Von blauer Luft zu Bauluft – Lyrik zwischen Literaturgeschichte und Anthropozän

von May Mergenthaler

Şafak Sarıçiçeks fünfter, mit dem Preis der Heidelberger Autorinnen und Autoren ausgezeichnete Gedichtband Im Sandmoor ein Android ist ein ungewöhnliches Beispiel für Ecopoetry, die Strömung der Lyrik, die sich zentral mit den ökologischen Bedingungen unserer Gegenwart auseinandersetzt. Obwohl der Band wie das Titelgedicht über eine versandende Stadt den Klimawandel und die stetig fortschreitende Naturzerstörung thematisieren, verstößt Sarıçiçek gegen mehrere Lehrsätze der boomenden Lyrik, die auf das gegenwärtige, von menschlichen, erdfeindlichen Einflüssen dominierte geologische Zeitalter des Anthropozän reagiert. 

So gibt es kaum Darstellungen unmittelbarer Naturwahrnehmungen wie in Marion Poschmanns Nimbus (2020) oder Ester Kinskys Schiefern (2020), die eigens bereiste, beeinträchtigte oder bedrohte Landschaften poetisieren. Ebenso wenig praktiziert Sarıçiçek die „anästhetische Dichtung“ von Daniel Falbs „Terrapoetik“ (2015), die es sich versagt, das Naturschöne zu feiern und vorrangig ökologische Wissens- und Datenbestände verarbeitet. Noch beugt sich seine Lyrik der Behauptung Ulrike Draesners, „Natur-Schreiben sei ein zonales Gebiet, das nach formaler Innovation verlangt“, wie sie in den Arbeiten von Anja Utler (kommen sehen. Lobgesang, 2020) oder Draesner selbst (Doggerland, 2021) zu finden ist.

Die Widerstände von Im Sandmoor ein Android gegen eine unmittelbare Zuordnung zur Öko- und Klimawandellyrik verdanken sich vor allem seiner Hinwendung zu lyrischen Traditionen, in denen es noch nicht oder kaum um Umweltproblematiken ging. Zu den im Band ex- oder implizit genannten Inspirationen der Gedichte gehören der französische Surrealismus von Robert Desnos und seine türkisch- und deutschsprachigen Anverwandlungen durch Edip Cansever, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Auch Echos des Mehr-als-Wirklichen aus den späten Gedichten Hölderlins sind zu hören. Doch gerade das Surreale und Künstliche bzw. Künstlerische von Sarıçiçeks Sandmoor, Wolken, Nebel, Licht, Rochen, Rosen oder Kamillenblüten kann uns die natürliche Umwelt und die Dichtung zugleich ans Herz legen und zeigen, wie eng sie in unserer Vorstellungskraft und in der literarischen Tradition ineinander verzahnt sind. Auch die lyrischen Antworten auf Kunstwerke von Patient*innen psychiatrischer Anstalten aus der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, die den zweiten der drei Teile von Im Sandmoor ein Android ausmachen, fügen sich in das Programm einer Poesie, die unsere Ideen von Natur aus- und überdehnt. Zugleich aber verbleiben sämtliche Gedichte des Bandes weitgehend innerhalb der Grenzen der im Alltag dominierenden, schriftlichen und mündlichen Sprache und des körperlich Erlebbaren und geistig Vorstellbaren. Das poetische Ziel ist nicht das Androide, sondern eine ökologisch-poetische Ausweitung und Veränderung des Menschlichen.

Der Weg zur Natur durch die kulturelle Erinnerung, den Sarıçiçek einschlägt, ist besonders im Eröffnungsgedicht des ersten Zyklus gut zu erkennen, der mit „Gnosis“, dem antiken Namen für Wissen, überschrieben ist und auf diese Weise aus der Vergangenheit schöpfende Erkenntnisse verspricht. Mit dem Titel „Mnemosyne“, dem Namen der Göttin der Erinnerung, bezieht sich auch das erste Gedicht des Zyklus auf die Antike und zitiert zugleich Hölderlins berühmte gleichnamige Hymnenfragmente. Sarıçiçeks „Mnemosyne“ nimmt einige formale und inhaltliche Elemente dieser Fragmente auf und verbindet sie mit der Struktur von Hölderlins ebenso bekannter, zweistrophiger Ode „Hälfte des Lebens“, die zu seinen kulturkritischen „Nachtgesängen“ gehört. Die Aufteilung der Ode in sommerliche Idylle voll wilder Rosen und winterliche Trauer vor kalten Mauern transformiert Sarıçiçek in den Kontrast zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit angesichts der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Handlungen der Menschen, die der Autor in ein „wir“ zusammenfasst – zwischen einem Traum vom Vogelflug durch blauen Himmel und der Vergiftung durch Angst.

Mnemosyne

Ein Schwarm sind wir, der Termiten

Zangen durch Holz wir treiben

Zu Flugscharen in hungernde Hallen.

So die Heuschrecken über Wüsten schwärmen

Und ein Gift umherweht, Selbstverdanktes

Werden mutig sein Wenige und denen im Fall

Darbieten dann Aufrichtiges, zu blauen Gefilden

Der Vögel Wellen.

Und ein Pfahl sind wir, durchtrieben und gar

Herrschaftssüchtig und voll Verlangen

Nämlich nach Regelwerk, ein neues Gebet.

Regelwerk sind wir, ein Pfahl:

Den einen wird der Kelch gereicht

Frierendes in den Adern und durchtrieben sind

Sie, die Andern, so nämlich Angst ist, reichen sie

Zum Trank.

(Im Sandmoor ein Android, S. 7)

Statt „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“ aus der zweiten Fassung von Hölderlins „Mnemosyne“ (Hölderlin 1953, S. 203) lesen wir bei Sarıçiçek: „Ein Schwarm sind wir, der Termiten Zangen durch Holz wir treiben / Zu Flugscharen in hungernde Hallen.“ Hölderlins Klage über den Sprachverlust, der mit Götterferne und Götterstreit einhergeht, verwandelt sich bei Sarıçiçek in die Trauer über den erdgewandten Materialismus der Menschen und ihre Herrschafts- und Regelsucht. 

In einem späteren Gedicht („Beeren“, S. 57-58) spricht er, ähnlich wie schon in früheren Bänden, unverblümt von „Gier“. Dass dem Lyriker Termiten als Metapher für diese Gier dienen, zeigt, dass er sich nicht dem Biozentrismus verschreibt, der den ökologischen Eigenwert der Insekten betonen würde. Anders als Brigitta Falkners (laut Verlagsankündigung) „fröhliche[] Parasitenkunde“ (Strategien der Wirtsfindung, Matthes & Seitz 2017) beharrt Sarıçiçek auf der Unhintergehbarkeit der menschlichen Auffassung von Termiten, die sie als Holzbauten zerfressende Schädlinge begreift. Dazu passt, dass der Autor kürzlich in einem Interview erklärte, die Menschen hingen „nach wie vor einem geozentrischen Weltbild an“, und der „Transhumanismus der Moderne habe lediglich die Mythologien der Antike ersetzt“ (ND, 21.06.2022). Die anthropozentrische Geschichte wird in seinem Lyrikband nicht durch eine biozentrische er-, sondern in die Gegenwart übersetzt. 

In die Gegenwart transportiert Sarıçiçek auch die  Sprache Hölderlins, was als ahistorisch kritisiert werden könnte. Auf diese Weise aber gelingt es ihm, Hölderlins Sprachdiagnose beizubehalten, die in der Sinnzusammenhänge strapazierenden Syntax seiner späten Gedichte Ausdruck findet, und sie mit zugänglichen grammatischen Strukturen und poetischen Assoziationen zu verbinden und lebendig zu halten.

Sarıçiçeks Gedichte in Im Sandmoor ein Android überfliegen nicht nur kultur- und literaturgeschichtliche, sondern auch geografische Distanzen, was eine Begeisterung für die poetische Fantasie verrät, die auch seine früheren Bände charakterisiert. Hier geht diese Begeisterung mit der Sorge über die Wirklichkeitsflucht von Dichtung einher. Der ‚prophetische Traum‘ von den mit Alliterationen klingenden „Hügeln des Himmels“ in der zweiten Fassung von Hölderlins „Mnemosyne“ und der Wunsch, dass wir „Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See“, verwandeln sich in Sarıçiçeks „Mnemosyne“ in die Hoffnung, dass ‚wenige Mutige‘ „denen im Fall darbieten dann Aufrichtiges, zu blauen Gefilden, / Der Vögel Wellen“. Hier lassen sich Bezüge zu Edip Cansever erahnen, dem Dichter der türkischen Lyrikströmung İkinci Yeni (“Zweite Neue”), die sich mit ihren surrealistischen Anklängen dem sozialen Realismus entgegen stellte. Cansever bezeichnet in seinen Gedichten deren eigene Wirklichkeitsflucht in das scheinbar Schöne der Natur als einen Mangel, ein „Ungenügen“. In seinem Gedicht „Von den Tagen“ heißt es: „Es gibt die Schwärme der Vögel, die sind schief“ und „Blau ist keine Farbe, Blau ist eine Laune meines Wesens / Und meines Ungenügens, / Und das Ungenügen aller vielleicht.“ (übers. Gülenaz/Overath 2020, S. 37)

Dieser Poesiekritik entsprechend, dämpft die zweite, winterliche Strophe von Sarıçiçeks „Mnemosyne“ die Hoffnung der ersten auf wenige Mutige „zu blauen Gefilden“, indem sie das Geschenk eines angstgefüllten Kelchs imaginiert, der an den Schierlingsbecher erinnert, mit dem Sokrates hingerichtet wurde. Das Bildzieht die Fähigkeit vonPoesie in Zweifel, der menschlichen Unwissenheit etwas entgegenzusetzen; ähnlich wie Poschmann in Nimbus (2020) fragt: „Rettung des Weltklimas aus / dem Geist der deutschen Ode – / haben wir uns da nicht etwas / viel vorgenommen?“ Dieser Zweifel ist Sarıçiçek ebenfalls Antrieb zum Dichten, und das in einer Vielfalt, die eine anachronistisch anmutende Lust an Poesie und an lyrisch verschönter Natur bezeugt. Er besteht darauf, dass wir nicht von Termiten, sondern von Vögeln im blauen Himmel träumen und ihre Versprachlichung in poetische Bilder und Klänge genießen.

Das Ungenügen einer Poesie, die sich den ‚blauen Gefilden‘ zuwendet, erinnert auch an die verträumte Romantik und Novalis’ paradigmatisch gewordene blaue Blume. Die Möglichkeit, dass inder Kunstproduktion der Wirklichkeitssinn gänzlich verloren geht, bespricht der Autor im Zyklus „Sammlung Prinzhorn“. Die Kunstwerke der Patient*innen psychiatrischer Anstalten, die an oder jenseits der Grenze der zwischenmenschlichen Verständigung entstanden sind, holt der Autor in die Sphäre der lyrischen Kommunikation. Eine Künstler*in adressiert er als „du“ und versetzt sich in das „Ich“ einer anderen. Was dabei auf den ersten Blick fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Patient*innen, die von zwangsweiser Hospitalisierung und Sterilisierung bis zu ihrer Ermordung durch die Nazis reicht. Sarıçiçek behandelt die Werke offenbar bewusst als autonome Kunstwerke, was ihnen zwar zu künstlerischem Recht verhilft, aber das ihnen unterliegende Unrecht verschweigt. Ein Blick auf das eingangs zitierte Gedicht aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann mag diesem Eindruck vorbeugen. Darin heißt es, das Aus-sich-Hervortreten, „aus meinen Augen / Händen, Mund“, bringe eine „Schar / von Güte und Göttlichem“ zum Vorschein, „die diese Teufeleien / gut machen muß, / die geschehen sind“.

Die Psychiatrie-Gedichte werfen durch ihre Integration in die Umweltthematik ein weiteres Licht auf die Frage nach einer Lyrik, die dem Zeitalter des Anthropozän angemessen ist. Gedicht Nr. „9“ ruft ein „Ihr“ dazu auf, ab ins „Naturtheater“ zu gehen – vielleicht in Anspielung auf Kafkas „Naturtheater von Oklahoma“ in Romanfragment Der Verschollene, das jede und jeden aufnimmt – und beschreibt den Gang ins Theater bzw. den Ansturm darauf:

            Ab geht es in das Naturtheater, wo Schatten sitzen

            Ab ihr Kentauren, wissentlich in scharfe Äpfel beißend

            Wir haben dem grünen Herren geboten

            Farben zu kehren auf den Podest des Waldrats

            […]

            Ab geht es ins Naturtheater, wo Milch die Herrschaft besteigt

            und vergibt ausradierte Gesichter. Es ist manchmal so

            wenn die Stromleitung erfriert.

            (Im Sandmoor ein Android, S. 31)

Das Wissen um Inspirationdes Gedichts durch die bildende Kunst, regt dazu an, sich Zeichnungen oder Gemälde von farbigen, Äpfel essenden Fabelwesen und Menschen mit ausradierten Gesichtern vorzustellen. Dabei wird noch deutlicher als in den anderen beiden Zyklen des Bandes spürbar, dass die Gedichte trotz ihres Surrealismus Raum- und Zeitbilder evozieren, die wenigstens in der Fantasie körperlich und geistig erfahrbar sind . Dadurch wirken ihre Verse eindringlich und sogar memorierbar. Ähnlich wie in seiner Übersetzung von Hölderlins „Mnemosyne“ transferiert Sarıçiçek auch in seinem möglichen Kafka-Zitat das Metaphysische ins Materielle, wenn er auf die Podeste des Naturtheaters den „Waldrat“ setzt. Im Roman Der Verschollen blasen dort Frauen in Engelskostümen Trompete. Wenn „die Stromleitung erfriert“ – vielleicht auch die Ströme im Gehirn – siegt die alle Menschen bei der Geburt nährende Milch (oder Ersatzmilch).

Ein Irrweg wäre es wohl, bei der Milch von Sarıçiçeks Naturtheater an Paul Celans schwarze Milch der Frühe aus der „Todesfuge“ zu denken und nicht an ein Land, in dem Milch und Honig fließt. Und doch schreibt sich der Lyriker auch in Celans Dichtung ein, wenn er seinen dritten und letzten Zyklus „Peristyl“ nennt. Denn so heißt nicht nur der von Säulen umgebene Innenhof eines Hauses in der antiken Architektur, sondern auch die Buchstabensäule der „archaischen Schreibmaschine“ der Sorte, die Yves Bonnefoys (1988) in der Pariser Wohnung des Dichters bemerkte. Geht der zweite Zyklus „Sammlung Prinzhorn“ über die durchschnittlichen Weisen des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens hinaus, so tritt der dritte in den Innenhof des Schreibens ein und thematisiert noch einmal das Ungenügen der poetischen Imagination, der Vorliebe für den poetischen blauen Himmel. Gleichzeitig bietet ereinen möglichen Weg, Dichtung fester in der Wirklichkeit zu verankern, ohne ihre gewohnten ästhetischen Mittel aufzugeben.

In dem letzten Gedicht des Bandes mit dem Titel „Phototaxis“ – der Begriff bezeichnet den Einfluss von Beleuchtungsstärke auf die Bewegungsrichtung von Organismen – schichtet Sarıçiçek eine Säule aus mit Spiegelstrichen getrennten Strophen auf, die den Turm zu Babel mit dem noch viel älteren und für Menschen unsichtbaren Luftturm vergleichen, in dem Insekten sich auf und ab bewegen. Hier folgt der Lyriker schließlich doch einem wichtigen Lehrsatz über ökologisches Schreiben, den die Lyrikerin Nancy Campbell (2020), im Wissen über das Klimaarchiv des Wostok-Eisbohrkerns, folgendermaßen formuliert: „Sei vollständig. Erzähl die ganze Geschichte; sämtliche Tage aller Jahreszeiten, Sommer wie Winter, von der Gegenwart bis zum Anbeginn der Zeit.“ 

Insekten, die das natürliche Licht von Mond und Sonne brauchen, um sich zu orientieren und um Pflanzen und Partner zu finden, werden durch die Anziehungskraft unserer ‚eigenen Gestirne mit dem blauen Licht‘ in ihrem Überleben bedroht – eine Umkehrung der Kosmologie, die bereits Blumenberg beklagt. Ähnlich wie bei den bereits angeführten lyrischen Traditionen verlegt Sarıçiçek auch in seiner Verarbeitung der philosophischen Zivilisationskritik Blumenbergs den Schwerpunkt von den intellektuellen auf die materiellen Konsequenzen menschlicher ‚Herrschaftssucht‘. Während Blumenberg beklagt, dass die Menschen durch die zielgerichtete künstliche Beleuchtung die Freiheit des Schauens unter den alles illuminierenden Lichtern des Himmels verlieren, bedichtet Sarıçiçek die Konsequenzen der menschlichen Lichtbeherrschung für Insekten, Larven von Schwämmen und Quallen. 

Als Alternative zum poetischen ‚Babeln‘ von „blauen Gefilden“ und „Vögel Wellen“ zu Beginn des Gedichtbands bietet er uns abschließend die „Bauluft“ der Taufliegen. Eine bloße Verschiebung, Umstellung, Transformation und Variation unserer Türme aus Lauten und Wörtern genügt, so legt Sarıçiçek nahe, um wenigstens lyrisch aus der Sackgasse des Anthropozän auszubrechen. Ein bedenkens- und lesenswerter Vorschlag.

Şafak Sarıçiçek: Im Sandmoor ein Android. Gedichte. Berlin: Quintus-Verlag, 2021. 64 Seiten. 14,00 Euro.

Foto von Mehdi MeSSrro auf Unsplash

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