Verwandlungen – Nachwort zur Neuauflage von Marian Engels „Bär“

von Kristine Bilkau

»Das also war ihr Reich: ein achteckiges Haus, ein Zimmer voller Bücher und ein Bär.« Geradezu paradiesisch klang das für mich, als ich den Roman das erste Mal las, im Dezember des Jahres 2020. Mehr als acht Monate Pandemie waren vergangen, Wohnungen und Häuser waren zu Höhlen geworden, in denen alles seinen Platz finden musste, die Tage und die Nächte, die Arbeit der Erwachsenen, das Lernen der Kinder, der Streit, die Versöhnung, die Erschöpfung, die Unordnung der Gefühle und der Dinge. Wer das Zuhause mit anderen teilte, sehnte sich nach dem Alleinsein. Wer allein lebte, sehnte sich nach einer Berührung.

Eine Frau, ein großes Haus, viele Bücher, ein Bär. Ah ja? Ich glaube, dieses Buch brauche ich jetzt, so meine Reaktion, als ich durch eine Empfehlung auf Marian Engels Roman aufmerksam geworden war. Ich besorgte mir eine alte Ausgabe in einem Online-Antiquariat und war nach den ersten Seiten wie elektrisiert, der Text zog mich in seine Welt, wurde zu einer Zuflucht, zu einem seltsamen, aufregenden Ort. Wenige Tage nach der ersten Lektüre las ich ihn ein zweites Mal, aufs Neue erstaunt und fasziniert, mit welcher Leichtigkeit die Autorin auf 190 Seiten so vielfältige Deutungsräume öffnete. Scheinbar mühelos verhandelte sie inmitten der Magie eines Sommers in Kanada große, komplizierte Fragen, die sich um Freiheit und Begehren, um Macht und Gewalt drehen, um Männer und Frauen. Um kanadische Geschichte, um europäische Kultur und Kolonisierung. Und um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

Bär war 1976 erschienen, fast fünfzig Jahre sind seitdem vergangen, doch der Roman kommt mir ungemein zeitgemäß vor. Der Text scheint mit den sich verändernden Zeiten zu wachsen, ein Kunstwerk, das immer wieder neu gelesen werden kann – das jetzt gelesen werden muss!, dachte ich. In Kanada und USA war das Buch Mitte der Siebziger Jahre ein Bestseller und wurde mit dem renommierten Governor General’s Literary Award ausgezeichnet, den unter anderen auch Alice Munro und Margaret Atwood mehrmals erhalten haben. Im Februar 1985, mit gerade erst 51 Jahren, starb Marian Engel, und Bär hat seitdem abwechselnd Phasen des Vergessens und der Wiederentdeckung erlebt. Nun war das Buch auch mir begegnet, wie stille Post verbreiteten sich die Empfehlungen, etwas war an dem Roman, das gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt berührte und neugierig machte.

Vielleicht lag es daran, dass während dieses Pandemiewinters der Frühling und das Licht am Ende des Tunnels so weit weg schienen, dass da ein diffuses Verlangen war, das auf einmal einen Resonanzraum bekam, das zu einem Verlangen nach einer Insel, einem Sommer, einem Haus und einem Bären wurde; doch nicht nur das, vielleicht hing es auch damit zusammen, dass sich während dieser Zeit so vieles hinterfragen ließ: unsere Gewohnheiten und Ansprüche, unser Miteinander und unsere Perspektive auf die Zukunft dieses Planeten, die Fragen von Verzicht, Vernunft und Solidarität, die sich im Umgang mit Pandemie und Erderwärmung gleichermaßen stellten. Ich konnte den Bären nicht vergessen und recherchierte, ob womöglich schon längst eine Neuauflage geplant war, aber es sah nicht danach aus. Ich sprach mit meiner Lektorin über das Buch, die stille Post setzte ihren Weg fort, die Faszination wurde weitergetragen, und es dauerte nicht lange, da war klar: Der Bär kommt zurück!

Virginia Woolf forderte in ihrem viel zitierten Essay über weibliche Schaffenskran und Freiheit ein Zimmer für sich allein. Marian Engel schenkte ihrer Heldin gleich eine Flussinsel mit einem großen Haus darauf. Darin die historische Bibliothek, die Lou über Monate hinweg katalogisieren soll. Und in der Nähe nur dieser Bär, der nichts von ihr fordert oder erwartet, der keine Fragen stellt oder Kommentare abgibt. Lous einzige Aufgabe besteht darin, sich an diesem Ort einzurichten, den Bären zu versorgen und sich mit dem Bestand der Bücher zu beschäftigen. Die Geschichte einer Frau, die in aller Ruhe den schönsten Job ihres Lebens erledigen und sich ausschließlich um sich selbst kümmern darf.

Die Ankunft auf der Insel nach einem langen Winter, einem höhlenartigen Dasein, »wie ein Maulwurf, tief vergraben in ihren Papieren«, erscheint wie ein Erwachen. Lou wird in einem Boot vom Festland zur Insel gebracht, der Sommer kündigt sich an, es ist zwar noch kühl, doch die Natur ist schon voll da. Lou verbringt die erste Nacht im Haus, beginnt den ersten Morgen, bereitet sich ein erstes Frühstück zu, Schritt für Schritt ein Ankommen im Neuen. Die Entdeckerin sein, einmal die Entdeckerin sein, doch Lous Euphorie ist auch verbunden mit der Befürchtung, diese Möglichkeit wieder verlieren zu können, sie entzogen zu bekommen, als wäre alles ein Irrtum gewesen. Denn eine Entdeckerin zu sein, das ist ein Glücksfall, nicht die Normalität, so zumindest scheint es Lou vom Leben und von der Gesellschaft gelernt zu haben. »Wenn mir die Erfahrung nicht wieder weggenommen werden soll«, dachte sie, »muss ich sofort damit anfangen, sie zu machen.« Zugleich, das enfaltet sich im Laufe des Romans, ist die Rolle der Entdeckerin auch ambivalent; entdecken, die Welt erobern, sich das Land erschließen – die postkoloniale Aufarbeitung hat uns ins Bewusstsein gerufen, dass diese Begriffe und Bilder mit Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung verbunden sind, und das ist das Besondere an diesem Roman, er geht diesen Fragen nicht aus dem Weg.

Cover der Neuübersetzung

Der Bär, der an einer langen Kette in der Blockhütte neben dem Haus lebt, macht auf Lou einen traurigen Eindruck. Sie vergleicht ihn mit einer Frau, die zu lange herumgesessen und auf ihren Mann gewartet hat. Sie stellt sich vor, ihn zu befreien, und während wir weiterlesen, verstehen wir, dass Lou ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle auf den Bären überträgt. Lou, die von einem Mann für eine andere, jüngere, wie der Mann fand: fürsorglichere Frau verlassen worden war, Lou, die um dieses mittelmäßige Leben auch noch getrauert hat und die zuletzt mit ihrem Institutsdirektor eine halbherzige, unerfüllte sexuelle Beziehung geführt hat. Lou hält für sich fest: Sie wird sich nie wieder mit etwas so Dürftigem zufriedengeben. Lou beginnt den Bären ergründen zu wollen, »wer und was bist du?«, fragt sie sich, fragt sie ihn, und diese Frage zieht sich durch den gesamten Roman, weil sie irgendwann aus Liebe gestellt wird.

Sie lässt ihn von der Kette, geht mit ihm zum Fluss, beobachtet kleine Anzeichen von Rebellion und Lebensfreude an ihm, sie schwimmen zusammen, sie spürt die Gefahr, die von der Masse und der Kraft des Bären ausgeht. Eines Abends dann kommt er ins Haus. Offenbar kennt er sich dort aus. Sie beginnt den Bären zu begehren, sein Fell, seinen Geruch und seine unergründliche Seele. Der Bär bleibt bis zum Schluss ein Bär und ein Geheimnis, und Lou macht sich nichts vor, am Ende weiß sie, dass all ihre Interpretationen seines Verhaltens und seines Ausdrucks nichts als die eigenen Projektionen sind und dass ihr Verlangen auch einen Übergriff darstellt. Deutlich zeigt sich das, während sie versucht, mit ihm zu tanzen, und noch mit ihm tanzt und sich an ihn drückt, als sie spürt, dass er nichts mit der Situation anzufangen weiß, dass er unbeholfen und still bleibt und sie sich an eine Situation erinnert fühlt, in der sie als »halbes Kind in einer Turnhalle das erste Mal an den Körper eines Mannes gepresst worden war«. Das ihr vertraute Gefüge aus Macht und Ohnmacht hat sich gedreht, der Bär ist nun das Kind, sie die Übergriffige. Diese Machtposition zum ersten Mal selbst zu erfahren, auch das gehört zu Lous Verwandlung. Später kommt der Moment, in dem sie die Krallen des Bären auf dem Rücken spürt, das Blut läuft, sie bringt sich in Sicherheit, doch sie dämonisiert ihn nicht, der Bär ist nicht wütend, auch nicht bösartig, er ist das, was er ist, ein wildes Tier.

Marian Engel erzählt explizit, was zwischen Lou und dem Bären abends am Kamin abläuft, ohne ins Poetische, Ungefähre auszuweichen. Der Bär sei schon deshalb realistisch erzählt, weil sie die Nase voll habe von kanadischem Nature Writing, sagte Engel 1976 in einem Interview. Nebenbei, die Ironie, die Komik auch, ich musste beim Lesen an das Bild des Bärenfells vor dem Kaminfeuer denken, das oft in klischeehaften, meist aus männlicher Perspektive erzählten Sexszenen in Film, Fernsehen oder Fotografie vorgekommen ist. Man muss nur die Begriffe bear, fur, fire, sex bei Google eingeben und einen Blick auf die endlose Liste von Treffern werfen, »20 best places to have sex«, selbst heute noch. Ich fragte mich, ob auch Marian Engel an dieses Klischee dachte, als sie den Bären durch die Haustür kommen ließ. An Mythen und Sagen habe sie anfangs, als ihr die Idee kam, ein Bär müsse der Liebhaber sein, nicht gedacht, sagte Engel im Interview, die hätte sie erst während der anschließenden Recherche entdeckt.

Ein Foto aus dem Jahr 1972 tauchte in meiner Trefferliste auf. Ein Poster aus der Cosmopolitan, das erste Male Centerpiece des Magazins, das als weibliche Antwort auf das Playmate des Monats gedacht war. Ein damals bekannter Schauspieler (Burt Reynolds) liegt nackt auf einem Bärenfell (offenbar da schon ironisch gemeint, dieses Fell). Dieses Poster hatte damals für Aufsehen und Diskussion gesorgt, es wurde als Statement gelesen, als Forderung an die Unterhaltungsbranche oder überhaupt an die Gesellschaft, weibliche Sexualität nicht länger mit Scham oder Schuld zu belegen, zu ignorieren, klein zu halten. Männer, die Frauen anschauen, das ist die Norm – das Poster kehrte das Verhältnis um, female gaze statt male gaze; selbst jetzt noch, fünfzig Jahre später, gilt der weibliche Blick in Film und Fotografie als außergewöhnlich und subversiv.

Lou formuliert es so: »Denn was ihr an Männern missfiel, war nicht deren Erotik, sondern ihre Unterstellung, Frauen hätten keine.« Wahrscheinlich kannte Marian Engel das Cosmopolitan-Poster, viele Zeitungen, unter anderem The New York Times, berichteten darüber. Ob die Diskussion für den Roman überhaupt eine Rolle spielte, darauf gibt es keinen Hinweis, es ist nicht wichtig, der Kontext ist da – Marian Engel hat Lou kein Bärenfell beschert, auf das sie sich legen soll, nicht einmal den Mann auf dem Fell, sondern den lebendigen Bären.

Wenn ich mit anderen Frauen sprach, die das Buch kannten oder gerade erst gelesen hatten, kam früher oder später diese Frage auf: Ist der Bär, der im Salon auftaucht, Honig (und Menstruationsblut) von Lous Körper leckt, wirklich anwesend – oder ist er eine Fantasie der Romanheldin? Ein Motiv für ihre Wünsche, ihre Sehnsucht nach Freiheit, nach Liebe und Sex, ohne dabei die Vorstellungen eines Mannes zu erfüllen? Also, sind die Haut, der Honig, das Blut, der Bär, ist das alles zusammen ein Gedankenspiel? Im Laufe der Gespräche stellte sich meistens heraus, dass diese Interpretation schal und uninteressant wirkte. Der Bär ist anwesend, und Lou ist anwesend, von Engel sehr konkret und wahrhaftig erzählt. Die Schlussfolgerung »Schön und gut, aber das kann nur in Lous Kopf stattfinden, wir haben es hier mit Fantasien zu tun«, worauf sollte die hinauslaufen? Sie wäre doch nur ein Versuch, Lou mit allem, was sie ausmacht, in ein hübsches poetisches Kästchen zu legen. Eine ästhetisch begründete Beruhigungspille, wenn der female gaze zu ungewohnt, beunruhigend oder fordernd wirkt.

Im Interview 1976 antwortet Marian Engel auf diese Frage hin, dass es ihr eindeutig darum ging, das Ganze realistisch zu erzählen, ohne Fantasie-, ohne Traumebene, es konsequent durchzuziehen, mit allen Fragen, die sich daraus ergeben: Wie riecht der Bär, wie fühlt er sich an, was tut er mit dem Körper der Frau, wie verhält er sich, was denkt die Frau über die Gefahr und die Grenzen? Sicher, da ist die Frage von Gefahr, an die viele bei einer Begegnung zwischen Bär und Frau sofort denken müssen. »Ich liebe dich. Reiß mir den Kopf ab!«, sagt Lou, und ihr Ausruf wirkt fast befreiend, weil er so von Vertrauen und Hingabe geprägt ist. Dabei ist auch immer die Kehrseite, die Ahnung von Gewalt und von Verletzbarkeit mit im Spiel. Erfahrungen mit übergriffigen Männern werden im Text mehrmals angedeutet, sie haben sich in Lous Bewusstsein eingeschrieben. Ein Bär macht Lou nicht mehr Angst als ein Mann. Warum sollte er auch?, würde Lou vielleicht heute noch sagen. Das größte Risiko für eine Frau bleibt ihr – menschlicher, männlicher – Partner oder Ex-Partner. Wenn es um Gewaltverbrechen geht, ist statistisch gesehen das Zuhause der gefährlichste Ort für sie. Warum also sollte sich Lou vor einem Bären fürchten, dessen Selbstgewissheit nicht von Zurückweisung oder Widerspruch erschüttert wird, der keine Wut aus verletztem Stolz oder tiefer Verunsicherung heraus empfindet, der Lou weder beurteilen noch kontrollieren will. Oder wie Marian Engel im Interview sagt: Frauen hätten sich auch so schon oft genug in Lebenslagen befunden, in denen sie herausfanden, dass die Menschen, mit denen sie sich eingelassen hatten, nicht gut für sie waren.

Lou sitzt am Kamin, in der Hand ein Glas Whisky, die nackten Füße im Fell des Bären, den Blick auf das Gemälde des Colonel Cary gerichtet, und erkennt auf einmal, welche Symbolkraft diese Situation in sich trägt. Sie und der Bär, hier, zusammen, geben ein Bild ab, das sich weit außerhalb der Vorstellungskraft von Männern wie dem Colonel befunden hätte. Sie trinkt ihren Whisky am Feuer, in einer patriarchalen Pose, triumphierend, zugleich selbstironisch, sie, die Carys Nachlass ordnet, die eine Bestandsaufnahme macht, ob seine Bibliothek für die historische Forschung etwas taugt. Der letzte Colonel der Familie, Colonel Jocelyn, eine Frau, hinterließ Anwesen und Nachlass dem Institut. Nun ist Lou diejenige mit der Deutungshoheit, und dabei denkt und fühlt sie sich immer weiter hinein in die Rolle des Hausherren, »Cary wollte eine Insel«, und weiter in das Bewusstsein der Poeten, Denker, Eroberer, deren Werke in den Regalen der Bibliothek stehen. Sie liest die Erlebnisberichte des Seefahrers und Schriftstellers Edward John Trelawny, Freund von Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, dem Ehemann von Mary Shelley (die wiederum Trelawny nicht leiden konnte; als er vorhattee, eine Biografie über Shelleys verstorbenen Mann zu schreiben, verweigerte sie ihm die Briefe und Tagebücher). Lou liest Trelawny fasziniert, »was für ein Mann. Groß. Beleidigend. Ein Riese«, und abgeklärt zugleich, »oh, ich bin sicher, dass er ein Lügner ist« (womit sie, wie die Literaturwissenschaft bestätigen kann, recht hatte).

Im Verlauf der Geschichte stellt sie sich die Perspektive der britischen Männer vor, die mit ihren Frauen nach Kanada kamen, um sich dort niederzulassen. »Nützliche Gegenstände, die Frauen«, konnte sie ihn dabei denken hören, »solange sie an ihrem Platz bleiben.« Sie dachte an die Frauen, die von den Offizieren nach Kanada mitgebracht wurden: gestrandet, gebeugt, tüchtig, duldsam, verbrannt. – Und dann kommt der Bär wieder die Treppe hoch. Lou stellt fest, dass der Nachlass des Colonels fast vollständig aus importierter europäischer Literatur besteht, »konventionell«, wie sie nüchtern sagt. So gut wie nichts wird über die Geschichte der Region erzählt, nichts über die Besiedelung Kanadas, die Bibliothek hat zur Erforschung und Aufarbeitung nichts beizutragen. Was für ein Bild, dieses historische Octagon House, Regale randvoll mit dem Kulturgut Europas, Bücher, mit denen auf dieser Insel niemand etwas anfangen kann. Wie weitsichtig von Marian Engel, es genau so anzulegen, zu einer Zeit, als die Aufarbeitung der Unterdrückung Indigener Völker noch nicht die Aufmerksamkeit hatte wie heute.

Engels kanadische Kollegin Margaret Atwood veröffentlichte 1995 den vierteiligen Essay „Strange Things: The Malevolent North in Canadian Literature“ über die Frage, wie die Bedeutung des Nordens Kanadas, das »unerschlossene, wilde, geheimnisvolle« Land, die Literatur beeinflusste, welche Ideen, Motive und Geschichten dabei entstanden. Es sind im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem die männlichen Helden, die sich hier bewähren und erobern wollen. Oft sind die Geschichten durchwoben von einer Sehnsucht, mit den ursprünglichen Traditionen dieses Landes, mit der Kultur der First Nations zu verschmelzen, sich ihr Wissen und ihre Überlebensstrategien anzueignen, zu ihnen zu gehören. Was, wie wir wissen, einen krassen Widerspruch zum tatsächlichen Geschehen darstellte. Wie aktuell das Thema auch jetzt ist, haben unter anderem im Frühjahr und Sommer 2021 die Funde von Überresten von mehr als tausend Indigener Kinder in Kanada gezeigt, auf Grundstücken und in der Umgebung von Internaten zur »Umerziehung«, auf die diese Kinder seit Ende des 19. Jahrhunderts zwangsweise geschickt worden waren. Orte, an denen sie die Sprachen ihrer Familien nicht sprechen durften und großes Leid hatten ertragen müssen. Laute Proteste gegen diese Schulen hatten sich erstmals während der 1960er und 1970er Jahre geregt. Auch Lucy Leroy, die fast hundert Jahre alte Indigene Frau in Engels Roman, die Lou erklärt, wie sie sich mit dem Bären vertraut machen kann, erwähnt wie beiläufig, dass sie auf eine dieser Schulen, sie sagt »Missionarschule«, gegangen ist.

In ihrem Essay kommt Atwood auch zur Literatur der 1960er und 1970er Jahre, als sich die Geschichten zu wandeln beginnen. Nun sind es auch die Frauen, die sich Richtung Norden bewegen, die sich in die Natur wagen, doch bei ihnen dreht es sich weniger darum, das Land zu erschließen und zu besitzen, vielmehr suchen sie Rückzug und Autonomie. Sie wollen dem unbekannten Terrain die westlichen Gesellschaftsnormen nicht aufdrängen, sondern sie wollen in erster Linie der Gesellschaft entkommen. Dass ein Entkommen aus der Unterdrückung aber nicht automatisch bedeutet, selbst keine Machtposition einzunehmen, sprich: grundsätzlich davon freigesprochen zu sein, selbst zur Unterdrückerin zu werden, dieser Ambivalenz weicht Marian Engel nicht aus, wenn sie das Verhältnis zwischen Lou und dem Bären in all seinen Feinheiten erzählt.

Lou befreit den Bären von seiner Kette, am Ende wird er zu Lucy Leroy gebracht, und auch wenn der Bär Lou ein Stück weit befreien konnte, zeigen wiederkehrende Momente, wenn sie sich schämt, sich nutzlos und unbedeutend fühlt oder sich vorwirft, »zu viel« zu sein oder zu wollen, wie tief das Gefühl sitzt, die eigenen Ansprüche wären zu hoch. Doch zugleich spricht daraus auch eine Klugheit, eine unsentimentale Abgeklärtheit. »Colonel Cary war mit Sicherheit eine der großen Belanglosigkeiten der kanadischen Geschichte, und für sie galt das Gleiche.« Auch wenn Lou dabei ausblendet, dass Colonel Cary und seinesgleichen, sie und ihre Vorfahren, freilich keine Belanglosigkeit in der Geschichte Kanadas darstellten, denn die Folgen der Besiedelung haben sich tief ins Land eingeschrieben, widersteht Lou dem nostalgischen Versuch, sich mit dem Land und seiner Ursprünglichkeit vereint zu fühlen, was nur wieder eine neuerliche Aneignung wäre, wie Margaret Atwood in ihrem Essay argumentiert. Die Deutungsräume, die sich öffnen.

Lou betrachtet den Bären am Ende als ebenbürtig, und als er mit Lucy Leroys Neffen im Boot davonfährt, weiß sie, dass er sich nicht nach ihr umdrehen wird. Die Natur gibt sich nicht geschlagen, sie lässt sich nicht beherrschen, das ist es, was Lou schon früh im Roman versteht. Diese Art von Demut verbindet sich für mich mit aktuellen Fragen, wenn es um Natur und Ausbeutung geht, um unsere Ansprüche, die wir als natürliche Ordnung betrachten, während wir die Ordnung der biologischen und physikalischen Regeln ausblenden. Wem gehört der Planet? Braucht die Natur uns überhaupt? Welche Anmaßung also liegt in dem uns gewohnten Blick auf das große Ganze, auf das fein gewobene Netz aus Lebendigem, von dem wir nur ein kleiner Teil sind?

Als ich Bär las, musste ich an eine andere Geschichte denken, die mehr als zehn Jahre vor Engels Roman, 1963, erschienen war. Eine Frau, allein, in einem Jagdhaus am Waldrand, die Zivilisation ist untergegangen, die Frau muss sich um das eigene Überleben kümmern, nur von einigen Tieren, Hund, Katze, Kuh, umgeben. Die Wand von Marlen Haushofer. Auch Haushofers Heldin macht eine Verwandlung durch, sie streift die Rolle der Ehefrau, Hausfrau, Mutter wie ein altes, unbrauchbares Kleid ab. Haushofers Ton trägt eine gewisse Härte und Bitterkeit in sich, der von der Abgeklärtheit der Heldin erzählt, wenn sie über die Menschheit nachdenkt. In ihrer Wahrnehmung der Natur, besonders des Waldes und der Tiere, schimmert zwar etwas Helles auf, doch sie macht sich keine großen Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft. Die Frau in den Bergen, im verlassenen Jagdhaus wird nicht zurück in die Stadt fahren, es gibt auch keinen Laden, in dem sie Lebensmittel kaufen kann, kein Institut, dem sie schreiben muss, niemand erwartet Nachricht von ihr. Auch kommt kein Bär durch die Tür. Haushofers Heldin findet ihre Freiheit darin, alles Gewohnte abzulegen, auch Wünsche, Erwartungen und Ansprüche. Marian Engels Lou hat eindeutig mehr Vergnügen in ihrem achteckigen Haus als Haushofers schuftende Protagonistin, im Vergleich zu Die Wand ist Bär eine funkelnde Party. Doch beide Frauen erschaffen sich ein Universum nach eigenen Vorstellungen.

Welche Veränderungen das mit sich bringt, nehmen sie auch äußerlich wahr. »Mein Gesicht war mager und gebräunt und meine Schultern eckig, wie die eines halbwüchsigen Knaben. (…) Gleichzeitig kam mir das Bewusstsein abhanden, eine Frau zu sein. Mein Körper, gescheiter als ich, hatte sich angepasst (…). Manchmal war ich ein Kind, das Erdbeeren suchte, dann wieder ein junger Mann, der Holz zersägte«, so der sich wandelnde Blick von Haushofers Heldin auf sich selbst. Beide Geschichten treffen sich für mich an diesem Punkt, wo es um die gedankliche und körperliche Verwandlung der beiden Frauen geht, ihre sich weitenden Innenwelten und ihre Unabhängigkeit von der bestehenden sozialen Ordnung. Am Ende betrachtet Lou sich noch einmal, sieht den Riss, den der Bär in der Haut auf ihrem Rücken hinterlassen hat, er wird zu einer Narbe werden und sie noch lange daran erinnern, was sie gedacht, getan und gespürt hat, auf ihrer Insel im kanadischen Norden.

Alice Munro sagte über Engel, sie sei eine der ersten Autorinnen in Kanada gewesen, die das Leben von Frauen und Müttern, »at their most muddled«, sprich, mit dem Geflecht aus Problemen und Sehnsüchten, mit all den Widersprüchen erforschte. In einigen Ländern sind mittlerweile Neuauflagen von Bear erschienen oder werden bald herauskommen, die Wiederentdeckung des Buches ist in vollem Gang, Zeitungen, Magazine, Blogs besprechen Bär mit frischem, gegenwärtigen Blick. Ich habe inzwischen weiter in den Antiquariaten gesucht, nach Romanen von Marian Engel, The Honeyman Festival liegt jetzt hier, 1970 erschienen, Honeyman, Honigmann, was bedeutet das Wort? Was bedeutet es, wenn Marian Engel es verwendet? Der Umschlag meiner Ausgabe sieht alt und abgegriffen aus, doch die ersten Seiten lesen sich alles andere als das. Es geht um eine Frau mit drei Kindern, schwanger mit dem vierten, ihre Geschichte wird im Rahmen eines einzigen Tages erzählt. Engel, selbst Mutter von Zwillingen, hat eine Heldin erschaffen, die ihre eigene Situation mit aller Schärfe analysiert, die ihre Möglichkeiten und Grenzen genau abschätzt, hin- und hergerissen zwischen Liebe, Fürsorge und dem Bedürfnis auszubrechen – nun, im dritten Jahr der Pandemie, klingt das nach einem Buch, das uns zum richtigen Zeitpunkt erreicht hat.

Ich danke dem kanadischen Literaturprofessor Dorian Stuber und der Buchhändlerin Magda Birkmann, durch die beiden habe ich Bär entdeckt. Stuber hat einen lesenswerten Essay über den Roman geschrieben, nachzulesen unter: bookanista.com/marian-engel-bear Magda Birkmanns Buchempfehlungen erscheinen auch als NewsleRer unter: magdarine.substack.com

Der Roman ist jetzt mit diesem Nachwort in einer Neuausgabe in der Übersetzung von Gabriele Brößke im btb-Verlag erschienen.

Photo by Olen Gandy on Unsplash

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