu Adressat:innen werden, die sich unvernünftigerweise wirklich nicht impfen lassen wollen. ‘Impfwillig’ ist unlängst zu einem geflügelten Wort in den üblichen Schlagzeilen geworden und man scheint weiter wie selbstverständlich davon auszugehen, dass “impfwillig” auch automatisch “impffähig” bedeutet – sich die Welt ganz binär einteilen ließe in die Befürworter:innen und die Gegner:innen von Corona-Maßnahmen. Und es deshalb auch ausreiche, lediglich weiter an den guten Willen zur Solidarität zu appellieren. Tatsächlich gibt es aber noch mindestens eine weitere Kategorie, die in diesen Diskussionen untergeht und sich mit den oben genannten Hürden zur individuellen Solidarität konfrontiert sieht. Man könnte diese Gruppe vielleicht als “Impfsuchende” bezeichnen. Eine Gruppe die gerade jetzt, wo bereits Geimpfte so schnell wie möglich ihre Booster-Impfung bekommen sollten, wächst.

Wen soll die Rede von “Gesamtgesellschaft” heute noch erreichen? Oder andersherum gefragt: Kann ein permanentes Wiederholen eines inzwischen abgegriffenen Wortes, umrahmt von verbrauchten Phrasen, wirklich noch diejenigen erreichen, die nicht erreicht werden wollen? Wird tatsächlich gehofft, dass, wenn man den Aufruf zu Solidarität nur oft genug wiederholt, doch noch diejenigen abgeholt werden, die sich mit Fackeln auf den Weg zu Politiker:innen machen; dass diese Personen an Silvester hören, dass sie der Gesellschaft gegenüber eine Verantwortung zu tragen haben und daraufhin ihren Glauben an einen undemokratischen Staat aufgeben, den Neujahrsvorsatz fassen keine Polizist:innen anzugreifen und sich auf direktem Wege in die nächste Impfkabine begeben? Wohl kaum. 

Wieso also nicht den Blick auf die Personengruppen lenken, die sehr wohl bereit ist, sich impfen zu lassen, um sich und andere zu schützen, aber die nicht in der Lage sind, bei Minusgraden mehrere Stunden zu stehen, um ihren Platz in der Schlange eines Impfbuses zu halten. Diejenigen, die keine Zeit haben eine Liste von Arztpraxen durch zu telefonieren, in der Hoffnung einen begehrten Platz auf einer Warteliste zu bekommen; diejenigen, die sich unter der Woche nicht frei nehmen dürfen, weil ihr:e Arbeitgeber:in schlicht nicht bereit dazu ist, für das Wohl ihrer Mitarbeiter:innen auf ein paar Umsatzzahlen zu verzichten, die Kinder Betreuenden, die nicht Vormittags einfach das Home Schooling liegen lassen können, um einen spontan freigewordenen Impftermin wahrzunehmen. 

Weshalb nicht überlegen, wie neue Strukturen zu schaffen wären, für diejenigen, deren mediale Kompetenz schlicht nicht ausreicht, um sich mit einer Email-Adresse bei einem Online-Portal zu registrieren. Wieso nicht Impfbusse gezielt zu Adressen schicken, an denen Leute einen Hinweis ausgehängt haben, nicht laufen zu können. Warum nicht auch die Gruppen in den Blick nehmen, die weder “impfwillig” ist noch aus “Impfgegner” besteht, die unter Umständen zu erreichen wären, wenn man Ängste, Phobien oder psychische Erkrankungen nicht unter der Vorstellung des ignoranten Gegnertums verdrängte, sondern diese ernst nehmen und konkrete Gesprächsangebote machen würde. Und vor allem, wieso nicht öffentlich zeigen, dass man um diese Schwierigkeiten und Hürden weiß, und dadurch das Gefühl vermitteln, dass ein Bewusstsein für diese strukturellen Probleme herrscht. Auch Politik muss Solidarität zeigen.

Dem bisher in den Vordergrund gestellten Solidaritätsbegriff, der von dem verantwortlichen Handeln des Individuums gegenüber der Gesellschaft ausgeht, muss dringend ein Solidaritätsbegriff gegenübergestellt werden, der die Verantwortung der Politik gegenüber den Bürger:innen ins Zentrum rückt. Ein solcher müsste ungleiche Ressourcenverteilungen in den Blick nehmen und konkrete Entwürfe sowie Lösungsansätze bereitstellen und kommunizieren, die die individuelle Handlungsmacht und den Zugriff auf die nötigen Ressourcen aktiv stärken. Eine solche Idee von Solidarität und Verantwortung würde nicht von der Gleichheit verteilter gesellschaftlicher Kräfte ausgehen, sondern die Gesellschaft von ihrer Differenz aus denken. Sie würde alle Machtmechanismen und deren Verschränkungen mitdenken, die zu dieser ungleichen Kräfte Verteilung führen. Alle Antifeminsmen, Rassismen, Klassismen und Ableismen. Das Stichwort heißt: Intersektionalität. 

Die Tatsache, dass die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit weiter verstärkt hat, sowie erneut die intersektionalen Strukturen deutlich gemacht hat, in denen diese Ungleichheiten entstehen, steht außer Frage. Eine Studie des Instituts für Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen beispielsweise erarbeitete Ergebnisse, in denen abzulesen war, dass die Pandemie in einkommensschwachen Teilen der Gesellschaft zu höherer Verschuldung, in einkommensstarken Teilen eher zu einem Vermögenszuwachs geführt hat. Eine Studie des RKIs untersuchte regionale Unterschiede in der COVID-19-Sterblichkeit während der zweiten Infektionswelle in Deutschland und kam zu dem Ergebnis, dass die Mortalitätsrate in ökonomisch benachteiligten Regionen Deutschlands am stärksten ausfiel. 

Diese Benachteiligung wurde hierbei mit einem mehrdimensionalen Index ausgewertet, der Verschränkungen aus regionalen Bildungs-, Beschäftigungs- und Einkommensverhältnissen als Indikatoren ansetzt. Die Hans-Böckler Stiftung veröffentlichte im August eine Studie, die die Verstärkung von ungleich verteilter Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern während der Covid-19 Pandemie auswertete. Sie ergab, dass die Sorgearbeit wieder stärker vom weiblichen Geschlecht übernommen wurde als vor der Pandemie. Die Liste ist an dieser Stelle keineswegs zu Ende. Doch sie zeigt bereits sehr gut, dass die Verstärkung sozialer Ungleichheit deutlich macht, dass das “gleiche Boot”, von dem in optimistischen Zeitungsartikeln und Dossiers zu Beginn der Pandemie die Rede war, in denen von der ‘Krise als Chance’ geschrieben wurde, eine im höchsten Maße privilegierte Position der Schreibenden zeigt, ebenso wie der unermüdliche Appell nach ‘gesamtgesellschaftlicher Verantwortung’ nach zwei Pandemiejahren einen hoch privilegierten Sprecher entlarvt. 

Denn wo Zusammenhalt gefordert wird ohne Werkzeuge für Ressourcen schwächere Mitglieder der Gesellschaft bereitzustellen, zeigt der Aufruf zur Solidarität eine Ignoranz für die realen Lebensumstände vieler Bürger:innen. Darüber hinaus bleibt der fade Beigeschmack von Ablenkungsmanöver bestehen, wenn die Verantwortlichkeit weiter bei dem angeblich verantwortungslosen Individuum verortet wird, das Termine verstreichen lässt, während Ende des Jahres vielerorts mehrere hunderte Impftermine, aufgrund von schlechter Kommunikation zwischen Impfstoffvergebenden und Gesundheitsministerium, abgesagt wurden und Impfwillige bei der Booster-Impfung nach Hause geschickt werden, weil ihre sechs Monatsfrist noch nicht ganz abgelaufen war.

Welche Werkzeuge muss eine Politik im kommenden dritten Pandemiejahr also bereitstellen, wenn es ihr ernst damit ist, diejenigen abholen zu wollen, die noch abholbar sind? Sie muss den organisatorischen Mehraufwand des Individuums verkleinern und sprachliche wie mediale Hürden aus dem Weg räumen. Eine Corona-Politik, die intersektional gedacht wird, muss die bisher dezentral organisierten Informationsplattformen bündeln, Hilfestellung bei technischen Prozessen leisten und Zeiträume schaffen. Oder anders: Wo bleiben eigentlich die Flyer im Briefkasten, die Poster im Supermarkt, die über aktuelle Impfangebote aus der Region informieren? Wo sind die Aushilfsstellen, die in den Impfstationen für nichts anderes zuständig sind, als älteren Personen bei ihrer Online-Anmeldung zur Seite zu stehen. Wo bleibt eine Pflicht für Arbeitgebende, soweit möglich, den Besuch im Impfzentrum und die Ruhe danach als regulären Arbeitstag zu vergüten? Wo sind die Hausbesuche von Impfteams für Menschen mit Behinderungen oder Eltern, Jugendliche und Kinder im Homeschooling. Kurz: Eine Corona-Politik, die sich mit ihrer Impfkampagne nachhaltige Erfolge verspricht, muss Werkzeuge bereitstellen, um den geforderten Zusammenhalt überindividuell endlich leistbar zu machen.

Photo by Michael Heise on Unsplash 

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