Verbrannte Kunstwerke – Über Peter Straubs letzten unvollendeten Roman „Wreckage“

von Gerrit Wustmann

Von Ende April bis Mitte Juli 2015 fand im Contemporary Jewish Museum in San Francisco die Ausstellung „Beyond The Veil Of Vision: Reinhold von Kreitz and the Das Beben Movement“ statt. Der bildende Künstler Anthony Discenza und der Schriftsteller Peter Straub wandelten auf den Spuren einer obskuren deutschen Künstlergruppe des 19. Jahrhunderts, die schließlich nach England auswanderte, wo sie auf dem Anwesen der Industriellendynastie Hayward Unterschlupf fand und unter den Einfluss von Okkultisten geriet. Das Anwesen und sämtliche Bilder wurden bei einem verheerenden Feuer vernichtet. Auch die Künstler selbst (bis auf einen, Hugo Ayling, der die Haywards porträtierte) starben.

Discenza und Straub recherchierten und präsentierten eine Ausstellung voller leerer Bilderrahmen, ergänzt durch detaillierte, auf historischen Dokumenten basierende Beschreibungen der Bilder, die „Das Beben“ hervorgebracht hatte: so beeindruckende wie mysteriöse Gemälde, denen es mit einer ganz neuen Verwendung von Farbe und Maltechnik gelang, den Betrachter in die Irre zu führen, denn je nach Blickwinkel zeigten sich neue Details, andere verschwanden, was dazu geführt haben soll, dass diese Werke vielen Menschen unheimlich waren. In „Conjunctions“, dem Literaturmagazin des Bard College, publizierten Discenza und Straub zeitgleich einen Essay über die Geschichte von „Das Beben“, der auch die in der Ausstellung gezeigten Bildbeschreibungen und Künstlerbiografien enthält.

Ein faszinierendes, so gut wie verlorenes Kapitel der Kunstgeschichte, könnte man meinen, wenn man sich das Gespräch von Straub und Discenza über Das Beben ansieht, das die beiden im Rahmen der Ausstellungseröffnung führten. Bloß ist nichts davon wahr. „Das Beben“, Reinhold von Kreitz, Hugo Ayling, die verbrannten Bilder – alles Fiktion. Ein geschicktes, hintersinniges Meta-Spiel mit der Bedeutung und Wirkung von bildender Kunst und Literatur. Was sind Gemälde, die nicht mehr existieren? Nur noch in Beschreibungen? Sind sie Literatur? Und was sind sie, wenn sie selbst fiktiv sind, nie existiert haben?

Diese Fragen überließen Straub und Discenza dem Publikum – das etwas ahnen konnte, zumindest diejenigen, die Straubs Bücher gelesen hatten, denn der Name Hayward spielt bereits in seinem 2010 erschienenen Roman „A Dark Matter“ und der im selben Jahr vorgelegten Novelle „A Special Place“ eine Rolle, die wiederum ein Auszug aus dem Roman „The Skylark“ ist, bei dem es sich um eine frühere, alternative und „wesentlich wildere“ (Straub) Fassung von „A Dark Matter“ handelt.

Dass Straub Freude an diesen Meta-Spielen hatte, war kein Geheimnis. Obwohl er Genre schrieb, hatte er als Autor nie großes Interesse an konventionell strukturierter Spannungsliteratur. Hier aber trieb er es auf die Spitze – und entfernte sich, zum Unmut seines Verlegers bei Random House, wie man hört, immer weiter von dem, was der Markt literarisch von ihm erwartete. Am Ende interessierten ihn Erwartungen nicht mehr. Er machte sein Ding und schrieb dabei nicht nur herausragende Bücher, sondern schuf einen interdisziplinären Kosmos, der mit dem nächsten Roman, „Hello, Jack“, weitergehen sollte. Denn die ganze Story um die Haywards und „Das Beben“ – das war die Grundlage eben dieses Romans, an dem Straub zum Zeitpunkt der Ausstellung im CJM bereits seit etwa drei Jahren arbeitete. Dass er ab einem Punkt um 2016/17 herum kaum noch voran kam, hatte in erster Linie gesundheitliche Gründe. Die zunehmenden, teils monatelangen Krankenhausaufenthalte vertrugen sich schlecht mit einem so intensiven Schreibprozess, in den er sich jedes Mal von Neuem hineintasten musste. Am Ende akzeptierte er, dass er den Roman nicht mehr fertigstellen konnte. Peter Straub starb am 4. September 2022 im Alter von 79 Jahren in New York.

In den Wochen vor seinem Tod hatte er noch mit Hilfe seiner Familie und Bill Schafer, dem Verleger des kleinen, auf bibliophile limitierte Ausgaben spezialisierten Verlags Subterranean Press, die Publikation dieses letzten, unvollendeten Buches auf den Weg gebracht – und den Titel zu „Wreckage“ abgeändert –  typischer Straub-Humor, der Roman ist nicht fertig geworden, also heißt er „Wreckage“. Den 500 nummerierten Exemplaren, die im August 2025 erschienen, liegt ein Begleitband unter dem Titel „What Happens in Hello Jack“ bei: Skizzen, ein paar längere Szenen und Outlines, die Straub 2013 ausgearbeitet hatte, um seinem neuen Lektor den Einstieg in den Stoff zu erleichtern.

Emma Straub, Peter Straubs Tochter, heute selbst Autorin und Buchhändlerin (die in Brooklyn die Buchhandlung ‚Books are Magic‘ betreibt), erinnerte sich, wie ihr Vater ca. 2013 bei einem Abendessen mit Freunden einen kurzen Abriss des Buches gab und dafür gut eine Stunde brauchte. Ein k omplizierter Stoff also, was beim Lesen allerdings kaum auffällt, denn es gelingt Straub wieder einmal, eine verwinkelte Geschichte mit Abschweifungen, Sackgassen, Binnenerzählungen, toten Winkeln und einem Handlungsbogen, der von 1888 bis 1958 reicht, in betörender Leichtigkeit darzubieten. Und, das sei angemerkt, wie schon bei Straubs früheren Werken kann man „Wreckage“ auch problemlos lesen und verstehen, wenn man all die anderen Bücher, die Essays, die Ausstellung, auf die es sich bezieht, woraus es schöpft, nicht kennt – aber die Leinwand, die sich ergibt, wenn man das alles einbezieht, ist ungleich prächtiger.

Diesen Roman, deren heimlicher Protagonist Hugo Aylings Gemälde „The Gathered Clan“ ist, in dem auch Henry James und Jack The Ripper tragende Rollen spielen, und der sich jeder Genre-Kategorisierung entzieht, kurz zusammenzufassen, ist kaum möglich, und das war von Straub zweifellos gewollt.

Aber versuchen wir es, vielleicht erst einmal mit der Frage, wer der Erzähler ist (ein Thema, mit dem Straub wiederholt Schabernack getrieben hat, am kunstvollsten wohl in seinem Roman „Mr. X“ von 1999). Dieser Ich-Erzähler stellt sich auf den ersten Seiten als Sidwell Schantz vor, als seine Schulfreundin Margot Hayward ihm jenes Ayling-Gemälde von 1888 zeigt, auf dem der Hayward-Clan vor seinem Anwesen in England verewigt ist, und das im Keller ihrer Eltern lagert. Doch da teilt uns Sidwell bereits mit, dass er sich in Kürze verdrücken wird. Fortan linst er nur noch ganz gelegentlich durch die Vierte Wand und gibt einen kurzen Kommentar ab, spielt dann aber keine Rolle mehr. Wer er ist, was das soll? Hätten wir vielleicht erfahren, wenn Straub genug Zeit gehabt hätte, das Buch fertigzustellen.

Mitte der Fünfziger heißt Margot mit vollem Namen Margot Hayward Mountjoy, nachdem sie den wesentlich älteren und wesentlich ungnädigeren reichen Unternehmer Harry Voltaire Mountjoy geheiratet hat. Und als dieser, nach allem, was sie an seiner Seite zu durchleiden hatte, an Krebs erkrankt, beschleunigt sie die Sache, indem sie ihm Schlafmittel in die Infusion gibt – und ihn zusehen lässt, denn er soll wissen, dass es am Ende nicht der Krebs war, der sein Leben beendet hat.

Vom Krankenbett aus hatte Harry noch versucht, „The Gathered Clan“ zurückzuholen, nicht weil er sich für Kunst interessierte, sondern für Geld. Denn inzwischen war der Wert des Gemäldes, um das sich zahlreiche Mythen rankten, stark angestiegen, nicht zuletzt aufgrund eines Artikels des Kunstkritikers Sheldon Thwaite im Lokalblatt und einer Kolumne, die das Gemälde mit der Ermordung der Kuratorin in Verbindung brachte. Doch es hängt im Museum von Milwaukee, nachdem es lange im Haus von Tillman ‚Tilly‘ Hayward gehangen hatte, Margots Bruder. Dessen Frau Harriet, die das finstere Kunstwerk aus dem Haus haben wollte, hat es dem Museum übereignet, als ihr Gatte auf Geschäftsreise war. Und nun ist auch Tilly hinter dem Bild her.

Tilly, der am Ende stirbt, wie Leser von „Wreckage“ auf der ersten Seite erfahren, führt allerdings ein düsteres Doppelleben. Denn er ist der Ladykiller, ein Serienmörder, der rund um Milwaukee junge Frauen entführt und dann ihre Einzelteile so drapiert, dass die Polizei sie findet und die Presse Futter bekommt. Weil ihm das irgendwann zu dröge wird, beginnt er, die Morde von Jack The Ripper nachzuahmen, und zwar bis ins kleinste Detail. Und dass das außer seinem Neffen Keith niemandem auffällt, grämt ihn zutiefst: Der Serienkiller als verkannter Künstler. Als Keith bei einem Abendessen einen Kommentar darüber fallen lässt, dass Tilly immer genau dann in Milwaukee auf Familienbesuch ist, wenn wieder ein Mord geschieht, lässt das auch Margot aufhorchen, die zu ahnen beginnt, dass ihr Bruder nicht der ist, für den sie ihn hält.

Doch Margot hat erstmal andere Sorgen. Sie lebt in Hotels, zusammen mit ihren Fahrer Otto Sven Harbin und ihrer Assistentin Laura Flindel, um sich vor der Pressemeute zu verstecken. Denn dass Margot das Imperium ihres verstorbenen Gatten zerschlagen und das Millionenvermögen wohltätigen Zwecken zukommen lassen will, ist für die einen unerhört, für die anderen eine Sensation. Margot will aufräumen nicht mit ihrem, sondern mit dem Erbe dieser gnadenlosen und rücksichtslosen reichen Leute, denen Kunst seit jeher völlig egal gewesen ist, denen sie bloß als Schmuck dient, wenn sie nach Geld riecht; und sie will das Erbe des Ausbeuters den Ausgebeuteten zurückgeben.

Das alles ist der hier sehr knapp gefasste grobe Rahmen des Romanfragments, das rund 450 Seiten umfasst und schätzungsweise zwei Drittel, vielleicht drei Viertel dessen bietet, was Straub im Sinn hatte. Dazwischen gibt es Rückblenden ins Jahr 1888, erzählt aus der Perspektive von Henry James beim Besuch im Hayward-Anwesen, nachdem ihn ein höchst seltsames, alptraumhaftes Erlebnis in Monte Carlo aus der Bahn geworfen hat. Dazwischen gibt es die Geschichten in der Geschichte, mal als Anekdote durch eine der handelnden Figuren erzählt, mal in Form einer Geschichte in einem Buch, das wohl noch eine größere Rolle spielen sollte, Geschichten, die einander auf gruselige Weise ähneln und in denen es vielleicht spukt, vielleicht aber auch nicht. Dazwischen gibt es auch diese Momente, in denen erst Tilly, dann Margot, ähnlich wie siebzig Jahre zuvor Henry James, ohne Vorwarnung aus ihrer Realität heraus mitten in die Welt des „Gathered Clan“ zu treten scheinen, wobei ein auf dem Gemälde dargestellter Junge namens Alex C. eine Rolle spielt, der seinen Vornamen später in Aleister ändern wird.

Es ist in diesem Erzählkosmos das erste Mal, dass Straub die Kernhandlung in Milwaukee ansiedelt und es auch so nennt, anstatt es wie früher als Mill Walk, Millhaven oder anders zu verballhornen. Das Pfister Hotel, das Straub-Leser*innen aus früheren Büchern als das Pforzheimer kennen, ragt abermals bedrohlich in den Himmel, und selbst das Haus aus seinem Roman „lost boy lost girl“ (2003) taucht kurz auf und wir erfahren, dass Tilly als Heranwachsender im Keller dieses Hauses Tiere gequält hat, und vielleicht hat es daher seinen unguten Ruf. Und dann ist da noch jene herrlich schräge Szene, in der Tilly in einem Park auf die drei finsteren Magier aus dem Gemälde trifft und dabei steht, als sie darüber debattieren, ob Tilly ihnen drei oder fünf Fragen stellen darf und ob das, was er gerade gesagt hat, schon als Frage zählt oder nicht.

Der Begleitband „What Happens in Hello Jack“ lässt uns über Straubs Schulter blicken, an seinem Schreibprozess teilhaben. In diesem frühen Entwurf sollten die 1888-Passagen wesentlich größeren Raum einnehmen und die drei Magier tauchen nicht unvermittelt in Milwaukee auf, sondern begeben sich auf eine aberwitzige Zeitreise, ohne selbst so genau zu wissen, wie ihnen geschieht. Ob Straub all das final gestrichen hatte oder ob es später im Buch eingebaut werden sollte, bleibt unklar, ebenso wie das Ende, das in den Entwürfen zwar angedeutet wird, zur vorliegenden Romanfassung aber nicht mehr so recht zu passen scheint.

Im Vorwort erwähnt seine Familie, dass er kurz überlegt hatte, das Buch von einem anderen Autor fertigstellen zu lassen, sich dann aber dagegen entschieden hatte. Er wollte das Vorliegende so publizieren, wie es war, eine gute Entscheidung. Auch wenn das Buch unvollendet bleibt, findet sich darin doch alles, was Straub immer ausgemacht hat: die geschliffen-eleganten Sätze, die dunkelsten seelischen Abgründe Seite an Seite mit einem so intelligenten wie liebenswerten Humor, die mal mehr mal weniger offenen Anspielungen auf literarische Werke oder auf frühere Texte von Straub selbst und nicht zuletzt eine Erzählwelt, aus der es auch nach „Wreckage“ noch viel zu erzählen gegeben hätte, wäre Straub mehr Zeit geblieben. Das Werk mancher Autoren wird nie wirklich fertig, und wie weit es gedeiht, ist von der Lebenszeit allein begrenzt.

Straubs Stimme wird der Literatur fehlen, er hinterlässt eine gewaltige Lücke. Man kann nur hoffen, dass „Wreckage“ nicht auf die 500 Exemplare der limitierten Ausgabe begrenzt bleiben wird, unddass Random House es irgendwann doch noch in die bereits angelaufene Welle der Straub-Neuauflagen (in den USA, auf Deutsch ist, natürlich, gar nichts lieferbar) aufnehmen wird.

Foto von TopSphere Media auf Unsplash

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