von Isabella Caldart
Unsere Guilty Pleasures haben eine wichtige Funktion – sie sind nicht nur spaßig, sondern helfen uns auch dabei, nicht an der Welt zu verzweifeln. Das Konzept des Guilty Pleasure ist etwas schwierig zu greifen, weniger der Definition wegen als der Terminologie: Viele Expert:innen wie Konsument:innen kritisieren den Begriff „Guilty“, weil er zum einen nah an der ermüdenden Debatte der Unterscheidung von sogenannter Hoch- und Unterhaltungskultur kratzt, was immer einen elitären Beigeschmack hat, und schlicht und ergreifend weil man sich für etwas, das Freude bereitet, nicht schuldig fühlen sollte.
Bereits 2004 schimpfte Popkulturjournalist Chuck Klosterman, dass „die einzigen Menschen, die an eine Art universellen Geschmack glauben – eine einvernehmliche Abgrenzung zwischen dem, was künstlerisch gut, und dem, was künstlerisch schlecht ist – unsichere und unkreative Elitäre sind, die die Kunst anderer benutzen müssen, um ihre eigene begrenzte Weltsicht zu bestätigen“, während Jenner Szalai den Begriff 2013 im New Yorker als einen „unbeholfenen Versuch, sich gleichzeitig zu erhöhen als auch den Gegenstand, dem diese Formulierung typischerweise zugeordnet wird, zu verunglimpfen“ ablehnte.
Ich kann diese Kritik nachvollziehen, weil ich diese Art der Unterscheidung ebenfalls für elitär halte. Und trotzdem ist Guilty Pleasure ein Begriff, den ich häufig und gerne verwende, denn es ist nun mal eine Tatsache, dass das Vergnügen, das ich aus einer so schlechten Serie wie „Gossip Girl“ ziehe, ein ganz anderes ist als die Freude, die ich an intelligent erzählten Serien, Filmen oder Büchern habe. Diesen Unterschied in meiner Außenkommunikation anzuerkennen hat für mich wenig mit Scham zu tun. Ich persönlich habe genug ironische Distanz zu der Semantik dieser Bezeichnung und benutze sie eher liebevoll für all den Poptrash, den ich regelmäßig konsumiere. Ich fühle mich nicht schuldig und tue dies entsprechend offen, nicht hinter verschlossenen Türen und verwende den Begriff also selbstbewusst, weil ich weiß, dass wir alle Guilty Pleasures haben und gerade diese oft sehr vereinend sein können.
Seicht und hilfreich
Guilty Pleasures sind nicht nur vereinend, sie helfen vielen auch dabei, die Realität zumindest kurzzeitig auszublenden. Gerade zu Beginn der Pandemie war meine Konzentration extrem beeinträchtigt, ich fühlte mich kaum in der Lage, mehr als fünf Sätze am Stück zu lesen. Ich habe über Wochen, fast Monaten hinweg kaum ein Buch in die Hand genommen und stattdessen auf sehr leicht konsumierbare Sendungen und Filme und meinen Comfort Binge, also altbekannte Serien, die einem das Gefühl des Zuhauseseins vermitteln, zurückgegriffen.
Weltweit ging es den Menschen vergleichbar, wir alle suchten eine Form des Eskapismus, die wir in widerstandsloser Unterhaltung fanden. Natürlich zählen auch, sagen wir, die Lektüre von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder das Versinken in ein Gemälde von Dürer als Eskapismus. Aber ich wage zu behaupten: Je seichter und je bekannter, desto wirksamer. (Womit wir wieder bei dem Punkt wären, dass ein Werk, das gemeinhin als Guilty Pleasure gilt, eben doch etwas anderes ist als sogenannte Hochkultur.) Je schlimmer sich die Welt anfühlt (sprich: 2020), desto mehr fröne ich dem Eskapismus.
Eskapismus ist, kurz gesagt, die (aktiv gesuchte) Ablenkung durch Entertainment, um unangenehme Dinge zu verdrängen. Bewusstes Wegschauen wird zu recht kritisiert, schließlich ist es ein Privileg, sich nicht mit bestimmten Themen (etwa Rassismus) befassen zu müssen. Eskapismus ist nach meiner Auffassung allerdings etwas anderes. Man kann sich im Alltag intensiv mit politischen und gesellschaftlichen Ereignissen auseinandersetzen. Eskapismus kann dabei helfen, sich kurzfristig zu entlasten, aber er ist immer temporär.
Der Wunsch nach Eskapismus ist keine neue Erscheinung. Studien zeigen, dass die Kinosäle in den USA während der Depression voll waren („Die Zahl der Besucher*innen entsprach beinahe der Einwohneranzahl der Vereinigten Staaten“), während die Filme die Wirtschaftskrise so gut wie gar nicht thematisierten. Ähnlich sieht es heutzutage aus. Carolyn L. Todd schrieb auf Refinery29 über 2016, das Jahr, das sie als „worst year ever“ bezeichnet (wenn sie wüsste…) über ihre Erfahrungen mit Popkultur in jenem (zweifellos) furchtbarem Jahr, in dem sie durch Binge-Watching von Reality-TV-Serien abschalten konnte:
Shit zu sehen, der wirklich keinen Einfluss auf die Welt insgesamt hatte, war eine unterhaltsame Art, um abzuschalten. Aber es war mehr als nur das, ich habe entdeckt, dass dieser leichten Kost frönen die Beschäftigung mit dem seelenzerstörenden Zeug … handlebarer machte. In dem ich mich mein Gehirn immer mal wieder mit inszenierten Dramen und wirklich lustigen Catfights berieselte, half mir das, den Rest der Zeit die echten Nachrichten zu verfolgen – anstatt von allem so überwältigt zu sein, dass ich dichtmachte.
Ehre, wem Ehre gebührt: Tiger King
Tiger King ist eine Dokuserie, die ein grandioses Timing bewies, als sie am 20. März 2020, also genau zu dem Zeitpunkt, als in Europa und den USA die Pandemie endgültig angekommen war und ernstgenommen wurde, auf Netflix veröffentlicht wurde. Dank Inhalt, Figuren und Storytelling ist Tiger King mit seinen unzähligen Absurditäten eine perfekte Serie, die auch ohne Corona bestimmt genug Aufmerksamkeit bekommen hätte. Mit dem Aufruf jedoch, zu Hause zu bleiben, und mit dem Wunsch, sich von der harschen Realität abzulenken, ist es kein Wunder, dass Tiger King eine der am meisten gestreamten Netflix-Sendungen des Jahres 2020 war.
Wenig überraschend ist dabei, dass ein Großteil der Zuschauer:innen die Serie in den ersten zehn Tagen (34 Millionen, um genau zu sein) sahen. Denn hier wären wir wieder bei dem bereits erwähnten Punkt, dass Guilty Pleasure Menschen vereint: Dadurch, dass in den ersten Wochen der Pandemie im popkulturellen Bereich über nichts anderes als Tiger King geredet wurde, gab es eine Art Kollektiverfahrung, die vielen bis zu einem gewissen Punkt die Einsamkeit nahm, weil alle das Gleiche sahen und online darüber diskutierten.
Kein Platz für Coolness
Selbst diejenigen, denen anders als mir, ihre Guilty Pleasure peinlich sind, haben 2020 ein ganz neues Verhältnis zu Poptrash entwickelt. „Von ‚Tiger King‘ bis ‚Emily in Paris‘ – es gibt einige Dinge, die wir gebinget haben und die uns verzauberten, die wir zu einem anderen Zeiten vielleicht peinlich fänden, aber im Jahr 2020 macht es einfach Sinn und ist nichts, wofür man sich schämen muss. […] Es gibt schlimmere Formen der Bewältigung“, schrieb zum Beispiel Ende des Jahres Maddy Casale auf der Website Decider. Im selben Text weist sie außerdem darauf hin, dass die Konsument:innen jetzt viel mehr zu dem, was sie schauen, stehen: „Wir verstecken uns weniger hinter ironischer Abgeklärtheit oder bemühen uns, cool zu wirken. Im Jahr 2020 ist kein Platz für Coolness.“
Im Jahr 2021 auch nicht, denn das Tiger King-Phänomen geht weiter. Wohl noch nie zuvor hat eine Real Housewives-Staffel so viel Buzz erzeugt wie die „Real Housewives of Salt Lake City“, die seit dem 11. November 2020, also direkt nach der US-Wahlwoche, ausgestrahlt wird. Auch große Medien wie New York Magazine, Vulture oder Refinery29 widmen sich den „Real Housewives“. „If you haven’t started watching yet, what are you doing??”, fragt The Cut mit gleich zwei Fragezeichen, während Variety darauf verweist, dass gerade die Tatsache, dass „Salt Lake City“ noch vor dem Lockdown abgefilmt wurde, eine willkommene Abwechslung ist, „offering on-screen drama that feels blessedly distant from the problems many viewers are facing in their own“. Eskapismus at its best – wer hat derzeit schon Lust, sich in fiktiven (oder fiktionalisierten) Welten mit der Pandemie zu beschäftigen? Es ist im Gegenteil sogar beruhigend zu wissen, dass dieses allgegenwärtige Thema definitiv nicht zur Sprache kommen wird.
Wie wir sehen, haben Serien, Filme und Bücher, aber auch Videospiele oder Memes eine sehr wichtige Funktion für unser Wohlbefinden und Seelenheil, sind Ventil und Katharsis wie auch ein Mittel der Kommunikation.
Und wenn das kein gutes Argument ist, um diesen Text zu beenden, dann doch wohl das: Stacey Abrams, Politikerin und Aktivistin aus Georgia, die durch ihr unermüdliches Engagement dazu beigetragen hat, dass Georgia erstmals seit 1992 demokratisch gewählt hat, ist außerdem Buffy-Expertin und Autorin von Unterhaltungsromanen – der beste Beweis also, wie gut Popkultur und Politik Hand in Hand gehen können.
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