von Titus Blome
Memes sind längst die dominante Kulturform des Internets. Bilder, Sprüche, Tänze, das Soziale selbst. Alles ergibt sich der strukturellen Logik der Imitation und Mutation, die Memes kennzeichnet. Der Ursprung eines Memes verliert sich dabei unter zahllosen Ebenen (layern) aus Ironie und Post-Ironie, Referenz und Remix bis niemand mehr bis auf den Grund hinabblicken kann. Die Autor*in eines Memes setzt keinen Akt göttlicher Eingebung um, sondern zeichnet sich dadurch aus, verschiedene Beziehungsebenen möglichst geschickt in eine Einheit zu schichten. Um mir geschicktere Worte bei Roland Barthes zu leihen: Ein Text Meme ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur. Kein Meme entsteht aus dem Nichts. Es ist immer Imitation und Remix von schon Bestehendem – strukturell oder inhaltlich.
Der Moment der Memefizierung selbst ist dabei – vor allem im Nachhinein – schwer festzustellen. Denn es ist nie eine einzelne Person, nie ein einzelner Post, der ein Meme entstehen lässt. Erst weitläufige Imitation macht das Meme zum Meme. Es gibt sich wie ein digitales Sorites-Paradox, eine Paradoxie des Haufens: so wie man nicht weiß, welches Sandkorn den Haufen macht, lässt sich nicht sagen, welche Imitation das Meme kreiert.
Am Anfang war das Meme
Auch wenn der genaue Ursprung für einzelne Memes schwer feststellbar ist, kann man die Umstände untersuchen, die Meme-Produktion begünstigen. In seinem Text „Der Stoff aus dem Meme-Träume sind“ beschreibt Simon Sahner, wie sich digitale Gemeinschaften um einen Kanon an Memes scharen, einer gemeinsamen Sammlung von Verweisen, Running Gags und In-jokes. Sämtliche Informationen, die durch das Netzwerk laufen, werden in einer wechselseitigen Überbietungslogik auf spielerische Weise mit Referenzen bearbeitet. Im Rahmen dieses Prozesses werden die neuen Ereignisse ebenfalls als Meme kodifiziert und in den Kanon einer Bubble eingereicht, um bei der nächsten Gelegenheit hervorgezaubert zu werden.
Diese Deutung deckt sich mit der ursprünglichen Definition des Memes, die Richard Dawkins, ein Evolutionsbiologe, in einem Buch 1976 als Gegenstück zum Gen präsentierte. Neben genetischen Informationseinheiten werden auch Kulturgüter wie Tänze, Traditionen, Mythen von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Nicht nur Blasen in sozialen Medien sondern ganze Hochkulturen scharten und scharen sich um geteiltes kulturelles Wissen, um Memes. Bei der Weitergabe unterliegen sie dabei einem ähnlichen Variations- und Selektionsdruck wie Gene in der klassischen Evolution. Nur die, die sich als besonders anpassbar und leicht nutzbar erweisen, setzen sich durch. Das Phänomen des Memes ist allerdings erst durch die atemlosen Replikationsmöglichkeiten digitaler Kultur ausreichend sichtbar geworden, um über den akademischen Rahmen hinaus Beachtung zu finden.
Denn die Interaktionsmöglichkeiten des Web 2.0 ermöglichen „Rekursion und Selbstreferentialität“ mit neuartiger Grenzgeschwindigkeit und erzeugen so eine sich „selbst perpetuierende Intertextualität“, wie Philip Schwarz einmal auf Twitter geschrieben hat. Das Meme ist quasi zirkulär; schafft die Bedingungen des eigenen Selbstbezugs ständig neu. Je mehr Memes es bereits gibt, umso höher die Anzahl der möglichen neuen Kombinationen. Je höher die Geschwindigkeit der Imitation und des Remixes, umso größer die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Mutation, die wieder imitiert wird, den Sprung von Quantität zu Qualität: die Geburt eines neuen Memes.
Es gibt Orte im Internet, die diesen Modus begünstigen. Orte, die schneller funktionieren, flüchtiger konstruiert sind. Orte, die quasi prädestiniert sind, die Kulturfabriken des Internets zu sein. Leider sind sie oft nicht schön. Doch wenn man die Memes verstehen möchte, die das Roherz der digitalen Kultur bilden, muss man tief hinab in die Messageboards unter dem Berg, egal, was man dort antrifft. Trommeln in der Tiefe.
Design oder nicht Sein
4chan.org ist ein Imageboard (Internetforen, auf denen anonym Bilder und Text gepostet werden können), das 2003 online ging. Auf der Startseite kann man sich zwischen verschiedenen Themenbereichen wie „Japanese Culture“, „Video Game“, „Creative“ oder „Adult (NSFW)“ und mehr entscheiden. Unter diesen Kategorien sind insgesamt 76 Boards organisiert, von denen vor allem eines 4chan seinen Ruf als „meme factory“ eingebracht hat: das /b/-board. Während die anderen boards jeweils ein Thema besitzen, ist /b/ für „random“ Content angedacht. Es ist – kurz gesagt – vor allem ein sexistisches, rassistisches, islamophobes, antisemitisches Höllenloch, doch dazu später mehr.
Auf 4chan ist jeder User (Maskulinum nicht wirklich generisch) ein „Anonymous“. Es gibt keine Nutzernamen, keine Profilseiten, keine Möglichkeit, die eigene user history öffentlich festzuhalten. Man kann erstellte Threads mit einem sogenannten „trip code“ kennzeichnen aber weniger als 0,05% der Posts tun das. „There is no way of creating a stable identity on 4chan”, so die Feststellung der Kommunikationswissenschaftler*innen Asaf Nissenbaum und Limor Shifman. Das ist heute eine Seltenheit im Netz. Über die letzten 10-15 Jahre gab es einen stetigen Trend weg von der Anonymität des frühen Internets hin zu immer größerer Transparenz, getrieben von den Vorstellungen digitaler Hegemonialmächte wie Facebook und Google. Mark Zuckerberg persönlich äußerte, dass mehrere Online-Identitäten ein Anzeichen für einen „lack of integrity“ wären. Der Soziologe Bernie Hogan trifft den Nagel auf den Kopf mit dem Satz: „There is a notion that in the absence of accountability individuals are likely to return to a Hobbesian state of nature where comments are nasty, brutish and kinky.”
Gemessen am geschliffenen Format heutiger Plattformen, mit angenehmem Design, runden Ecken und kuratierten Feeds, wirken die 4chan-Boards geradezu anstößig simpel und chaotisch. Die Seite erzeugt eine seltsame Windows-95-Nostalgie, sie erinnert an alte PCs im Moment des Abstürzens, diese kurzen Augenblicke, in denen die aufwändig designten User-Interfaces versagen und die darunter liegende nackte Funktionalität der Fehlermeldungen einem den Tag ruinieren. Aber das gehört zum Effekt von 4chan. Es ist ein bewusstes Design der Minimalinvasivität, welches parallel zu dem radikallibertären Dogma der Seite verläuft, Meinungsfreiheit auf keine Weise einzuschränken. Keine Moderation, keine Zensur, kein aufwändiges Interface, just vibes. Ein großer Button „[Start a New Thread]“ und die User sind unter sich.
4chan hat einen hohen Ruhepuls. Es ist nur eine Maximalanzahl von Posts gleichzeitig zugelassen. Jeder neue Post, der auf die Seite tritt, stößt den herunter, mit dem am längsten nicht interagiert wurde. Auf dem /b/-board gibt es ca. 350.000 Threads am Tag, die nur überleben, wenn sie kommentiert werden. Die durchschnittliche Lebenszeit ist 36 Sekunden, doch der Median ist nur fünf Sekunden. Ein Archiv gibt es nicht. Auf dem /b/-board zu posten erzeugt ein Gefühl absoluter Flüchtigkeit. Die Logik der Internet-Aufmerksamkeitsökonomie wird auf die Spitze getrieben: Interaktion um jeden Preis, sonst verdampft die eigene Präsenz augenblicklich.
The Memes of Production
Im real name web von Facebook oder in pseudonymen sozialen Netzwerken wie Twitter gibt es verschiedene Möglichkeiten, Reputationskapital anzusammeln. Auf Twitter ist es die Chronik vergangener Beiträge sowie Kurzbiographien und öffentliche Follower-Listen. Auf Facebook ist in den meisten Fällen ein gewisser Bekanntschaftsgrad untereinander überhaupt erst Voraussetzung für die Annahme einer Freundschaftsanfrage. Auf 4chan gibt es nichts davon. „Das Zusammentreffen von Fremden ist ein Ereignis ohne Vergangenheit. In den meisten Fällen auch ein Ereignis ohne Zukunft.“, schreibt Soziologe Zygmunt Bauman. Durch die Anonymität und Gegenwärtigkeit 4chans wird der Status der Fremdheit zum dauerhaften Standard. Die Seite bietet keine technische Affordanz, auf eine gemeinsame Vergangenheit hinzuweisen oder diese zu erkennen. Während Nutzer*innen auf Twitter oder Facebook also nur beschränkt Aufwand betreiben müssen, um die Zugehörigkeit zu einer bestimmen Webcommunity bzw. „Blase“ zu beweisen, liegt es auf 4chan ganz beim User.
Memes übernehmen diese Funktion.
Durch die Verwendung der korrekten Memes kann man jede Nachricht in einen Code verwandeln, welcher anderen Mitgliedern der in-group die eigenen Gruppenzugehörigkeit signalisiert. „The meme is a type of consistent recollection overcoming the gulf created by anonymity and temporality [on 4chan]”, schreibt der Medienwissenschaftler Lee Knuttila. Das Meme ist der geheime Handschlag, das Passwort oder das Klopfzeichen an der Tür. Sprich „Meme“ und tritt ein.
Gaskeep, Gateboss, Girllight
Memes auf 4chan sind kulturelles Kapital, welches einer Person – ganz im Sinne Bourdieus – eine privilegierte Position in einem sozialen Feld verschafft. Doch im Gegensatz zu Offline-Situationen sind die User der Seite aller üblichen Identitätsmarker beraubt. Memes erhalten daher eine überzogene Bedeutung und so tobt auf /b/ tagtäglich ein Kampf um ihre korrekte Nutzung. Transgressionen der memetischen Normen werden unmittelbar und erbarmungslos mit schlimmsten Beleidigungen abgestraft. Mit einem “LURK MOAR” (“lurk more”) wird zudem oft nahegelegt, sie sollen erstmal noch eine Weile zuschauen, bevor sie bei den ‚big boys‘ mitmachen.
Dieser Prozess des gegenseitigen Überflügelns und sadistischen Klugscheißens lässt sich abgeschwächt auch auf anderen Plattformen beobachten. Über Twitter – das “Vampire Castle” – schrieb Mark Fisher einst der Diskurs wäre “driven by a priest’s desire to excommunicate and condemn, an academic-pedant’s desire to be the first to be seen to spot a mistake, and a hipster’s desire to be one of the in-crowd.” Strukturell sind die Dynamiken ähnlich, wobei Twitter nicht mit der ausufernden Menschenfeindlichkeit 4chans agiert, da die Abwesenheit absoluter Anonymität die Kommentarspalten vergleichsweise zahm hält (auch wenn das für Menschen im Auge eines Shitstorms wohl wenig tröstlich ist).
Über die korrekte Verwendung von Memes wird die Zugehörigkeit und die Stellung einzelner User auf 4chan verhandelt. Mit jedem Post muss es erneut unter Beweis gestellt werden, da jeder Post erneut anonym und eigenständig ist. Hierbei kommt es zu einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen konservativer Befolgung kultureller Codes und der Schöpfung von original content – der Neudeutung und Veränderung memetischer Tradition. Bieten andere Plattformen technische Affordanzen wie GIF-Bibliotheken, eine Suchfunktion oder gar eine Auswahl an zu betanzender Songs, ist 4Chan auch hier vollständig nackt.
Ein Meme neu zu interpretieren und auszulegen, sodass es möglicherweise in den gemeinsamen Kanon der Seite aufgenommen wird, ist die einzige Chance auf Dauerhaftigkeit auf 4chan: man lässt die technologisch herbeigeführte Flüchtigkeit der Seite hinter sich und nistet sich selbst als Meme in dem Bewusstsein der Nutzenden, der Gemeinschaft, ein. Gleichzeitig verhindert man so, dass sich Außenseiter*innen allzu beiläufig das nötige kulturelle Kapital aneignen können, um selbst Teil der Seite zu werden. Für Neulinge wird das Erlernen der meme literacy zeitaufwändig und komplex, da man nicht nur die Memes und ihre Vergangenheit, sondern auch den Innovationsimperativ begreifen muss, um teilhaben zu dürfen. Man muss beiläufiges Verständnis beweisen, den angemessenen Habitus. Diese Praxis ermöglicht Exklusivität selbst unter den Bedingungen vollständiger Offenheit und absoluter Anonymität des Seitendesigns.
Zusammenfassen lässt sich die kulturelle Logik 4chans so: Ohne Profile oder Chroniken gibt es auf 4chan keine individuelle Identitäten, nur die anonyme Masse. Einzelne Nutzer im gesichtslosen Getümmel haben ein Interesse daran, Gatekeeping zu betreiben, weil in Abwesenheit jeglicher Individualität eine Verwässerung der Gruppe zum persönlichen Affront wird. Die kollektive Identität wird über Memes verhandelt, wobei jeder aktive User die korrekte Nutzung mit Argusaugen überwacht, die Verfehlungen abstraft und gleichzeitig versucht, die Eintrittsschwelle durch Innovation zu verschieben. Diese Dynamik ist, was 4chan in ein kreatives power house verwandelt.
Kill all Normies
Ich habe für meine Analyse absichtlich eine hohe Abstraktionsebene gewählt. Wer das /b/-random-board auf 4chan tatsächlich durchscrollt, wird konfrontiert mit einer überfordernden Mischung aus Revenge Porn, Antisemitismus, Rassismus und sämtlichen weiteren Formen der Menschenfeindlichkeit, die man sich vorstellen kann. 4chan ist beeindruckend kreativ, aber vollkommen abstoßend. Fernab jeglicher Polemiken über edgy gamer culture lässt sich dieser Fakt durchaus in die zuvor beschriebene Dynamik einordnen. Es ist notorisch schwierig, historische Aussagen über eine Seite zu treffen, die sich auf technologischer Ebene so sehr gegen Historisierung wehrt – doch eine These möchte ich wagen:
Laut Limor Shifman gibt es drei Ebenen, auf denen Memes codiert werden können: form, content und stance. Form ist die strukturelle Ebene eines Memes, content die inhaltliche und stance beschreibt die Haltung, die man dazu einnimmt z.B. ob man es ironisch verwendet. Jede der drei ist den dargelegten Prozessen unterworfen. Für den letzten Teil möchte ich der inhaltlichen Codierung ein wenig Aufmerksamkeit widmen.
Denn egal wie geschlossen eine Gruppe auch auftritt, in der Offenheit des Internets kann nie perfekte Exklusivität hergestellt werden. Viele der Memes, die im Internet rumgeistern, wurden ursprünglich auf 4chan populär wie z.B. das Rickrolling (wo vielversprechende Links in Wirklichkeit zu einem Youtube-Video von Rick Astley führen, wie er “Never gonna give you up” singt) und, wohl am bekanntesten: Pepe the Frog. In der Doku “Feels Good Man” um den ursprünglichen Zeichner des Frosches, Matt Furie (eine geradezu unmenschlich sanfte Person) wird nachvollzogen, wie der Comic zuerst nur als reaction pic genutzt und schließlich der memetischen Logik aus Innovation, Imitation und Mutation unterworfen wurde. In immer neuerlichen Formaten breitete sich Pepe besonders auf 4chan aus und schwappte schließlich in die schickeren Viertel des Internets, die durchkommerzialisierten Schaufensterstraßen von Instagram, Twitter, Facebook. Dort wurde er geliebtes Internet-Haustier der Nicht-4chan-Nutzer*innen: der sogenannten “Normies”.
Der strukturelle Code des Pepe-Memes, seine “form”, war auf Dauer natürlich nicht anspruchsvoll genug, um sich vor der Aneignung durch Außenseiter zu schützen. Beeindruckend erzählt die Doku davon, wie empört 4chan von der Verbreitung ihres Memes, von der cultural appropriation außerhalb ihres elitären Zirkels war. Sie begannen Pepes Codierung auch auf den Inhalt auszuweiten. Mit einem Zugang zu menschlichen Sensibilitäten, der alles als einen potentiellen Witz wahrnimmt, versah man die Pepe-Memes mit rechtsextremer, islamophober und antisemitischer Symbolik, die es Leuten außerhalb erschwerte, die Memes zu “klauen”. Natürlich nutzten diesen Deckmantel aus Ironie und Postironie auch Akteure, die in diesen Zeichen nicht nur provokanten Internethumor sahen.
Es gebe “an actual campaign to reclaim Pepe from the Normies”, verkündete der auf Twitter inzwischen gesperrte Rechtsextremist @JaredTSwift gegenüber The Daily Beast. Matt Furie versuchte – erfolglos – Kontrolle über sein Werk zurückzugewinnen. Er veröffentlichte sogar einen Comic, in welchem er seine eigene Schöpfung sterben ließ. Doch 4chan eignete sich Pepe an, verwandelte ihn in ein Symbol des Hasses und der Alt Right und zog so die Mauern um 4chan noch ein gutes Stück höher. Diese Zeit, um 2015/16, war ein großer Sprung in der Radikalisierung 4chans, auch wenn die Saat natürlich schon lange vorher ausgetragen worden war.
Ins Netz gehen
Nichts liegt mir ferner, als die gesamte Verantwortung für all den Hass auf 4chan auf strukturelle Elemente der Seite zu schieben. Sobald sich eine Seite – sei es Messageboard oder Soziales Medium im klassischen Sinne – erstmal einen Ruf für etwas eingehandelt hat, sorgen die so oft beschworenen Netzwerkeffekte dafür, weitere Menschen dieses Schlages anzuziehen. Jede*r, die dort postet, ist selbst verantwortlich für die eigenen Beiträge. Edgy Gamer Culture war von Anfang an problematisch und der Fakt, dass sie ein Werkzeug an die Hand bekommen haben, das die schlimmsten Tendenzen begünstigt, ist nur sehr eingeschränkt die Schuld der Seite. 4chan soll lediglich als Beispiel dienen für etwas anderes:
Denn ich glaube, dass das Webdesign einer jeden Seite einen Angebotscharakter hat, welcher nicht zwangsläufig der sein muss, der von den Programmierer*innen beabsichtigt wurde. Die libertäre und eigentlich individualistische Grundidee 4chans hat einen Kollektivismus in Reinform hervorgebracht, aus dem das Individuum herausprogrammiert wurde – gründlicher, als es analog je möglich war.
Das Internet abstrahiert und quantifiziert menschliche Beziehungen und erzeugt andere Phänomene in den Nutzenden als Sozialität offline es tut. Das gilt für 4chan wie für unsere geliebten und gleichzeitig gehassten Social-Media-Seiten, wo zudem noch die “Produktion des Sozialen direkt mit den Prozessen der Kapitalproduktion” gekoppelt ist, wie der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl es ausdrückt. 4chan ist für diese Erkenntnis lediglich eine Fallstudie, die aufgrund radikaler Designideen absoluter Anonymität und Flüchtigkeit auch besonders radikale kulturelle Effekte erzeugt. Social Media ist keine echte Öffentlichkeit es ist ein “public-discourse-themed video game”, schreibt der Philosoph Justin E. H. Smith. Das stimmt. Doch wenn alle Spieler*innen das Spielbrett nicht mehr mögen, kann man sich auf ein neues einigen. Eines, welchen den Mensch in die Mitte des Designs rückt. Es ist höchste Zeit.