von Jacob Birken
Online ist es ja normal, dass wir uns verkehrt sehen. Auf Zoom oder Skype wird unser eigenes Bild meistens gespiegelt, um einem Selbstbild zu entsprechen, das wir eben vor allem aus dem Spiegel kennen: uns so zu sehen, wie die anderen uns (und wir sie) sehen, würde uns nur verwirren. Die Öffentlichkeit ist grundsätzlich eine immense Maschine, die immer neue Bilder von Personen erzeugt, die jemandes Erwartungen gehorchen sollen. Heute ist noch der Computer dazugekommen, der gegebenenfalls besser weiß, wen wir wie sehen wollen.
Diese zahllosen Repräsentationen sind uns ähnlich oder nicht ähnlich genug, was wiederum die Herstellung weiterer Repräsentationen herausfordert. Manchmal sind diese Repräsentationen auch etwas Anderem ähnlich, wie beispielsweise einem Stereotyp oder einfach einer anderen Person. Die kanadische Autorin Naomi Klein ist so in den letzten Jahren immer öfter in die dubiose Situation gekommen, in einer anderen Naomi – der US-Autorin Naomi Wolf – erkannt zu werden. Auch mir war das irgendwann passiert, als ich mich beim Doomscrollen darüber gewundert und geärgert hatte, dass selbst Naomi Wolf umgekippt war; früher eine wichtige kritische Stimme, jetzt ein weiterer Aluhut, der skurrile Theorien über massenhafte Zwangssterilisation durch Covid-Impfungen und Todesstrahlen vom 5G-Mast verbreitete.
Nun hatte ich hier sofort fälschlicherweise an Naomi Klein gedacht, der solche Verschwörungsgeschichten zum Glück fremd sind. Beide Naomis sind sich eigentlich auch nur sehr oberflächlich ähnlich: Vom Aussehen und den Namen her, aber auch, weil sie beide als Kritikerinnen einer kapitalistischen wie chauvinistischen Gesellschaft bekannt wurden – radikale Frauen, die sich das System vornahmen. Wolf hatte 1990, noch in ihren späten Zwanzigern, The Beauty Myth (Der Mythos Schönheit) veröffentlicht, eine Kritik an ‚Schönheit‘ als normativem Instrument patriarchaler Unterdrückung. Klein, acht Jahre jünger, dekonstruierte in No Logo 2000 die kapitalistische Markenwelt und wurde schnell als eine Vordenkerin der globalisierungskritischen Bewegung gesehen, wie wiederum Wolf mit der dritten Welle des Feminismus assoziiert wurde.
Damit standen beide vor einem gemeinsamen, wenngleich sehr unscharfen Hintergrund. Das ist nicht zuletzt die Timeline, auf der wir uns durch Hot Takes und Schreckensnachrichten doomscrollen, und deren Themen weiterhin (oder jetzt erst recht) diejenigen sind, die Wolf und Klein vor Jahrzehnten gesetzt haben. Beide Naomis sind Stimmen in der öffentlichen Diskussion der zusammenhängenden Krisen der Gegenwart. Nun war mit der Covid-Pandemie eine weitere Krise hinzugekommen, und Wolf nahm dazu (erwartbar) eine radikale Position ein, die sie (unerwartet) auf die andere Seite des politischen Spektrums führte – anfangs irgendwo links oder zumindest progressiv verortet, trat sie plötzlich regelmäßig mit Rechtsradikalen wie Steve Bannon auf. Früher schrieb sie gegen die Militarisierung der USA und die ungehinderte Verbreitung von Schusswaffen an, jetzt ist sie mit ihrem früheren Bodyguard – einem Ex-Soldaten – verheiratet und berichtet begeistert von ihrem privaten Arsenal.
Dass viele, für die Wolfs frühere Arbeit relevant war, dies jetzt als Verrat an der gemeinsamen Sache verstanden, ist nachvollziehbar, dass sie sie nun mit Klein verwechselten und sie bei jedem neuen Unfug ihrer Namensvetterin mit wütenden Mails bombardierten, weniger. Diese Verwechslung ist nicht ganz so trivial, wie es wirkt; für mich spielte sicherlich die Sorge oder schlimme Ahnung hinein, dass auch Klein ‚in diesen schwierigen Zeiten‘ kippen könnte. Seit der Pandemie, spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine schien das ein Schicksal zu sein, das viele Linke und allgemein Intellektuelle ereilte.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der um die Jahrtausendwende wesentliche Texte zur Theorie des Ausnahmezustands und der totalitären Menschenvernichtung veröffentlicht hatte, sah jetzt den Totalitarismus bereits darin realisiert, dass Hochschullehre während der Pandemie über Zoom stattfinden musste; Byung-Chul Han, sonst eher für sanft konservative Kulturkritik am digitalisierten Kapitalismus zuständig, schwadronierte in Interviews 2020 von einer „Hysterie des Überlebens“, während der aktivistische Dramaturg Anselm Lenz vor der Berliner Volksbühne mit ausgewiesenen Rechtsradikalen zum „Demokratischen Widerstand“ gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur demonstrierte.
Das reihenweise Umkippen öffentlicher Intellektueller und Kulturleute hatte etwas Unheimliches. Methodische und ethische Ansprüche schienen sich von einem Tag auf den anderen verkehrt zu haben. Lästige Banalitäten wie Fernlehre oder die Impfung wurden mit industrialisiertem Massenmord verglichen, die solidarische Sorge umeinander (das Nicht-Anstecken mit einer potentiell tödlichen Krankheit) zu einem Übel, gegen das die hedonistische Verwirklichung des Individuums oder der Gemeinschaft verteidigt werden musste.
Dass Han im Interview die Sorge um das Überleben mit dem misogynen Begriff der „Hysterie“ belegte, war sicher kein Zufall. Es war aber auch kein Zufall, dass er seine Kritik an den staatlichen Covid-Maßnahmen ausgerechnet mit einer Referenz auf die ‚gute‘ Naomi herleitete: Wie Klein 2007 in The Shock Doctrine (Die Schock-Strategie) anhand von Beispielen zwischen Militärputschen während des Kalten Kriegs und den Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet hatte, werden gerade Krisensituationen dazu genutzt, um autoritäre Projekte bei einer verunsicherten oder desorientierten Bevölkerung durchzusetzen.
Das ist eine wichtige, scharfe Beobachtung. Klein hat dafür den Begriff des „Disaster Capitalism“ geprägt, den 2015 der Journalist Antony Loewenstein für ein gleichnamiges Buch mit weiteren Fallstudien aufgriff. Desaster-Kapitalismus ist die Logik einer vermeintlichen Unausweichlichkeit im Krisenmoment, von Margaret Thatchers Slogan „There is no alternative“: Es gibt keine Alternative dazu, den Sozialstaat, öffentliche Verkehrsmittel oder humanistische Universitätsfakultäten durch Einsparungen kaputtzuschrumpfen; es gibt keine Alternative dazu, nach einer Naturkatastrophe den Wiederaufbau den zugleich teuersten und fahrlässigsten Großkonzernen zu überlassen; es gibt, und das ist die Folge von alledem, keine Alternative dazu, ganze Gesellschaftsschichten der Prekarisierung auszuliefern, damit sie selbst keine Alternative dazu haben, sich der Industrie als billigste Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. In der Tat gibt auch die Covid-Pandemie einige Beispiele für Desaster-Kapitalismus her: von der Maskenaffäre hin zu den Profiten, die Firmen wie Microsoft oder Zoom durch die erzwungene Umstellung auf digitale Lehre machten.
An einer solchen konkreten Kapitalismuskritik war Han freilich weniger interessiert als daran, wie die „digitale Biopolitik […] mit ihrem Kontroll- und Überwachungssystem die Kontrolle über unsere Körper in einer biopolitischen Disziplinargesellschaft ergreift“. Dennoch bereitete es mir ein ganz persönliches Unbehagen, wie nahtlos der Übergang war, wie anschlussfähig die materialistische Analyse des Ausbeutungskapitalismus für das apokalyptische Geraune schien.
Wo ist die Grenze zwischen einer kritischen Untersuchung, in der komplexe politische Phänomene auf eine elegante Formel wie Desaster-Kapitalismus reduziert werden, und der paranoiden Suche nach den ‚wahren‘ Gründen für die augenfälligen Probleme und Ungerechtigkeiten? Mit solchen Fragen wird die paranoide Perspektive zum übergreifenden Weltbild. Gerade weil ich Kleins Shock Doctrine so überzeugend fand und selbst regelmäßig zur reaktionären Politisierung von Krisen schrieb, stellte ich sie und letztlich mich unter Verdacht, auf die Schwurbelzone zuzusteuern, in der Wolf, Agamben oder Han so mühelos angekommen waren.
In der Verwechselbarkeit der beiden Naomis schien sich dieses Problem allegorisch zuzuspitzen und zwang Klein aus dieser vielleicht aufklärerischen, vielleicht paranoiden Logik heraus, sich damit ernsthafter zu beschäftigen – das heißt, ein verstörendes Phänomen unserer Gegenwart so weit zu durchdringen, bis es sich auf elegante Formeln reduzieren und in ein lesenswertes Buch fassen lässt. Doppelganger (2023, auf Deutsch noch nicht angekündigt) ist teils autobiographisch, teils eine sehr umfassende Bestandsaufnahme der politischen Kultur der letzten Jahre. Es ist nicht als philosophischer Text geschrieben, wirft aber grundsätzliche Fragen zu einer politischen Epistemologie auf. Klein nutzt die Figur des „Doppelgängers“ und die einer dazugehörigen „Spiegelwelt“, um die unheimliche Verwechselbarkeit zwischen kritischen linken Positionen und der nach rechts weit offenen Schwurbelzone auszuloten, die sich am Ende trotzdem als unaufhebbar widersprüchlich erweisen.
Doppelgänger:innen in Märchen, Filmen oder Romanen sind Verkörperlichungen einer Identitätskrise, die zur Gefahr für die Person wird, wenn sie durch ihr Doppel ausgetauscht oder überschrieben wird. Sie sind nur in einer Gesellschaft denkbar, in der das Individuum als einzigartig verstanden wird und dessen Einzigartigkeit zugleich instabil bleibt, gewissermaßen immer nur flüchtig zwischen Person und Gesellschaft ausgehandelt: Der Eigenname im Ausweis, auf dem Buchumschlag oder im Social-Media-Profil, der mit den eigenen Erinnerungen und denjenigen anderer korrespondiert. Auf einer grundlegenden psychologischen Ebene geht es hier um Objektpermanenz, die Fähigkeit, jemanden oder etwas als dieselbe, denselben, dasselbe wiederzuerkennen, selbst wenn wir sie zwischendurch nicht sehen.
Objektpermanenz ist ein unerlässliches Mittel der Psyche, um Gemeinschaftlichkeit überhaupt denkbar zu machen – dennoch bleibt sie gerade in ihrer sozialen Anwendung zu einem winzigen Teil immer spekulativ, wenn wir beispielsweise annehmen, dass eine Person auch heute so sein wird, wie wir sie von früher kennen. Umgekehrt reflektieren wir, dass und wie wir von anderen als eine andauernde Persönlichkeit wahrgenommen werden. Als Kapitalismuskritikerin kommt Klein nicht umhin, dies vor dem Hintergrund einer den Regeln des Marktes unterworfenen Gesellschaft zu diskutieren, in der Identität als Marke (z.B. ‚die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein‘) aufgebaut und gepflegt werden muss. Soziale Medien fördern und fordern das. Wie Klein beschreibt, entsteht der zumindest indirekte Zwang, sich selbst als Doppelgänger:in auf den üblichen Plattformen anzulegen, um dort die von der eigenen Peer Group als ‚richtig‘ angesehene Haltung zu performen.
Dieses Zurechtstutzen der Person auf eine wiedererkennbare, wettbewerbsfähige Haltung führt mit dazu, die Gesellschaft in „Spiegelwelten“ aufzusplittern, deren jeweilige Ethik nicht aus der Auseinandersetzung mit konkreten Umständen und Vorstellungen von Gerechtigkeit abgeleitet wird, sondern nur im Gegensatz zur Position der anderen Seite stehen muss. Politik ist nicht länger ein Prozess gesellschaftlicher Veränderung, sondern nur noch Markentreue. Von der Diagnose einer ‚gespaltenen Gesellschaft‘ brauchen wir nicht allzu viel zu halten, um solche Phänomene beobachten zu können. Die Weigerung, Komplexität jenseits einfachster Bekenntnisse für ‚gut‘ und gegen ‚böse‘ anzuerkennen, verflacht auch die Person zum Display, auf dem die Haltung des Augenblicks abgefragt werden kann.
Dass das Profil auf Social Media Persönlichkeit als Kontinuität darstellt, im besten Fall als öffentliches Tagebuch gelesen werden kann, interessiert nicht weiter, wenn es nur auf die aktuelle Performance ankommt. Umgekehrt werden oft genug alte Posts herausgesucht, um damit die fehlende moralische Integrität einer Person anzuzeigen. Post um Post setzen wir weitere Doppelgänger:innen unserer selbst in die Welt, die uns gegenüber zu nichts verpflichtet sind, im Zweifelsfall aber stets gegen uns aussagen werden.
Das alles ist unheimlich, und soll es vielleicht sein – ein kollektives Gaslighting, in dem niemand sicher vor den eigenen Doppelgänger:innen bleibt. Wolf wird für Klein unheimlich, weil sie in ihr gegen ihren Willen (wieder-)erkannt wird: Als kritische Autorin, die die Machtstrukturen hinter aktuellen Krisen aufdecken will, aber auch als jüdische Frau. So sehr Doppelgänger:innen dabei an das Problem der individuellen Identität rühren (was würde passieren, wenn ich mir auf der Straße selbst begegnen würde?), so sehr sind sie ein Mittel paranoider Gesellschaftskritik (was ist, wenn die Menschen auf der Straße nicht die sind, für die ich sie halte?). Der, die oder das Andere als ein Gegenüber des Individuums – eben nicht ich – kann im gesellschaftlichen Zusammenhang zum Anderen werden, das nicht der eigenen Gemeinschaft angehört. Doppelgänger:innen werden damit politisch – bedrohliche Un-Personen, die ein Kollektiv unterwandern. In der Popkultur wird das zum Motiv von Horror- oder Sci-Fi-Geschichten wie Das Ding aus einer anderen Welt oder Die Körperfresser kommen.
Es ist bezeichnend, wie einfach diese Storys aktualisiert und an gegenwärtige gesellschaftliche Fragen angepasst werden können – bereits beim ersten Körperfresser-Film, Don Siegels Die Dämonischen von 1956, könnte der schleichende Austausch der Menschen durch emotionslose Außerirdische eine Allegorie auf eine kommunistische Unterwanderung der USA oder auf den Konformismus der antikommunistischen McCarthy-Ära sein. Wenn Naomi Wolf also ihre bizarre Mär davon vorträgt, wie die Impfstoffe die „Energiefelder“ der Menschen verändern, sie gefühllos, wie „Hologramme“ wirken und „Teenager und ältere Kinder sich wie Zombies oder Roboter“ bewegen lassen, werden dabei bekannte Motive aus der Science Fiction abgerufen und mit der Kritik an einem vorgeblichen Konformismus der Geimpften verwoben.
Dies trägt nicht zuletzt dazu bei, die Anderen zu entmenschlichen. Im persönlichsten Abschnitt des Buches schreibt Klein über ihre eigenen Erfahrungen als Mutter eines autistischen Kinds. Die anfangs eher in ‚alternativmedizinischen‘ Kreisen verbreitete Falschinformation, dass Autismus eine Nebenwirkung von Impfstoffen sei, nimmt im neuen Zusammenhang der Covid-Pandemie eine bedrohlichere Note an. Wolfs dystopische Beschreibung von Geimpften als empathielos, kommunikationsunfähig und letztlich nicht ganz menschlich spiegelt gängige Vorstellungen von autistischen Personen. Klein zeichnet nach, wie die Pathologisierung autistischer Kinder zu Doppelgänger-Figuren in vielerlei Hinsicht eine Gewaltgeschichte ist: Von der ersten Bestimmung als Krankheit durch Hans Asperger, der autistische Kinder mitunter als genialisch verklärte, aber viele mit seiner Diagnose effektiv in den Tod im NS-Euthanasie-Programm schickte, bis hin zu Eltern, die eine solche Diagnose vor allem als eine persönliche Enttäuschung wahrnehmen und sie durch die rücksichtslose Anpassung des Kindes an die eigenen normativen Vorstellungen wiedergutmachen wollen.
Im Narrativ vom ‚falschen‘ Kind erkennt Klein eine den Doppelgänger:innen verwandte folkloristische Figur wieder – das Wechselbalg, ein dämonisches, monströses Wesen, das Eltern anstatt des eigenen Kindes untergeschoben wird. Als Märchen kann das der Ausdruck von Ängsten sein, aber auch die nahezu ritualisierte Rechtfertigung, als anders empfundene Kinder gewissermaßen für deren falsche Existenz zu bestrafen: Oft gehört zu diesen Geschichten, dass das Wechselbalg extremer Gewalt ausgesetzt werden muss, damit es wieder ins Reich der Feen flüchtet und mit etwas Glück das ‚echte‘ Kind zurückkehrt.
Dass es sich bei historischen Wechselbalg-Geschichten ‚eigentlich‘ um eine Chiffre für Gewalt gegen neurodiverse Kinder handeln könnte, zeigt, dass sich selbst eine kritische Hermeneutik nie aus einer verschwörerischen Logik befreien kann: Hier ist es eben die andauernde Verschwörung gegen das autistische Kind, die im alten folkloristischen Motiv aufgedeckt wird. Wie lässt sich hier eine klare Grenze ziehen? Wechselbälger oder zombifizierte Geimpfte sind Fiktionen, höchstens von denjenigen als wahr empfunden, die sich die Welt auf andere Weise nicht erklären könnten.
Dennoch steht hinter der falschen Erklärung ein Erklärungsbedarf. Verschwörungstheoretiker:innen mögen bei den Fakten falsch liegen, schreibt Klein, doch nicht im Gefühl. Und in der Tat lag während der Pandemie vieles im Argen, was auf konkrete Machtverhältnisse zurückgeführt werden könnte – seien es die Prekarisierung der Pflege, das Geschacher der Pharmaindustrie um Patente, anstatt die Impfstoffe für weltweite Herstellung freizugeben, oder die klaren Interessen der Techindustrie an einer erzwungenen Digitalisierung. Weshalb also eine Erklärung für solche Missverhältnisse suchen, die auf den ersten Blick als wirre Fantasterei zu erkennen sein sollte – warum schlechte Science-Fiction über verimpfte Überwachungschips verbreiten, anstatt sich beispielsweise für offene Softwarestandards und eine gerechtere Gesundheitspolitik einzusetzen?
Die erste Antwort ist: Weil es zu kompliziert wäre. „Der paranoide Verstand ist viel kohärenter als die wirkliche Welt“, schrieb der Historiker Richard Hofstadter bereits 1964 in seinem Essay „The Paranoid Style in American Politics“. Wenn Bill Gates und George Soros als übermächtige Strippenzieher für alles verantwortlich sind, was in der Welt schiefläuft, bleiben nicht allzu viele Fragen offen und erst recht nicht diejenige, auf welcher Seite man steht. In dieser Vereinfachung auf ein Schema von Gut vs. Böse fällt vieles weg, und genau dies könnte die Taktik dahinter sein. Klein nennt dies „Wege des Nichtsehens“, eine Weltsicht, davon geprägt, an den wesentlichen Problemen, an den konkreten menschlichen Anliegen vorbeizuschauen, die hinter den immer weiter gespiegelten Doppelgänger:innen verborgen bleiben.
Nun hat Klein selbst politische Anliegen, und aus diesen lässt sich die zweite Antwort ableiten: Weil es zu kompliziert wäre, sich mit dem Kapitalismus (und der eigenen Verstrickung in dessen Machtverhältnisse) auseinanderzusetzen. Erneut werden wir mit einer Verschwörung konfrontiert, die diesmal hinter dem Verschwörungsdenken selbst steht. Hier lassen sich allerdings keine finsteren Strippenzieher:innen ans Licht zerren, sondern nur die eigene, selbstverschuldete Unmündigkeit gegenüber einem System, das auf Ausbeutung und Ungleichheit aufbaut (an dieser Stelle der allfällige Disclaimer, dass auch dieser Text auf Geräten geschrieben und gelesen wird, in deren Produktion höchstwahrscheinlich Kinder- und/oder Zwangsarbeit eingeflossen ist). Anders gesagt: Bill Gates als dämonischer Blutsauger lenkt den Blick weg von Bill Gates als Vertreter eines kapitalistischen Systems, von dem selbst die meisten Aluhüte dadurch profitieren, indem auch sie nicht in einem Sweatshop oder einer Coltan-Mine arbeiten müssen.
Ein pragmatischer Zugang zum Dilemma um Doppelgänger:innen und Spiegelwelten wäre also die Frage, was verborgen bleibt oder wird, wenn vermeintlich etwas ‚aufgedeckt‘ wird – ein Zugang, der nicht auf das beschränkt bleiben darf, was wir von vornherein als Augenwischerei abtun. Klein weiß sehr wohl, dass Aufklärungsarbeit niemals neutral bleibt, weil sie schließlich von historisch und kulturell verorteten Menschen betrieben wird.
Dass es ausgerechnetjüdische Intellektuelle waren, die sowohl im frühen Marxismus wie in der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts den Kapitalismus als Ideologie und Machtstruktur dekonstruierten, ist ein antisemitisches Narrativ, aber ebenso – wie Klein zu einem plot twist verdichtet – die jüdische Reaktion darauf, zum Sündenbock für gesellschaftliche Zustände gemacht zu werden, die eigentlich dem Kapitalismus anzulasten sind. Das ist im 21. Jahrhundert nicht weniger aktuell: US-amerikanische Rechtsradikale verwenden mittlerweile routiniert die Chiffre vom „Kulturellen Marxismus“, aus dem vorgeblich die zeitgenössische Identitätspolitik und ergo sämtliche die ‚westliche Zivilisation‘ (sprich, die heteronormative weiße Gesellschaft) bedrohenden Phänomene zwischen Black Lives Matters und körperlicher Selbstbestimmung stammen.
An Perfidie ist das kaum zu überbieten – dem simplen Anliegen schwarzer oder trans Menschen, nicht ermordet zu werden, wird die Legitimität entzogen, weil sich dahinter eigentlich ein politisches Projekt dubioser (jüdischer) Marxist:innen verberge; zugleich werden letztere als Gruppe identifiziert, die aus dem Diskurs und schließlich der Gesellschaft ausgeschlossen gehört. Chris Rufo, der als Stratege der radikalen Rechten in den USA solche Narrative erfolgreich verbreitet hat, arbeitet bereits daran, den Nahost-Konflikt auf ähnliche Weise nutzbar zu machen: Konservative sollten „einen starken Zusammenhang zwischen Hamas, BLM, DSA [den demokratischen Sozialist:innen], und der akademischen ‚Dekolonisation‘ im öffentlichen Bewusstsein herstellen“ – eine neue Kohorte von Doppelgänger:innen also, dank der dann in den USA das Uni-Seminar zur Geschichte der Sklaverei und danach die Gewerkschaft in der Autofabrik verboten wird, weil sie irgendwie für die in Israel durch die Hamas durchgeführten Massaker mitverantwortlich seien.
Es ist schwer, sich gegen solchen Unfug zu wehren. Zum einen können kontrafaktische Mythen überzeugender sein, da sie schlichtweg einfacher sind, unmittelbar ein Feindbild bieten, das zur Verantwortung gezogen werden soll. Zum anderen findet dies alles innerhalb von Diskursen statt, die als Wettbewerb und nicht als gemeinschaftsbildender Prozess geführt werden. Als Angehöriger einer Minderheit zögere ich oft selbst, mich zu diesbezüglichen Konflikten zu äußern, gerade weil ich weiß, dass das als Versuch interpretiert werden würde, mir einen Vorteil zu verschaffen – wenn zum Beispiel hochrangige deutsche Politiker:innen über ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ und eine ‚Einwanderung ins deutsche Sozialsystem‘ sprechen, als wäre der Wunsch nach besseren Lebensumständen nicht selbstverständlich, sondern eine kriminelle Masche, gehe ich als sogenannter Spätaussiedler vorsichtshalber davon aus, dass selbst die glatteste ‚Integration’ gerade als Beweis dafür angebracht werden könnte, sich hier etwas erschlichen zu haben. Im Sinne Kleins muss ich immer damit rechnen, dass in oder statt mir mein Doppelgänger des ‚Einwanderers‘ erkannt wird, den ich als Individuum immer vertrete, ohne über seine Identität bestimmen zu können – „du kannst dieses Doppel nicht abschütteln, weil du es nicht selbst erschaffen hast“, wie sie zu solchen identitätspolitischen Doppelgänger:innen schreibt.
Und dann kann es sogar ganz verlockend werden, sich selbst in den Spiegelwelten zu verirren. In einem sonderbaren Text für den Guardianschrieb Klein wenige Tage nach dem Gewaltausbruch in Israel zu Antisemitismus. Es ist wieder ein persönlicher Text, doch auch einer, dem man förmlich die Anstrengung des Nichtsehens anmerkt. Am Antisemitismus scheint ihr weniger wesentlich, dass er Gewalt legitimiert, als dass er in Folge den „militanten Zionismus“ anfeuert; an den israelischen Opfern muss sie daher schnell vorbeischauen, in eine unausweichliche Zukunft, in der die Israelis wieder dem entsprechen, was Klein in ihnen sehen will: Täter:innen, eben. Inmitten der gegenwärtigen Spiegelwelten, in denen genug Akteur:innen ohne zu zögern Rassismus gegen Antisemitismus ausspielen werden, um den Kampf gegen beide zu sabotieren, bleibt es wesentlich, sich klar gegen Gewalt und Unrecht zu positionieren; es sollte aber der Sache nie schaden, einfach kurz zu schweigen, wenn man im Chaos des Augenblicks nichts anderes produzieren würde als weitere Doppelgänger:innen.