Soziale Distanz – Ein Tagebuch (13)

Dies ist der dreizehnte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9, Teil 10, Teil 11, Teil 12)

Das mittlerweile über 150 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

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Woche 9: 4. Mai bis 10. Mai

4.5.2020

Marie Isabel, Dunfermline

Meiner älteren Nachbarin ist langweilig. Sie sieht traurig aus, als sie mir meinen Teller (ich hatte ihr frischgebackene Ingwerkekse vor die Tür gestellt) über den Gartenzaun reicht. Wie mir stehen ihr die Haare zunehmend zu Berge. Sie vermisst ihre Unabhängigkeit. Allein einkaufen zu gehen. Alte Freundinnen zu besuchen, die weiter weg wohnen, so, wie sie es jedes Jahr macht. Eine von ihnen hatte am Telefon gesagt, dass sie Glück hätten, weil sie an das Alleinsein gewöhnt seien. “Wie aber geht es jetzt denen, die gerade jemanden verloren haben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei mir damals war.” –– Andere Frauen, mit denen ich mich austausche, erleben den Lockdown auch als positiv. Mehr Zeit für den Garten, das Kind. Das Leben entschleunigt. Trotz neuer Herausforderungen, wie der digitalen Lehre, oder, im Gegenteil, der Abwesenheit von Berufstätigkeit, weil frau in den bezahlten Urlaub geschickt wurde. –– Im Deutschlandfunk kommentiert ein Soziologe, dass es zwei Gruppen von Menschen gebe: jene, die den Lockdown fast unerträglich finden und jene, die sich darin nicht nur eingerichtet haben, sondern sogar wohl fühlen. Ich befinde mich irgendwo dazwischen, denke ich erst, erkenne aber dann, dass ich einem Selbstbetrug aufsitze, denn was mir wirklich zunehmend fehlt, ist Bewegungs-, Reise-, Interaktionsfreiheit. Nicht Freiheit in einem abstrakten, wie auch immer idealen oder idealisierten Sinne, sondern ganz praktisch. Spezifisch die Freiheit, meine Familie zu besuchen. –– Dazu passt die verstärkte Polizeipräsenz, die mein Mann und ich auf unserem wochenendlichen Spaziergang bemerken. Fünf Polizeiwagen auf Streife in einem Zeitraum von zwei Stunden (wohlgemerkt am Stadtrand). Das ist nicht normal. Das ist einfach nur neu. Und es bereitet mir enormes Unbehagen. Da kann ich verstehen, warum andere, gerade frisch eingezogene Nachbarn, zumindest in ihren Garten immer mal einen Gast einladen, oder zwei. Oder dass es mittlerweile Untergrund-Friseur-Netzwerke gibt. Oder Menschen, die dagegen aufbegehren, nachts nicht mehr unterwegs sein zu dürfen, dabei wollen sie doch nur Sternschnuppen beobachten. Unter Einhaltung aller Abstandsregeln, versteht sich. Langweilig ist mir übrigens nicht. Oder vielleicht doch.

5.5.2020

 

Sarah, München 

“Ihr habt ja noch so viel Zeit,” sagt meine Schwiegermutter. Ich verstehe nicht gleich. “Für mich ist ein Jahr leider viel.” Sie hat sich bisher nicht ein Mal beklagt. Nicht über Einsamkeit, nicht über die Angst zu erkranken, nicht darüber, dass sie nicht mehr zum Chor gehen kann und nicht ins Theater. Gleichbleibend fröhlich liest sie den Kindern über Facetime vor, plaudert über Hochbeetbau, unsere Katzen und die Fortschritte ihrer Bohnen, die sie auf ihrem kleinen Balkon gepflanzt hat. “Für mich ist ein Jahr recht viel.” Erst jetzt wird mir klar, was der Corona-Lockdown für sie bedeutet. Sie ist Mitte 70. Noch fit, wie man so schön sagt. Aber die Jahre, in denen sie reisen kann, Radfahren, ihre Enkel zu Besuch haben, sind gezählter als unsere. 

Was Corona nimmt, ist so unterschiedlich. Die letzten Jahre in Bewegung. Den Jugendlichen die Chance auf Parties und sorglose Saufereien am Baggersee, oder wo auch immer. Den Kindern ihre Spiele mit anderen Kindern. Den Eltern die Zeit, durchzuatmen, den Künstlern nimmt sie die Bühne, uns allen die Gemeinschaft. 

 

Fabian, München

Man dürfte sich ja vermutlich nicht vorstellen, dass es sich bei den ordinären Top-Manager-Darstellern von Ihro Gnaden Systemrelevanz in Too big to fail-Manier der deutschen Kraftfahrzeugsherstellungs- und -vertriebs-Industrie um genau die Knalltüten handelt, die man sich wiederum vorstellt, wenn man sie im Wirtschaftsteil der meisten größeren Zeitungen Förderprogramme aus der konjunkturpolitischen Steinzeit fordern liest, weil – es ist ja durchaus plausibel, dass diesen Typen qua Position gewissermaßen und in Verpflichtung den qua Gewohnheit et al. berechtigten Dividendenausschüttungsinteressen ihren Aktionären gegenüber jeglichem Handeln gegenüber, das sich als zeitgemäß vernünftig aufgreifen ließe, die Hände gebunden sind; und natürlich hängen Arbeitsplätze dran, und Existenzen.

Oder es ist so banal wie’s klingt, dass, sie beim Fußball, die Paradigmatik der institutionellen Interessen, für die sie stehen, ihnen die Alternativlosigkeit der Positionen, die sie vertreten, so gehörig und nachhaltig ins Bewusstsein gehämmert hat, dass es selbst beim besten Willen nicht mehr möglich ist, in andere, wahlweise kreative Richtungen zu denken.

 

6.5.2020

 

Nabard, Bonn

Bis vorhin kannte ich Yahya Hassan nicht. Ich wusste nicht wer er war und was er für viele bedeutete. Was er schrieb noch woran er litt. Welche Vergangenheit er besaß noch welche Zukunft er wohl besessen wird. Er ist tot. Und jetzt lese ich einige seiner Zeilen. Sie sind brutal, ehrlich. Erschreckend. Für mich manchmal abstoßend. Hat er wirklich seine Geschichte erzählt? Seine Realität? Ich glaube ich kenne einige “Yahya Hassans” in meinem Umfeld die nicht diesen Mut haben wie er es hatte und sich so öffentlich zur Schau zu stellen. 

Wieso muss der Tod eines Schriftstellers mich von dieser Pandemie ablenken? Oder die Brandanschläge wohl verübt von einer rechtsextremen Terrorgruppe die letzten Tage in Bayern? 

Ich hab kaum Zeit gehabt mich diesem Tagebuch zu widmen, die Pandemie beginnt sich jetzt erst zu lockern doch die Krankenhäuser sind voll mit Patienten mit Covid 19. 

Bald habe ich frei, dann widme ich mich wieder Hafez und seiner Lyrik. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Kiefern knacken leicht im prallen Sonnenschein. Jemand schiebt einen leeren Rollstuhl über den Golfplatz. Hier patrouilliert keine Polizei, also wird auf dem Gras geruht, zumeist abseits der Greens, mit Ausblick auf die Landschaft ringsum. Es schneit Blütenblätter. Ungestörter Löwenzahn wächst kniehoch. Glockenblumen klimpern violett. Die Vögel sind fleißig und in der Mehrzahl. Kurze Hosen, Sonnenhüte, Hundehalter, Hundelose. Ein seltsames Paradies, aus der Zeit gefallen, surreal, das überall aufquellende Leben, die Farbigkeit, während die Tage im Lockdown immer weniger scharf abgegrenzt scheinen, auch kürzer irgendwie. Fühlt sich so Ewigkeit an? Bäume stehen gelassen da. Lange Sicht. Offiziellen Angaben zufolge ist die Insel in Sachen Todeszahlen im weltweiten Vergleich nun fast an der Spitze angekommen. Rekorde, die niemand brechen will. Es sei zu früh für klare Erkenntnisse, heißt es dazu während der Prime Minister’s Question Time im momentan fast leeren Unterhaus. Bei manchem hohlen Wort hört man den Nachhall jetzt ganz deutlich, da die Zwischenrufer, Rauner und Schreihälse auf beiden Seiten fehlen. Die Frage, wie Lockerungen aussehen könnten, schwebt im Raum, jetzt, wo wir gerade mal einen halben Schritt vom Abgrund entfernt sind, vielleicht, wobei wahrscheinlicher ist, dass niemand so genau weiß, wo wir eigentlich stehen. Zurück auf dem Golfplatz der fehlende Fluglärm, der noch reduzierte Autoverkehr, Stimmen, die weit tönen, ein Mutterruf, ein Wiehern, ein Elsternschrei, Klanglandschaft vergangener Jahrzehnte. Vielleicht wird sie wiederkehren, wenn wir uns vortasten ins Danach. Kann man im Paradies wachsen? Das sollte so sein, denn sonst wäre es eher eine Form der Hölle. Jetzt zumindest ist Entwicklung möglich, über vertraute Verhaltens- und Denkweisen hinaus, nicht immer leicht, schmerz- oder klaglos, warum auch, nicht ohne Enttäuschungen, warum auch, aber selbst in diesen ewigen Zeiten bleibt Veränderung die Regel, und warum sie nicht zum Positiven wenden, wo es nur geht, nach Herzenslust? Zufriedenheit zulassen. Genuss. Liebe. Lachen. Großzügigkeit. Überlegen, worüber es sich wirklich zu streiten lohnt. Was sich ändern muss. Endlich. Gelassenheit üben und gleichzeitig Entschlossenheit. Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit… Vielleicht schaffen wir es ja so doch irgendwann in ein Paradies. Diesseits. Manchmal, denke ich, als ich den Weg nach Hause einschlage, muss man einfach nur stehen bleiben, um das eigene Herz schlagen zu hören.

 

Fabian, München 

Ach, die Aufmerksamkeiten fesseln sich doch selber, oder ein paar Viertelstunden in der Sonne vorm Weg nach Hause blenden eine ganze Reihe anderer Dringlichkeiten aus, oder drängen Sie zur Seite, oder drei Viertelstunden am Platz vorm Brunnen, sichere fünf bis sechs viertel Stunden, bevor schätzungsweise der warme Schein der fast schon abendlichen Frühlingssonne vorüber gezogen gewesen wäre – und die schweigsameren Pausen zwischen den Gesprächsthemen waren angenehm kurz, scheint mir, angenehm, insgesamt, ohne dass wesentlichere Unbehaglichkeiten sich einnisten können zu haben scheinen. 

 

Berit, Greifswald

Es ist schön, wie manche Stimmen hier schreiben, dann wieder für eine Weile verschwinden, wieder auftauchen, andere sind ganz regelmäßig da. Ich lese euch alle gerne, mag es, wenn ich sehe, wie andere zeitgleich im Dokument unterwegs sind, schreiben, verbessern, Sätze umstellen. Es ist eine besonders Intimität gemeinsam in einem Dokument zu schreiben, dabei zu sein, wenn andere ihre Gedanken entwickeln.

Die Regelungen in Mecklenburg-Vorpommern wurden gelockert und ich habe ein Ferienhaus am Strand gebucht – ein verlängertes Wochenende in der letzten Maiwoche. Wir schauen uns gerade oft die Bilder des Strandes im Internet an, Vorfreude ist etwas schönes. Eines meiner Kinder hat sogar schon ein Namensschild für das Ferienhaus gemalt.

Nun hoffe ich, dass uns die gefürchtete zweite Viruswelle keinen Strich durch die Rechnung macht. Diese kleine Reise war ein Trost für uns, denn es ist immer noch schwer zu akzeptieren, dass wir diesen Sommer nicht in Island verbringen können. Menschen, die wir sehr lieben, werden älter, der Sommer war für uns ein lange geplante Möglichkeit viel gemeinsame Zeit zu verbringen. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen können? Ich habe Angst, dass etwas auf Island passiert und wir nicht schnell dort sein können, festhängen in Deutschland.

 

7.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Was genau Anfang nächster Woche südlich der Grenze zwischen Schottland und dem Rest der Insel passieren wird, weiß noch niemand (BJ soll am Sonntag eine Ansprache halten, hach, wie freuen wir uns alle darauf). Was jedoch relativ sicher ist: Der Lockdown in Schottland wird zunächst andauern, wohl für mindestens drei weitere Wochen. Vielleicht lässt man uns ein wenig länger oder häufiger vor die eigene Haustür, um unseren sportlichen Aktivitäten nachzugehen, aber damit dürfte es dann auch schon erledigt sein. Ich hatte, merke ich, sehr auf Lockerungen gehofft. Dabei ist klar, dass die jetzige Entscheidung nicht zuletzt mit Blick auf die Datenlage vernünftig ist (Schottland scheint etwa zwei Wochen hinter dem Süden her zu hinken, was die Ausbreitung des Virus angeht). Dennoch: Es ist, als ob vor dem inneren Auge ein Rollo mit Karacho runter kracht. Der ersehnte Horizont, der sich vorsichtig geöffnet hatte, verschwindet, geschwind, aus dem Blickfeld. Draußen scheint die Sonne. Drinnen künstliches Licht. Nur gut, dass ich um die wechselhafte Natur des inneren Wetters weiß. 

 

Rike, Köln 

der motorradunfall in der abendsonne neben einem frühen grünen roggenfeld. das kann auch passieren. der körper reagiert auf den anblick mit tränen. was möchte ich von diesem tag behalten? dankbar für die picknickdecke im richtigen moment, 100% polya-irgendwas. wie viele jahrzehnte sie mich überdauern wird. die decke ist eine schildkröte oder ich bin für sie ein hundeleben, oder sie wird vielleicht 4 menschenleben alt. morgen esse ich mit s. ein frühstück an einem ungewohnten ort. “lockerungsmaßnahmen.”

 

8.5.2020

 

Rike, Köln 

Sich die hände eincremen ist gut. Mit einem mittagsschlaf den tag scheiteln in 2 hälften ist gut. Über etwas schlafen hilft. Kritik in angebrachten dosen hilft. Stopp sagen, wenn es zu viel ist auch. Ich will in die welt brüllen an die mächtigen idioten, die angekurbelte wirtschaft hat zu diesem totalen unfall geführt. Wie könnt ihr das nur wieder verlangen. Ich muss gar nichts ankurbeln. Ich will dass ihr menschen rettet und nicht konzerne, damit die vielleicht offiziell durch arbeitsplätze menschen gerade mal etwas geld  zum überleben geben. Menschen wollen leben und wirken. man kann das auch arbeiten nennen. sie müssen nicht zwangsläufig in einer fluggesellschaft arbeiten dafür. Eine fluggesellschaft könnte auch eine andere art von gesellschaft sein. Das fliegen der gesellschaft hat dazu geführt, dass sich die vorsilbe vor der -demie geändert hat. und 10 milliarden soll es geben für lufthansa, und 8 milliarden fehlen für die finanzierung eines impfstoffs. die verhältnismäßigkeit ist verbrecherisch. Ich will niemand von denen umbringen, ich will nur mundtot machen die idiotischen mächtigen in den institutionen. „the full weight rests with those people who control the institutions.“ und gleichzeitig: die verantwortung liegt genau so bei mir. Das nebeneinander ist im vergleich absurd aber gleichzeitig ist es so. 

9.5.2020

 

Rike, Köln 

ich schicke mama die schokoeier von ostern mit der alkoholfüllung in einem unversicherten päckchen zurück und lege ihr eine schokolade dazu, die eigentlich meine lieblingsschokolade ist, von der ich nicht weiß, ob sie sie mag. Vielleicht werden wir uns die kommenden monate immer wieder brieffreundinnenmäßig unsere lieblingssüßigkeiten höflich vor und zurück schicken. Was stand in ihrem brief? Ich habe sie gefragt, was das grausamste ist, was sie jemals getan hat. Die antwort war liebenswürdig. Morgen ist muttertag. Ich hoffe, die eier sind nicht auf meinem antwortbrief explodiert. ich hatte mir mühe gegeben. 

 

Viktor, Frankfurt

Das fühlt sich nicht gut an. Gerate immer häufiger in Gespräche, in denen es nur darum geht, dass es mit dem Virus gar nicht stimmen kann, er sei nur die “kleine Schwester” der Grippe (warum eigentlich Schwester?), er sei nicht tödlicher und das alles könne gar nicht stimmen, und wir werden entmündigt, und der wirtschaftliche Schaden …, und die wollen doch eine Impfpflicht einführen … und …

Ach, manchmal schweige ich. Aber wenn es Menschen sind, denen ich nahe stehe, wenn sie Dir WhatsApp-Nachrichten mit YouTube-Videos irgendwelcher “Naturheilkunde-Sender” schicken –  man ist das alles anstrengend. 

Es gibt einerseits einen riesigen Informationsbedarf, andererseits wenden wohl nicht wenige Menschen ihre Zeit dafür auf, sich bei den K. Jebsens dieser Welt zu informieren, statt unterschiedliche etablierter Medien heranzuziehen, zu vergleichen und auch die Kritik wahrzunehmen, die sich darin wiederfindet. Ich weiß nicht, wie man dieses Paradoxon auflösen kann. 

Was mir auffällt:

  1. Persönliche Situation wird unreflektiert auf die gesellschaftliche Situation übertragen, bzw die gesellschaftliche Situation wird mit der persönlichen Brille bewertet;
  2. Berechtigte Zweifel an einzelnen Anti-Corona-Maßnahmen werden als Argument genutzt, alle Maßnahmen anzuzweifeln;
  3. Diffuse Ängste treiben die Menschen, und ausgerechnet die eine Person, die am heftigsten mit mir diskutiert, hat sich am wenigsten an irgendwelche Regelungen gehalten.

Ich bin ziemlich ernüchtert, ich fürchte, das Selbstbild einer Wissensgesellschaft ist ein Wunschbild. Oder ein Trugbild. Wunschbild wäre noch okay, Wunsch heißt, wir streben es an. Trugbild ist gefährlich.

 

Slata, München

Ich wollte etwas zum heutigen Feiertag, zum Tag des Sieges über den Faschismus schreiben, genauer, über das faschistische Deutschland, eine witzige Sache eigentlich, sich in Deutschland gegenseitig zu gratulieren, die Welt von Deutschland befreit zu haben, und dann noch eine Rezension zu Yahya Hassans Gedichten, und ein eigenes Gedicht beenden und Notizen vorbereiten, am Montagmorgen mit einem neuen Disskapitel beginnen, die Hausaufgaben für nächste Woche ausdrucken und sortieren, die Hausaufgaben für diese Woche abfotografieren und hochladen bei OneNote für die Lehrerin, eine Runde Kinderyoga nach der neuen CD machen, ein paar Kapitel Pettersson und Findus lesen, die Gurkenpflanze vom Balkon reintragen, den Hamsterkäfig saubermachen, im Keller nach Topfuntersetzern suchen, und es ist Samstagabend und ich gehe mir die Haare färben.

 

Nabard, Bonn

23:12Uhr, Samstag Abend. Iftar liegt hinter uns und niemand macht anstanden nochmal raus zu wollen. Niemand ruft an und fragt ob wir noch ein Eis von McDonald’s wollen. McFlurry mit Daim hab ich letztes Jahr Samstags gegönnt. Mit Redu und Ahmad kurz in der Moschee vorbei geschaut, bisschen Spiritualität gesammelt und dann ins Karizma. Ein Shisha-Kopf geraucht und  Tee getrunken. 

Stattdessen ein leeres Glas vor mir, Drake tönt aus den Kopfhörern, es skippt gleich zu Sampha’s Part. “Don’t think about it too much, too much, too much…”  September 2013, fast sieben Jahre ist das her. Was macht das mit euch wenn ihr Lieder und sie sich immer noch so anhören als wären sie gestern erschienen? Die gleiche Gänsehaut, das gleiche Gefühl. Ich glaube ich bin eh immer jemand gewesen der zu viel Emotionen beim hören der tunes gesteckt hat als andere. 

Was machen wir eigentlich diesen Sommer? ES sollte mein letzter Sommer als Student sein. Ohne lernen, ohne Doktorarbeit, ohne Seminare oder Praktika. Auf Station buckeln und nach Feierabend an den Rhein oder Hofgarten. Das wird wohl nix. R ist bei 1.1, in den nächsten Tagen wird es steigen. Schön war’s.

 

10.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Stell Dir vor, es ist langes Wochenende und keiner merkt es. Oder vielleicht doch. Aber nicht, weil sich alle Welt in Freizeitaktivitäten ergeht. Oder vielleicht doch. Der Reihe nach: Freitag, VE-Day‚ Tag der Befreiung (seltsamer Name). Da geht es ja eigentlich um Erinnerung. Demgegenüber entblödet sich mancher, die Situation im Mai 1945 mit der im Mai 2020 zu vergleichen. Stichwort ‘Nullstunde’ (https://www.hessenschau.de/kritik-an-bouffier-text-ueber-kriegsende-und-corona-pandemie,kritik-bouffier-8mai-100.html). Am Morgen ist auf BBC Radio Four vom Krieg gegen das Virus die Rede, nur diesmal in unmittelbarer Parallelsetzung zum Zweiten Weltkrieg. Da hilft nur Ausschalten. Kritische Stimmen zu derartigen Nebeneinanderstellungen finden sich auf beiden Seiten des Kanals. Hohn, Spott und Verachtung ziehen auf der Insel zudem VE-Streetparties auf sich, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. 

Am Samstag, 9. Mai, lese ich dann von Demonstrationen in Deutschland, auf denen neben Verschwörungstheoretikern, Rechten, Linken und Impfgegnern, je nach Ort, auch jede Menge andere Menschen zugegen zu sein scheinen. Das sind allerdings Peanut-Probleme, schaut frau beispielsweise nach Belarus, ein Land, über das Europa sowieso viel zu wenig redet. Dort hält die Regierung doch gleich mal locker die jährliche Militärparade ab, von sozialer Distanz hier (wie auch sonst übrigens) keine Spur: Was ein guter Diktator sein will, lässt sich so eine Gelegenheit ja nicht entgehen. Wie es um die Bevölkerung dort wohl gerade steht?

Heute endlich die lang ersehnte Botschaft des Premiers Johnson, die von vorsichtigen Lockerungen spricht, diese aber gleich wieder relativiert und die Zuhörer:innen verunsichert. Die Kritik lässt nicht lange auf sich warten. Einig ist sich das vereinte Königreich momentan überhaupt nicht. Während Wales, Nordirland und Schottland weiterhin im Lockdown sind und der Slogan unverändert lautet: ‘Stay at home’, hat England jetzt ein neues Motto, von dem keiner genau weiß, was es bedeuten soll: ‘Stay alert’

… Was wiederum an die endlosen Pandemie-Werbeslogans erinnert, die einem momentan u.a. aus dem Fernsehen (auf Twitter, Facebook, Instagram, etc., kann man den Werbebannern der Pandemie-Warner eh nicht entwischen) entgegenschallen. Plötzlich auf dem Bildschirm auftauchende Videoaufnahmen von ‘Durchschnittsbürgern’, die per Skype, Zoom, WhatsApp etc. ihren Freund:innen und Angehörigen in gefühlsduseliger Weise ‘Mut machen’. Alternativ: Wohlfühlzeit daheim. Dagegen sind die erstaunlich schnell auf den Covid-Modus umgeschwenkten kommerziellen Werbespots ja fast noch erträglich, oder zumindest unfreiwillig komisch. 

Soviel zum langen Wochenende.

 

Fabian, München

Die Stadt hat ihren Lärm wieder. War nur eine Frage der Zeit, aber von Seiten des Fußgängers ist die Unabdinglichkeit, mit der die Leute ihre Kraftfahrzeuge und ganz sicher und ganz ohne Absicht in Blechlawinen konzentriert durch die Straßen bewegen, ungeachtet der zweifellos, in jedem einzelnen Fall triftigsten Gründe, doch etwas ärgerlich. Die relative Ruhe, in der man sich ein paar Wochen lang und häufig unbehelligt von der motorisierten Überzahl durch die Stadt bewegen konnte, hatte schon etwas für sich, auch wenn man sich dann besser nicht vorstellen mag oder sollte, dass für viele der Vorüberlärmenden jeder in den letzten Monaten notgedrungen nicht zurückgelegte Kilometer mit realen Verlusten in direktem Zusammenhang steht, und jetzt will’s einem, wie zum Trotz, oder aus Trotz, vorkommen, als müsste die Bewegung durch die Stadt innerhalb einiger Tage stellvertretend für die Verluste der vergangenen Wochen einstehen – aber vermutlich liegt’s bloß am Lärm; oder demgegenüber an der kurzfristig gesteigerten Sensibilität.

 

11.5.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Eigentlich wollte ich von dem Stromausfall heute morgen erzählen, der anscheinend von einem Schwan verursacht wurde, der mit seiner Frau um die Ecke in einem Teich lebt und gerade, wenn alles gut geht, Nachwuchs erwartet (die Nachbar:innen haben bereits Wetten abgeschlossen, wann es denn soweit sein soll), heute morgen aber (wohl nicht zum ersten Mal), eine unangenehme Begegnung mit einer Stromleitung hatte, wobei zum Glück ein älterer Nachbar den Funkenflug beobachtete, hineilte, dabei selbst (glücklicherweise ohne sich zu verletzen) stürzte, das Tier betäubt vorfand, über seine Tochter per Telefon eine örtliche Tierschutzorganisation mobilisierte, die jemanden schickte, der den Schwan inspizierte und wieder zum Teich zurück trug, wobei er bemerkte (der Mensch, nicht der Schwan), dass er (der Schwan, nicht der Mensch) etwas zu schwer sei und die Nachbarschaft doch fortan lieber kein Brot sondern eher Haferflocken, Salatblätter etc. füttern solle, ansonsten ginge es dem Tier aber bis auf einige verlorene Federn gut, woraufhin jetzt am Teich zwei kleine Schilder hängen (verfertigt von der Tochter des älteren Herrn und Vogel-Erste-Hilfe-Leisters), auf dem die neue Schwanendiät erklärt wird – ob die ebenfalls ansässigen Enten und Möwen, etc., sich über die Diätmaßnahmen freuen, bleibt abzuwarten. 

Okay.

Worüber ich aber im Grunde auch gerade schreiben wollte (bevor mir der Schwan mental dazwischen kam), sind die diversen Corona-Archive, Corona-Museen und andere Formen der Aufzeichnung und Sammlung von Alltagsbeobachtungen, fotografischen Zeugnissen, Objekten, Texten (wie diesem kollektiven Tagebuch), extra begründete Webseiten für Gedichte und andere literarische Formen (wie etwa ‘Briefe aus dem Lockdown’) zum Thema Pandemie/Lockdown, die erwarteten (oder befürchteten) Corona-Romane, Radiobeitragsserien zum Thema ‘Alltag in der Pandemie’, und sicher ließe sich hier noch manches ergänzen (von den notwendigen Links zu den diversen Projekten ganz zu schweigen, aber sie haben sich, grenzübergreifend, derart multipliziert, dass einem langsam der Kopf schwirrt, fängt frau erst einmal an, auf diese Dinge zu achten). Abgesehen davon ist es grundsätzlich spannend, dass das Festhalten des Augenblicklichen, Vergänglichen, sozusagen das Mitschreiben von Geschichte, während sie sich ereignet, oder zumindest in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Geschehnissen (trotz aller erwartbaren, oft praktischen oder medialen Bedingungen geschuldeten zeitlichen Verschiebungen), in allen erdenklichen Kunst- sowie anderen Formen und Zeugnissen gerade eine solche Blüte erlebt, und ich frage mich, in welcher Relation das steht zur Geschwindigkeit unserer medialen Welt wie erfahrenen Lebenswirklichkeit, zu unserem Bewusstsein von chronistischem Schreiben und dessen langfristiger Bedeutung, und natürlich zu dem Bedürfnis, den Überblick und vielleicht zumindest die Illusion von Kontrolle zu behalten, wenn (vorübergehende?) Veränderung so schnell vonstatten zu gehen scheint. Dass dieses Tagebuch hier nicht nur seinerseits in anderen Medien  reflektiert, sondern zudem bereits Forscher:innen wie Student:innen als Anschauungs- und Diskussionsobjekt diente, ist Teil dieses Phänomens, dieses zeitnahen, fast gleichzeitigen Verfertigens und Analysierens von Zeitdokumenten. Hier (note to self und alle anderen) bitte weiterdenken.

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