von Fabius Mayland
Tom Cruise begibt sich wieder vor unseren Augen in Lebensgefahr. Zuletzt, das war 2018 in Mission Impossible: Fallout, sprang er aus über 7.000 Metern Höhe aus einem Flugzeug, stürzte sich von Gebäuden und steuerte eigenhändig einen Helikopter — jetzt fliegt er einen Kampfjet, setzt sich g-Kräften aus, wie sie sonst nur Astronauten beim Wiedereintritt in die Atmosphäre oder Kunstflugpiloten kennen.
Seit Ende Mai läuft Top Gun: Maverick in den deutschen Kinos. Über den Film lässt sich sehr wenig und sehr viel sagen. Sehr wenig über Dinge wie Plot oder komplexe Charaktere: Tom Cruise’ Maverick aus dem ersten Film trainiert eine neue Generation Fliegerpilot*innen, um eine gefährliche Mission auszuführen. Das klingt und ist banal und trieft vor amerikanischem Patriotismus, wie es bereits der erste Top Gun Film von 1986 tat; die US-Marine unterstützte die Produktion damals tatkräftig und sah es als gute Investition an, denn nach der Veröffentlichung des Films stieg die Zahl junger Männer, die Marinepiloten werden wollten, enorm an. Auch beim Dreh des neuen Films half die Marine — man kann beide Filme also getrost in der Schublade “Propaganda” unterbringen und vergessen. Und den beeindruckend vielen Klischées kann man nur deswegen nicht böse sein, weil der Film sie so offensiv einsetzt, dass man das Augenzwinkern geradezu spüren kann. Aber es ist auch allerlei anderes interessant an diesem Film.
Es ist der letzte Hollywoodblockbuster, der noch vor der Covid-Pandemie fertig gedreht wurde und seitdem jahrelang auf eine günstige Veröffentlichungszeit wartete. Seit 2020 haben sich Streamingangebote und Nutzerzahlen vervielfacht; große Filmproduktionen wie Dune oder Wonderwoman 1984 gaben es irgendwann auf, auf das Ende der Pandemie zu warten, und wurden erstmals gleichzeitig in den Kinos und auf ausgewählten Streamingdiensten veröffentlicht. Dadurch entstanden ganz automatisch auch Debatten um “die Zukunft des Kinos” — werden die Filmpaläste jemals wieder so gefüllt sein, wie sie es vor Corona waren? Für Tom Cruise stand das nie zur Debatte: Top Gun: Maverick sollte auf der großen Leinwand bewundert werden. Nicht ohne Grund machte Cruise zuletzt im Dezember 2020 Schlagzeilen, als er beim Filmdreh des erst 2023 erscheinenden Mission Impossible: Dead Reckoning ein Crewmitglied anschnauzte, weil dieser Hygieneregeln missachtet hatte. „We are the gold standard”, hörte man Cruise auf geleakten Audioausschnitten, “They’re back there in Hollywood making movies right now because of us! Because they believe in us and what we’re doing”.Top Gun: Maverick ist in dieser Hinsicht ein für Hollywood nicht ganz unwichtiger Film: seine Veröffentlichung jetzt zu Sommerbeginn soll wohl auch die Frage beantworten, ob sich gigantische Blockbusterproduktionen, die für die Kinoleinwand prädestiniert sind, noch lohnen.
Authentizität als Marketing
Aber es ist auch die Figur des Tom Cruise, die mich interessiert. Und dafür lohnt es sich, sich auf die wirklich oberflächlichen Freuden seiner Filme aus den letzten zehn Jahren zu konzentrieren, nämlich eben auf die Bilder selbst, von denen Cruise sich wünscht, dass wir sie auf der großen Leinwand sehen. Dafür muss man wiederum darüber reden, dass Tom Cruise, wie eingangs erwähnt, von Gebäuden springt und eigenhändig Flugzeuge fliegt. Beim Dreh von Maverick konnte der Regisseur Joseph Kosinski beizeiten eine ganze Stunde lang nicht mit seinen Schauspieler*innen kommunizieren, denn sie waren in ihren Kampfjets, und flogen diese auch wirklich selbst. So wie die neue Generation an Pilot*innen im Film von Maverick trainiert werden musste, musste auch die neue Generation an Schauspieler*innen — Miles Teller, Glen Powell, Monica Barbaro — von Tom Cruise und dem Produktionsteam trainiert werden: sie mussten nicht nur lernen, Kampfjets zu fliegen, sondern auch, die Kameras selbst zu bedienen und die Lichtverhältnisse einzuschätzen, denn im Kampfjet ist kein Platz für ein Drehteam. Das Ergebnis sind Bewegtbilder, die — insbesondere auf der Kinoleinwand — tatsächlich überwältigend sein können. Sie wirken echter, realistischer, immersiver als selbst der teuerste digitale Spezialeffekt.
Oder zumindest bilde ich mir das ein — denn es ist unübersehbar Teil des Marketings, dass Tom Cruise und seine Kolleg*innen wirklich fliegen, ihre Körper tatsächlich diesen g-Kräften aussetzen. Wie die Bilder wirken würden, wenn ich das nicht bereits im vorhinein gewusst hätte, kann ich also gar nicht einschätzen. Ich möchte meinen, dass man den Unterschied auch so sehen würde — aber dieses Gefühl der Immersion ist unwiderbringlich der kombinierte Effekt von tatsächlichen Regieentscheidungen und der Marketingkampagne, um auf diese Regieentscheidungen aufmerksam zu machen. In jedem Werbeauftritt für seine Filme der letzten zehn Jahre redet Tom Cruise über seine waghalsigen Stunts, jeder Film schleppt making-of features mit sich, die man sich auf Youtube anschauen kann. Das war nicht immer so. Klar, Cruise war schon in vielen Filmen ein Actionheld. Aber seit Mission Impossible: Ghost Protocol (2011) konzentriert er sich stetig mehr darauf, Filme zu machen, in denen das Augenmerk darauf liegt, dass er als Schauspieler höchst komplizierte physische Stunts ausführt.
Auch die ersten beiden Mission Impossible Filme hatten bereits solche Stunts, aber nicht im heutigen Ausmaß. Und man kann diese Filme auch recht produktiv in der Manier der Auteur-Theorie lesen. Der erste Mission Impossible ist nicht nur ein Tom Cruise-Film, sondern auch ein Brian DePalma-Film. Der zweite Teil trägt in seinen tänzerischen Bewegungsabläufen die eindeutige Handschrift des Hong Kong Regisseurs John Woo, dessen Heroic Bloodshed Filme mit Chow Yun-Fat in den späten 1980ern weltweit bekannt wurden. Den dritten Film drehte J. J. Abrams, der als showrunner von Lost (2004-2010) und Regisseur mehrerer Star Trek und Star Wars Filme vielleicht weniger für audiovisuelle Regiezüge bekannt ist als für einen Fokus auf Plotentwicklung. Den vierten Teil, der eben genannte Ghost Protocol, wurde von Brad Bird gedreht, alle weiteren Filme von Christopher McQuarrie, zwei Regisseure, die man durchaus nicht abwertend als “handwerklich” begabt bezeichnen darf.
Diese Filme tragen daher nur noch teilweise die Schriftzüge eines bestimmten Regisseurs, sondern immer mehr die des Schauspieler-Produzenten Tom Cruise; in diese Filme reiht sich auch der von Joseph Kosinski gedrehte Maverick ein.
Cyborg mit Todestrieb
Was diese Filmen verbindet, ist eben ein Fokus auf versimilitude, auf eine höchstmögliche Realistik oder Plausibilität bei den Stunts. Enorm viele Actionfilme der frühen 2000er nutzten wacklige Kameraeinstellungen, schnelle Schnitte, oder digitale Effekte, um Schwächen bei der Stunt- und Actionarbeit möglichst unsichtbar zu machen — legendär ist die Szene, in der Liam Neeson in einem der Taken-Filme über einen Zaun klettert, eine Szene, in der sich zwanzig Schnitte auf gerade einmal sechs Sekunden verteilen. Brad Bird und Christopher McQuarrie konnten sich diesem Trend erfolgreich entziehen, Tom Cruise sei dank. Denn der klettert — natürlich mit gewissen Sicherheitsmaßnahmen, die dann doch digital entfernt werden müssen — einfach wirklich an den Außenwänden des weltweit höchsten Gebäudes entlang, hängt tatsächlich an einem abhebenden Flugzeug, fährt wirklich ein Motorrad im Gegenverkehr um den Pariser Arc de Triomphe. Freudianisch veranlagten Zuschauer*innen kommt möglicherweise das Wort Todestrieb in den Sinn.
Das macht diese Filme nicht unbedingt großartig, aber es macht sie einzigartig. Der einzige andere Darsteller, der sich für das Actionkino so verletzbar gemacht hat, dürfte wohl Jackie Chan sein, dessen Produktionen in den 80ern und 90ern im Abspann häufig Outtakes zeigten, in denen die Stunts daneben gingen — und Jackie sich den einen oder anderen Knochen brach. Aber auch dieser Vergleich hat seine Grenzen: in den Genrefilmen Jackie Chan’s (und auch seiner fast ebenso halsbrecherischen Kolleg*innen der 1980er und 1990er, Sammo Hung, Yuen Biao, oder Michelle Yeoh) geht es — nicht immer, aber häufig — um eine sehr direkte Körperlichkeit, um Faustkämpfe, die von schnellen Bewegungsabläufen geprägt sind. Was Tom Cruise hingegen besonders zu faszinieren scheint, ist, wenn man es so sagen möchte, der Mensch als Cyborg: auf dem Motorrad, im Flugzeug, mit Saugnäpfen an einem Wolkenkratzer. Die Bewegtbilder, die diese Filme mit so viel Realismus einfangen, handeln von Menschen, deren Grenzen von Maschinen getestet werden.
Auf diese Art von Szenen konzentrieren sich die Mission Impossible Filme mit jedem Titel stärker, zuletzt beinahe ausschließlich. Der Trailer des fünften Filmes, Rogue Nation, verkaufte 2015 noch ein Produkt, dass man auch als Agententhriller bezeichnen kann: es gibt irgendeine Mission, es geht um geheime Behörden und maximal-generisch benannte Terrorzellen (“das Syndikat”). Eine Kampfszene in der Wiener Staatsoper verbindet Action und high society Eleganz (Tom Cruise im Anzug, Rebecca Ferguson in einem gold-gelben Kleid), eine Szene, wie man sie auch in einem Bondfilm finden könnte. Erst die letzten 30 Sekunden des Trailers zeigen den eigentlichen moneyshot — Tom Cruise an einem startenden Flugzeug klebend. Mit Mission Impossible: Fallout (2018) erreicht das Projekt des Tom Cruise-Filmes seine vorerst finale Phase, zu der auch Top Gun: Maverick gehört und vermutlich die zwei (bereits fertig gedrehten) letzten Mission Impossible Filme gehören werden.
Die in Ghost Protocol und Rogue Nation noch vorhandenen Spionage-Gadgets und ausgeklügelten doppelten Spiele, die als Zuschauer*in auch ohne lebensgefährliche Stunts Spaß machen können, weichen in Fallout fast gänzlich den action set pieces, in denen Tom Cruise vor der Kamera mit seinem Leben spielt. Die Nebencharaktere, die sich durch die serielle Erzählstruktur ganz natürlich angehäuft haben — gespielt von Ving Rhames, Simon Pegg, Michelle Monaghan, und Alec Baldwin — besitzen keine Tiefe und auch kein eigenes Leben, sondern existieren eigentlich nur noch, um Tom Cruise (bzw. seinen Charakter Ethan Hunt, aber welchen Unterschied macht das hier noch?) anzufeuern oder darüber zu reden, wie toll er ist. Es bleibt hier vieles auf der Strecke, was man eigentlich von guten Filmen erwartet: Plot, Charakterentwicklung, womöglich gar eine Thematik, mit der der Film sich auseinandersetzen könnte. Was bleibt, sind die nur die Bilder selbst, die durchgehend saubere Cinematographie, die in den Actionszenen im Zusammenspiel mit der enormen Stuntarbeit eine spürbar in der “Realität” verankerte Kinetik produziert. Wenn es um die Frage geht, womit man Menschen am besten ins Kino, vor die IMAX-Leinwand locken kann, ist das vielleicht nicht die schlechteste Strategie der Bildproduktion.
Wiederbelebte Serien und Filme
Maverick hat diese Art der Bildproduktion mit den neuesten Mission Impossible Filmen gemein. Aber es ist auch ein Top Gun Sequel — nicht das neuste Modell einer regelmäßigen Serie, sondern die Wiederauferstehung einer Filmwelt, die zuletzt vor mehr als drei Jahrzehnten im Kino lief. Dementsprechend lässt sich der Film auch in der seit einigen Jahren besonders starken Tradition des revival lesen, von denen ich hier nur zwei aufgreifen möchte: Star Wars und Twin Peaks. Nachdem George Lucas vor zehn Jahren Star Wars an Disney verkauft hatte, wurden nach einer zehnjährigen Pause seit 2015 fast jährlich neue Star Wars Filme und TV-Serien produziert. Am anderen Ende des Mainstream-Arthouse Spektrums durfte Amerikas bekanntester Surrealist David Lynch mit seinem Schreibpartner Mark Frost die Serie Twin Peaks 2017 um eine dritte Staffel erweitern. (Und erst vor einem halben Jahr wurde HBO’s Kultserie Sex And The City mit dem Sequel And Just Like That… in die Gegenwart geholt, über das hier bereits geschrieben wurde.)
Die wohl interessanteste Gemeinsamkeit dieser ganz unterschiedlichen seriellen Werke ist ihr Fokus auf den Prozess des Alterns — des Alterns der Charaktere, der Darsteller*innen, der fiktiven Welten, und letztlich der Serien selbst. Dadurch erhalten die Werke eine offensichtliche Qualität der Selbstbeobachtung. Bei Star Wars äußert sich das allerdings teilweise in einer makabren Nicht-Auseinandersetzung mit dem Prozess des Alterns und Sterbens, wenn Schauspieler*innen wie Carrie Fisher, Peter Cushing, oder Mark Hamill mittels digitaler Spezialeffekte verjüngt oder gar nach ihrem Tode wiederbelebt werden.
Bei Twin Peaks: The Return sieht das anders aus. Weder Alter noch Tod werden hier versteckt. Catherine E. Coulson, die in der Serie die legendäre „Log Lady“ spielte, verstarb 2015 an Krebskomplikationen. Sie konnte jedoch mit David Lynch — die beiden kannten sich seit 1971 — noch einige Szenen in ihrem eigenen Zuhause drehen, in denen sie mit dem Polizisten Hawk telefoniert. Diese Szenen sind wohl das genaue Gegenteil von Disney’s Star Wars policy, alternde Gesichter einfach digital aufzupolieren. Coulson spricht langsam, mit einer Sauerstoffbrille, mit zitternder Hand und Stimme. In ihrer letzten Szene, in der fünfzehnten Folge, sagt sie, direkt in die Kamera, ihr Gesicht der einzige Fokalpunkt im Bild: “Hawk, I’m dying”. Coulson verstarb vier Tage nach dem Dreh der Szene. Die erste Folge von The Return ist ihr gewidmet; die fünfzehnte ihrem Charakter, der Log Lady. Es ist so, als würde die Serie sagen wollen: was hinter den Szenen passiert, der “meta-text”, ist längst unabdingbar Teil des Textes geworden, welchen Sinn würde es machen, diese Dinge zu verstecken?
Das (Nicht-)Altern auf der Leinwand
Nun also zurück zu Tom Cruise. In Top Gun: Maverick, gibt es genau eine Szene, in der das fortgeschrittene Alter eines zurückgekehrten Darstellers, ähnlich wie bei Twin Peaks, mit einer gewissen Offen- und Verletzbarkeit dargestellt wird: kurz vor Beginn des dritten Aktes spricht Cruise‘ Figur Maverick endlich mit seinem geliebten Feind aus dem ersten Film, dem von Val Kilmer gespielten Tom „Iceman“ Kazansky. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die beiden Charaktere nur über Handynachrichten kommuniziert, ähnlich wie Sarah Jessica Parker als Carrie Bradshaw es mit Samantha Jones in And Just Like That… tut. Die beiden treffen sich also; Iceman spricht jedoch weiterhin erstmal nicht mit seiner Stimme, sondern mit einem Text-To-Speech Programm auf seinem Computer. Erst ganz zum Schluss spricht er mit schwacher eigener Stimme, genau 27 Wörter (der Filmkritiker Vadim Rizov hat mitgezählt), um Maverick davon zu überzeugen, dass “es Zeit ist, loszulassen”. Was gilt es, loszulassen? Im Filmplot geht es um irgendetwas mit der neuen Generation, die Maverick trainieren muss. Aber das wirkt nebensächlich; Val Kilmer erhielt 2014 eine Kehlkopfkrebsdiagnose. Er ist laut eigener Angaben nach einer Chemotherapie und zwei Tracheotomien krebsfrei, doch seine ehemals markante Stimme ist für immer verändert. Auch diese Szene ist für den Film an sich nicht der Rede wert — die Ratschläge, die Maverick von Iceman erhält, gehen nicht über Platitüden hinaus —, sie lässt sich nur metatextuell verstehen. Diese Szene existiert nicht, weil sie uns etwas über die Beziehung von Tom Cruise‘ und Val Kilmers Charakteren sagen soll, sondern weil Val Kilmers Leben die Rolle des Iceman geradezu überkodiert.
Diese Szene liest sich also auf den ersten Blick zumindest ähnlich wie Catherine Coulsons Szenen in Twin Peaks: Alter und Krankheit werden hier frontal entwaffnend dargestellt. Nur: Maverick mag auf Icemans Ratschläge hören, Tom Cruise tut es nicht. Er lässt nicht los, im Gegenteil. Cruise ist zwischen dem Dreh von Top Gun und dem Dreh von Maverick logischerweise um genauso viele Tage gealtert wie Val Kilmer; er wird im Juli diesen Jahres 60. Aber mit Ausnahme des Dialogs mit Val Kilmer sagt Cruise mit jeder Sekunde dieses Filmes: Schaut her, ich bin noch nicht zu alt. Tatsächlich eskalieren die waghalsigen Stunts von Tom Cruise ja mit jedem Film der letzten Jahre weiter. Die von Ed Harris und Jon Hamm gespielten Admiräle sind der Meinung, Maverick/Tom Cruise sei ein Relikt vergangener Zeiten — ein Vorwurf, dem sich unter einem etwas anderen Vorzeichen die Figur des James Bond bereits 1995 von Judi Denchs M in James Bond: GoldenEye stellen musste. Den Rest des Filmes verbringen Maverick bzw. Cruise damit, diesen Vorwurf zu entkräften.
Das Relikt Maverick werde, so die Admiräle, nicht mehr gebraucht, weil unbemannten Drohnen die Rolle von Kampfjets übernehmen werden; Maverick straft die Admiräle lügen, indem er und die von ihm trainierten Nachwuchspilot*innen eine für unmöglich gehaltene Mission erfolgreich durchführen. Die Verdrehungen, die der Plot eingehen muss, damit das Sinn macht, sind enorm: dass der verfeindete “Schurkenstaat”, der Uran anreichern möchte und gleichzeitig höchst moderne Kampfjets hat, im Film namenlos bleibt, hat wohl weniger damit zu tun, dass man auf einem globalen Filmmarkt möglichst wenig Ländern vor den Kopf stoßen möchte — und eher damit, dass es einen solchen Staat nicht gibt. Die einzigen drei Länder, die Kampfjets der “fünften Generation” produzieren, sind China, Russland, und die USA selbst. Die chinesische Chengdu-J20 wird nicht exportiert, und von der russischen Suchoi Su-57 gibt es überhaupt erst drei. Alle drei Länder haben selbstverständlich bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert laufende Atomprogramme.
Der Plot macht für sich genommen also keinen Sinn. Also wieder auf die Metaebene: ist Tom Cruise selber das Relikt, in seiner Rolle des enorm populären Filmstars? Seit Top Gun galt Cruise über Jahrzehnte hinweg als ein „bankable star“, als ein Darsteller, der durch seine schiere Popularität einen Film profitabel machen konnte. Aber diese Abhängigkeit von Stars kann für Filme gefährlich sein, wenn die Stars plötzlich in der Öffentlichkeit in Verruf geraten — wenn sie zum Beispiel, außer sich vor Freude über ihre Liebesbeziehung mit Katie Holmes, auf der Couch von Oprah Winfrey rumhüpfen, wie es Tom Cruise 2005 tat. Cruise war hier auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Popularität; seine in diesen Jahren besonders sichtbare Lobbyarbeit für Scientology schädigte sein Ansehen über die nächsten Jahre — nicht zuletzt, weil diese Lobbyarbeit damit einherging, die von Scientology abgelehnten Antidepressiva und andere psychiatrischen Mittel und Methoden in höchstöffentlichen Diskussionen als “pseudowissenschaftlich” abzutun.
Der Star ist der Film
Die großen Produktionsfirmen Hollywoods haben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren viel daran gesetzt, die Macht von Starschauspieler*innen zu minimieren. Erreicht haben sie dies vor allem durch das sorgsame Schaffen und Hüten von Intellectual Property, also durch “geistiges Eigentum” in Form von Franchises, die ihnen, im Gegensatz zu eigenwilligen Schauspieler*innen, nicht abhanden kommen können. Von den zehn profitabelsten Schauspieler*innen sind, je nach Zählweise, acht oder neun Teil des Marvel Cinematic Universes. Es sind hier nicht mehr die Hollywood-Stars, die einen Film erfolgreich machen — sondern das geistige Eigentum “Star Wars” oder “Marvel”, das Schauspieler*innen erfolgreich macht. Die Erfolge dieser Franchises sind zu Beginn nicht garantiert — Iron Man, der erste Film des MCU, war 2008 durchaus ein finanzielles Risiko für das noch kleine Filmstudio von Marvel. Aber wenn ein Franchise einmal erfolgreich ist, wird es mitunter zu einem Selbstläufer, wobei jeder neue Titel nicht nur sekundäre Einnahmen erzeugt (Spielzeuge, Lizenzvergaben an Fastfoodketten oder Bekleidungshersteller), sondern auch als Werbung für den unweigerlich kommenden nächsten Film oder die nächste Streamingserie dient. Disney, welches sowohl Star Wars als auch das MCU besitzt, hätte überhaupt keinen Vorteil davon, Tom Cruise in eine dieser fiktiven Welten einzuladen, und viele mögliche Nachteile. Kein einziger Film von Tom Cruise hat auch nur annähernd so viel Geld eingenommen wie die erfolgreichsten Disneyproduktionen.
Aber auch Tom Cruise hat aus seinen Krisen in der Mitte der Nullerjahre gelernt. Er redet kaum noch über Scientology. Die überschwenglich-unkontrollierte Liebesfreude, die er auf dem Sofa von Oprah preisgab, wird man nie wieder zu sehen bekommen. Cruise bewirbt natürlich, wie alle Blockbusterdarsteller*innen es tun, jeden neuen Film auf dem Late Night-Circuit, bei Conan O’Brien (bis 2021), bei Jimmy Fallon, bei James Corden, in Großbritannien bei Graham Norton. Er ist bei diesen Auftritten stets höflich, auch irgendwie charmant, seine Zähne sind dank einem Hochleistungslächeln stets sichtbar — und man hat das Gefühl, absolut nichts über diesen Menschen zu erfahren. Es fühlt sich an wie eine pure Performance, die aber hinter sich nichts versteckt, die überhaupt keine Tiefe hat, in der etwas versteckt sein könnte. Das ist vielleicht das, was übrig bleibt, wenn ein Superstar von seinem Privatleben nichts mehr preisgeben kann.
Durch diese forcierte Distanz sind bestimmte Rollen in Filmen für Cruise nur noch schwer zugänglich. In den 80ern und 90ern konnte er noch eine mehr oder weniger glaubwürdige romantische oder gar erotische Figur abgeben, wie etwa in Jerry Maguire (1996). Aber die einer solchen Rolle innewohnenden Fantasie kann Cruise kaum verkörpern, wenn jeder weiß, dass Katie Holmes sich 2012 von ihm unter anderem scheiden ließ, um ihre gemeinsame Tochter vor Scientology zu beschützen. Andere Talkshowgäste tauschten sich mit Conan O’Brien auch schonmal darüber aus, wie sie ihre Kinder erziehen; Cruise kann das nicht. Er bringt lieber behind the scenes Aufnahmen seiner Filme mit, zeigt stolz, bei welcher Szene er sich den Fuß gebrochen hat. Seine im Nachhinein vielleicht vielsagendste Rolle ist die des amoralischen Profikillers Vincent in Collateral (2004): eine vollkommen professionalisierte Maschine, die genau so lange charmant-freundlich ist, wie es für den Job vorteilhaft erscheint. Um in der Rolle eines Profikillers überzeugend zu wirken, trainierte Cruise intensiv auf dem Schießstand; das Ergebnis beeindruckt bis heute sowohl Actionfans wie auch Waffennarren. Für den maskenhaften Charme, hinter dem sich eine gewaltige Amoralität verbirgt, musste Cruise vielleicht nicht so intensiv trainieren.
Allein auf der Großleinwand
Aber es gelingt ihm dank genau dieser work ethic, mit der er auf den Schießstand oder auf den Flugplatz geht, Filme zu produzieren, die niemand sonst produziert. Das heißt nicht, dass diese Filme perfekt oder auch nur großartig sind. Kein Film von Cruise ist wohl so gut wie die einzig ernsthafte Big-Budget-Stuntkonkurrenz der letzten Jahre, Mad Max: Fury Road. Denn George Miller hat 2015 nicht nur eine beeindruckende Autoderby gedreht, sondern ein in seiner Gesamtheit stimmiges Werk, in dem Plot, Charaktere, Kamera, Requisiten, Sound, und eben auch Stunts an einem Strang ziehen. Es gelingt weder den Mission Impossible Filmen, noch Top Gun: Maverick, derartiges zusammen zu bringen. Es sind Filme, die nicht über ihre Stärke hinauswachsen. Aber diese Stärke ist einzigartig. Fury Road ist auch ein Film über Mensch-Maschinen, der jedoch vor allem auf der horizontalen Ebene spielt (mit einer Eleganz, die man flapsig zusammenfassen kann: ein Autokonvoi fährt zwei Akte lang in die eine Richtung, dreht um, und fährt dann im dritten Akt zurück zum Ausgangspunkt). Die vertikale Dimension aber gehört fast ganz allein den Actionfilmen von Tom Cruise, mit Flugzeugen, Helikoptern, und Saugnäpfen.
Genau diese Einzigartigkeit von Tom Cruise verleiht Top Gun: Maverick eine letzte Ungereimtheit auf der Metaebene. Im Film soll Maverick eigentlich nur eine neue Generation trainieren. Letztlich muss er aber natürlich — das sieht ein derartig klischeebehafteter Plot so vor — die Jungspunde auch während der Mission selber anführen; die Staffelübergabe an eine neue Generation scheitert. In der Mission Impossible Serie ist es genauso: in Ghost Protocol stieß Jeremy Renner – nach dem Überraschungserfolg von Kathryn Bigelow’s The Hurt Locker (2008) kurzzeitig ein heißes asset – mit ziemlicher Sicherheit vor allem deswegen der Besetzung hinzu, um der Serie die Option auf einen neuen Hauptdarsteller zu geben, sollte Tom Cruise zur liability werden. Inzwischen ist Renner nicht einmal mehr Teil der Serie — zu viele Drehterminkonflikte durch seine Arbeit im Marvel Cinematic Universe —, während die Mission Impossible Filme vollkommen auf Cruise zugeschnitten sind. Tom Cruise kann diese Rollen an niemanden weitergeben, denn niemand außer ihm kann sie spielen, niemand außer ihm möchte sein Leben so leichtfertig für das Popcornkino aufs Spiel setzen. In Interviews gibt sich Cruise immer alle Mühe, seine Kollegen und Kolleginnen zu loben, und er meint dieses Lob vermutlich auch ernst. Aber wenn es in fünf Jahren noch einen Top Gun Film geben würde, wäre eigentlich nur ein Name ganz sicher dabei: Tom Cruise.
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