von Sebastian Galyga
Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.
Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun?
Die Welt als Komplott
Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1] die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.
Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.
Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.
Die Welt als Roman
Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.
Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.
Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.
Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.
Die Leerstelle aushalten
Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.
In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.
Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.
Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.
Der Lohn der Freiheit
Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.
Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)
—
[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz
[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.
[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein.
Beitragsbild von Manh LE