Wer schreibt die DDR? – Zu einer literaturpolitischen Debatte 

von Peter Hintz

Im gegenwärtigen Diskurs um die Erinnerung der DDR-Vergangenheit und die Bedeutung ihrer Nachgeschichte spielen die kulturellen Möglichkeiten literarischer Repräsentation, aber auch politische Ansprüche auf das kulturelle Feld, eine wichtige Rolle. So versuchen etwa ostdeutsche Autor*innen wie Hendrik Bolz oder Daniel Schulz, die im letzten Jahrzehnt der DDR geboren wurden, mit autobiografisch gefärbten Jugendfiktionen kollektive Erinnerungslücken über rechtsradikale Gewalt im Osten der Nachwendezeit zu füllen. Zugleich meinte der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in einem Sachbuch-Bestseller, anhand des angeblich randständigen Status von Schriftsteller*innen aus der DDR eine anhaltende Marginalisierung Ostdeutscher in der Kultur Gesamtdeutschlands nachweisen zu können.

In diesem Jahr waren nun ganze vier Romane auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, die zumindest teilweise in der DDR spielen: Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta), Angelika Klüssendorfs Risse (Piper) und Terézia Moras Muna oder die Hälfte des Lebens (Luchterhand). Hinzu kam außerdem der gerade erschienene Debütroman Gittersee (S. Fischer) von Charlotte Gneuß, dessen Publikationskontext die jüngere Debatte um ost- und westdeutsche Kulturpolitik neuerlich befeuert hat.

Nach eigener Aussage gab der Verlag vor Erscheinen ein Exemplar von Gittersee an den in der DDR aufgewachsenen Schriftsteller Ingo Schulze zur Lektüre, der ebenfalls für S. Fischer schreibt. Laut eines Interviews mit der SZ nahm Schulze dies als Aufforderung, ein “ungeplantes Außenlektorat” am Roman vorzunehmen und erarbeitete eine Liste von 24 Textstellen, die seiner Meinung nach sprachlich oder historisch nicht der Welt der untergegangenen DDR entsprechen würden. So bemängelte Schulze die in Dresden wohl eher weniger verbreiteten Ausdrücke wie “passt schon” und “lecker” oder Anglizismen wie “pink”. Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hatte Gneuß nicht um Korrekturen durch Schulze gebeten und ein Gespräch mit ihr dazu hatte er offenbar abgelehnt.

Es ist wenig überraschend, dass Schulzes Intervention größere mediale Beachtung bis hin zu einem halbwegs erfolgreichen Skandalisierungsversuch fand. Schließlich wurde Schulzes Liste auch der Jury des Deutschen Buchpreises zugespielt, die Gittersee bereits auf die Longlist gesetzt hatte und über die Nominierungen für die Shortlist beriet. Es lag nahe, eine spitzelhafte Beeinflussung der Preisvergabe zu vermuten. Schulze selbst hat die Anschuldigung der Übermittlung seiner Liste an die Jury zurückgewiesen.

Darüber hinaus ließ sich ‘die Liste’ als Stimme einer älteren ostdeutschen Generation interpretieren, die qua ihrer Sozialisation in der DDR gegen jüngere Autor*innen ihre Deutungsmacht behaupten wollte. So hatte Schulze bereits Oschmanns Sachbuch geblurbt und rechtfertigte die Liste nun damit, dass “Jüngere[] vieles nicht aus eigener Erfahrung wissen können”. Zudem verstand er im SZ-Interview Empörung über seine Kritik als Beweis dafür, dass “der Osten” im deutschen Medienbetrieb “hin und wieder unterbelichtet” bleibe. Derartiges Besserwissertum über historische Faktizität mag bei einem Schriftsteller überraschen. Inzwischen hat es sich aber allgemein durchgesetzt, dass an Stelle der altbekannten DDR-Konsumgüternostalgie, den immer gleichen Knusperflocken-Verpackungen und Rotkäppchen-Flaschen, ein bildungsbürgerlicher Gedächtnispalast getreten ist, der kulturelle Eigenheiten des Ostens nicht ohne Stolz betont, selbst wenn er Unfreiheiten und Gewalt zur Kenntnis nimmt.

Was sich ereignet, ist nicht nur eine identitäre West-Ost-Debatte, sondern auch ein schwelender kultureller Konflikt zwischen ostdeutschen Generationen und Eliten, der seit einiger Zeit mit der fragwürdigen Indienstnahme von Rhetorik aus dem Postkolonialismus-Seminar einhergeht: Erklärte Oschmann den Osten zur “westdeutschen Erfindung”, unterstellte das Feuilleton der FAZ nun eine laufende Debatte über die Frage “Darf sie das? Darf eine Autorin, die 1992 in Ludwigsburg zur Welt kam und also nach der Wende tief im Westen sozialisiert wurde und die DDR-Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung kennt – darf sie einen Roman schreiben, der in den Sieb­zigerjahren in Dresden spielt?” Dabei stellte der FAZ-Artikel dann doch klar, dass die Familie von Gneuß aus dem Osten kommt, sie dort auch selbst gelebt hat und Schulzes Anmerkungen sowohl literarisch als auch historisch fragwürdig sind.

Der künstlerisch ausgeklügelte Roman von Charlotte Gneuß liest sich allerdings gar nicht so, als wollte er unmittelbar an dieser erinnerungspolitischen Debatte teilhaben. Statt auf eine autobiografisch legitimierte, kritisch zurückblickende Stimme aus der Gegenwart setzt der Roman auf einen ambivalenten historischen Realismus mit surrealen Zügen, der klare politische Zuordnungen schwierig macht. Gittersee erzählt die Geschichte einer Jugendlichen aus dem sächsischen Arbeitermilieu der 1970er Jahre, die innerhalb des DDR-Systems zwischen Opposition und Nähe zum Staat zerrissen wird.

Die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Karin wächst im Bergbauviertel Gittersee am Rande Dresdens auf. In Gittersee wurde während des Kalten Krieges durch die Aktiengesellschaft Wismut Uranerz für den Bau der sowjetischen Atombombe und später die Nuklearindustrie gewonnen. Ihr Freund Paul muss nicht mehr in die Schule, arbeitet stattdessen im Schacht und will in den Westen. Die Dresdner Kulturbürger, die man hinlänglich von Uwe Tellkamp kennt, tauchen nur ganz kurz auf, als Karin sich daran erinnert, dass ihre Mutter einmal in der Innenstadt zum Feiern war. 

Offenkundig wurde Gneuß durch Werner Bräunigs Roman Rummelplatz inspiriert, der in den 1960er Jahren in der DDR entstand und erst 2007 im Aufbau Verlag vollständig erschienen ist. Auch Bräunigs Buch ist ein Wismut-Roman, der im Uranbergbau im Erzgebirge spielt. Sein ungeschöntes proletarisches Panorama des Ostens in der unmittelbaren Nachkriegszeit stieß auf Ablehnung bei den DDR-Kulturbehörden. “[W]illst Du weiterhin im Schmutz über unsere Bergarbeiter und deren Frauen schreiben wie in ‘Rummelplatz’”, fragte damals das Neue Deutschland.

Das Biermann-Ausbürgerungsjahr 1976, das Gittersee implizit für seine Handlung auswählt, erscheint noch trister als die frühen 1950er, wenngleich auch in diesem Roman soziale Realität nur deshalb so deprimierend wirkt, weil persönliche und ideologische Hoffnungen gegen sie geprüft werden. Ständig wird gekehrt und Räume und Körper werden gesäubert, aber die Unordnung und der Dreck bleiben. Gleich im ersten Kapitel kehrt Paul von einem angeblichen Kletterausflug in der Böhmischen Schweiz an der tschechischen Grenze nicht zurück und die sitzengelassene Karin gerät ins Visier einer Stasi-Untersuchung wegen Republikflucht.

Während es sich auch bei Rummelplatz um einen Entwicklungsroman handelte, ist die weibliche Erzählperspektive in Gittersee deutlich kindlicher. Gesellschaftliche Kontexte tauchen mitunter in Details der Handlung auf, sollen wie das Schicksal von Karin und Paul aber nur nach und nach erschlossen werden. Als mitreißender Kriminalroman verwischt Gittersee so permanent scheinbare Gewissheiten über Schuld und Unschuld. Erst von der Staatssicherheit verhört, erklärt Karin sich trotz Minderjährigkeit dann doch zum Inoffiziellen Mitarbeiter. Im DDR-System der Erzählung wohnt jedem Opfer auch potenzielle Täterschaft inne.

Dabei gelingt es dem Roman allerdings, einzelne Figuren so sympathisch und glaubhaft zu halten, dass Fragen über letztendliche Loyalitäten nicht bloß lange offen bleiben, sondern vor scheinbar unauflösbaren gesellschaftlichen Widersprüchen eigentlich in den Hintergrund treten. Karin schuftet unter der Last, ihre kleine Schwester mehr oder weniger allein erziehen zu müssen. Gleichzeitig ist ihre Mutter aber in der Lage, eine eigene ‘Flucht’ vor der Tristesse ihrer Ehe und der Vorstadtsiedlung zu begehen. Am Gefühl des existenziellen Konflikts, der Kondensierung der Handlung wird der universelle Anspruch der DDR-Jugenderzählung deutlich.

Ironischerweise war es vor einigen Jahren Ingo Schulze selbst, der mit Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer, 2020) einen eigenen doppelbödigen Kriminalroman geschrieben hatte, der Ostdeutsche vor politischen Zuschreibungen in Schutz nehmen sollte. Es scheint so, als wolle auch der Stasi-Krimi von Gneuß sich sowohl von den Dresdner Bürgertumsromanen Tellkamps als auch von den scharf anklagenden ‘Baseballschlägertexten’ anderer jüngerer Schriftsteller*innen abgrenzen. Dazu gehören auch die versichernden Anklänge an ältere Literatur aus der DDR selbst.

Dabei kommt auch das Buch von Gneuß nicht umhin, am Rande die nur mangelhafte Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR zu thematisieren, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wiedererstarkens der Rechten eine große Rolle in der jüngeren Ostliteratur spielt. So erzählt Gittersee anhand der Großmutter der Protagonistin fortwährende NS-Affinitäten in der DDR der 1970er Jahre, die dem antifaschistischen Selbstbild des sozialistischen Staats widersprachen. Zugleich ist diese Großmutterfigur in Gittersee aber auch so gestaltet, dass sie sich im Vergleich zu den anderen Erwachsenenfiguren fürsorglicher verhält. Wiederum wird damit ein fast übervorsichtig wirkendes literarisches Abwägen von historischen Mehrdeutigkeiten offenbar, das am Ende nicht verhindern konnte, dass der Roman trotzdem zum Gegenstand eines übergeordneten kulturpolitischen Konflikts gemacht worden ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Konflikt häufig in und anhand von Texten ausgetragen wird, die Kindheit, Jugend und Familie im Osten thematisieren. Im Bereich des scheinbar Privaten oder Persönlichen treffen eigene Erinnerungen auf neuere kritische Erzählungen ostdeutscher Vergangenheit, die häufig kulturhistorisch oder selbst autobiografisch beeinflusst sind. So werden kritische Fragen über das Verhältnis von autoritärer Erziehung zu rechtsradikaler Gewalt, die etwa Anne Rabes Roman Die Möglichkeit von Glück aufgeworfen hat, damit abgeschmettert, dass es im Westen auch nicht besser gewesen sei.

Die kurz vor der Wende in Brandenburg geborene und in England lehrende Historikerin Katja Hoyer versuchte jüngst, Widersprüche zwischen ostdeutschen Erinnerungen, kritischem öffentlichen Diskurs und Geschichtsschreibung durch eine oral history der DDR aufzulösen. Auf Basis von äußerst selektiven Zeitzeugeninterviews stellte sie die These auf, dass der DDR-Staat eben im Privaten individuelle Freiheit ermöglicht habe. Letztlich lieferte Hoyer damit lediglich eine nicht ausreichend von anderen Quellen und existierender Forschung gedeckte Apologie ostdeutscher Nostalgie, die sich vom Autoritären im Alltag, im Kleinen und Individuellen nicht nur freisprechen will, sondern gerade dort nach kultureller Identität sucht. Impliziert wird damit eine Deutung der Nachwendejahre als Geschichte westlicher Kolonialisierung statt als Fortsetzung ostdeutscher Gewaltgeschichte, Untergang des Ostens statt Rassismus. Für die Leserschaft von Hoyers und Oschmanns Büchern spielt es keine Rolle, dass diese gesellschaftliche Selbsterzählung die realen Erfolge der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die heute im Osten alle Parteien bis zur AfD für sich vereinnahmen wollen, erstaunlich schmälert.


Eine breite Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Gedächtnis steht in Ostdeutschland derzeit also noch aus, zumal auch viele Angehörige der Nachwendegeneration lieber auf die Erzählungen ihrer Eltern hören. Es scheinen aber gerade verschiedene Formen kritisch prüfender literarischer Gegenerinnerung zu sein, die dazu beitragen können, diese Auseinandersetzung zu fördern, indem sie neue Öffentlichkeiten für Verdrängtes schaffen.

Foto von Norbert Braun auf Unsplash

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner