eine Erzählung von Berit Glanz
In den Timelines ist er das perfekte Phantom. Sollte er eines Tages aus dem Internet verschwinden, könnte ihn niemand wiederfinden. Wenn er seinen Nachbarn im Treppenhaus begegnet, möchte er manchmal rufen, dass er jemand ist im Internet, nicht nur der Mensch aus dem 2. Stock mit einer merkwürdig haarlosen Katze. Gelegentlich schaut sein Donskoy-Kater durch die halbgeöffnete Tür und er sieht, wie der Pizzabote ganz kurz das Gesicht verzieht. Wahrscheinlich hätte er sich auch kein Haustier angeschafft, das wie ein katzenförmiges Wiesel aussieht, aber nach dem Tod seiner Mutter brauchte der Kater ein neues Zuhause. Die erste Aktion, als er den Kater mit in seine Wohnung nahm, war ihn umzubenennen. Der lange Zuchttiernamen, der klang wie ein grotesker Adelstitel und den seine Mutter immer vollständig verwendete, hatte ihm nie gefallen. Dem Vorschlag einer ihm unbekannten Person aus dem Internet folgend, nannte er seinen Kater einfach Nano.
Hin und wieder teilt er Bilder von seinem Tier und freut sich, dass Nano bei den meisten Menschen nicht die üblichen Herzaugenemoji-Reaktionen auslöst, die Haustiere mit Fell regelmäßig verursachen. Stattdessen amüsieren sich seine Timeline, passend zum Vibe seines Accounts, über die Hässlichkeit des Katers. Gerade sitzt Nano auf seinem Fuß und für einen kurzen Moment überlegt er, ob er den nackten Kater als Profilbild nehmen soll, aber vermutlich ist das Tier mittlerweile auch zu bekannt.
Er sitzt vor dem geöffneten Computer und denkt nach. Jedes Mal, wenn er ein Bild für einen Avatar auswählen muss, gibt es diesen Zeitpunkt, an dem sich alles offen und möglich anfühlt. Nun liegt es an ihm, das unbeschriebene graue Feld dieses Profilbildes mit Inhalt zu füllen. Mit jedem Hochladen die Chance auf einen neuen Anfang, auf eine Veränderung seines virtuellen Egos. Nach all diesen Jahren im Internet, sollte ihn die simple Auswahl eines Profilfotos nicht mehr soviele Gedanken kosten – aber für diesen Account will er anonym bleiben, kann also nicht auf seinen üblichen Profilbild-Ordner zurückgreifen, mit dem er sich über die verschiedenen Plattformen hinweg eine Identität aufgebaut hat, die manche in den Timelines als ‘legendär’ bezeichnen.
Er hat von Anfang an immer das gleiche monochrome Profilbild verwendet, das vage Porträt eines Mannes mit Schnurrbart. Das Bild hat er vor Jahren einmal aus einer digitalisierten Zeitungsausgabe von 1972 herauskopiert und danach halbherzig bearbeitet, sodass es völlig verschwommen aussieht, eigentlich sind nur Schattierungen zu erkennen. Der Schnurrbart hat dafür gesorgt, dass ihn viele Menschen als männlich adressieren, obwohl er alle Informationen über seine reale Persönlichkeit geheim hält. Mit seinen immer wieder ins Absurde kippenden zynischen Alltagsbeschreibungen, ironischen Kommentaren zu aktueller Politik und surrealen Schilderungen menschlicher Handlungen aus der Perspektive von Ziegen, die über den Zaun eines Feldes schauen, hat er sich in den letzten zehn Jahren tausende Follower erarbeitet. Diese Follower versammeln sich begeistert unter seinen Statusmeldungen und kommentieren die Aussagen anderer mit uralten Screenshots seiner Posts, als würde es schon Content von ihm als Antwort auf alle möglichen Handlungsszenarien geben. Als hätte er für jede denkbare Situation schon einen kurzen Text formuliert.
Das von ihm mit legendären viralen Posts gefüllte Format der ironischen Fauxpology, bei dem er sich immer wieder leidenschaftlich für irrelevante Banalitäten entschuldigt, hat ihm sogar Buchvertragsangebote beschert, die er jedoch alle abgelehnt hat. Seine Anonymität ist ihm heilig und ein bisschen schämt er sich auch für die Agenturen, die verzweifelt versuchen, seinen Interneterfolg auf Papier zu bändigen. Er sieht seine Texte lieber in Screenshots als auf Papier.
Nun also ein neues Profilbild, ein neuer Name, eine neue Rolle. Er öffnet einen Tab, sucht in Google nach Wolkenbildern und screenshotet einen Bildausschnitt für das neue Profil. Vielleicht wird er eines Tages genauso auf diese kurzfristig ausgeschnittenen Wolkenfetzen festgenagelt werden, wie auf den Schnurrbartmann in seiner anderen Identität. Als sein Account fertig eingerichtet ist, betritt er den neuen Discord-Server, in dessen Channel man eine künstliche Intelligenz mit kurzen Texteingaben Bilder generieren lassen kann. Seit einigen Wochen sind die Timelines voll mit diesen von einem trainierten Computernetzwerk geschaffenen Inhalten. Er möchte die AI ausprobieren, ohne seine ersten Schritte mit seiner erfolgreichen Identität zu verknüpfen. Es ist einfacher, Dinge zu versuchen, ohne die Aufmerksamkeit, die sein Profilbild regelmäßig verursacht.
“draußen schreien krähen wie babys, während ich mit goldenenen wörtern ai porn generiere” tippt er in die Timeline, bevor er wieder in den Discord wechselt.
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Im ersten Augenblick ist er überfordert von der Masse an Bildern, die den Kanal füllen und während der permanenten Aktualisierungen über seinen Bildschirm fließen. Gerade hat er versucht, das Bild eines mit dem Planeten Erde gefüllten Bierglases genauer zu betrachten, schon sind wieder 27 neue Aufträge im Channel gepostet worden. Die künstliche Intelligenz lässt pausenlos Bilder entstehen und unzählige Menschen fütterten sie fortlaufend mit Prompts – ein ganzes Universum umherfliegender, in Jetzeit generierter Bilder.
Auf jeden Prompt, der in die Kanäle des Discord-Servers gepostet wird, antwortet die Maschine mit einem viergeteilten Bild. Die künstliche Intelligenz versucht die Eingaben, so verworren und merkwürdig sie auch sein mögen, in den vier neuen Bildern umzusetzen. Mit den generierten Vorschlägen kann man weiterarbeiten, Varianten erstellen oder alles noch einmal von vorne produzieren lassen. Die AI wiederholt sich nicht, jeder neue Versuch birgt weitere Überraschungen, Erfolge und Misserfolge. Tauchen einzelne Bilder in dem Kanal auf, dann hat sich jemand aus den Angeboten für genau dieses eine Bild entschieden und beschlossen, es in besserer Auflösung generieren zu lassen.
Ein kleines Schiff, fotorealistisch, im Weltraum durch Wolken aus buntem Gas fliegend; ein niedlicher Roboter im Häkellook; eine Lebensmittelpyramide in der alle Lebensmittel durch Legosteine ersetzt sind; ein 30 Jahre alter italienischer Mann vor einem Café in einer zufälligen Pose mit Bart und Brille, hyperdetailliert und mit Filmbeleuchtung; ein Hamburger aus Gold umringt von Pommes aus Edelsteinen; eine Cyberpunk Schlange, die unter Wasser lauert, während über ihr an der Wasseroberfläche ein Öltanker zu sehen ist, im Stil eines Renaissance Gemäldes; eine junge Frau in einem Feld mit schmutziger Schürze im Stil des 19. Jahrhunderts, antiker Look, Daguerreotypie, dramatisches Licht, Wolkenhimmel; das Aquarell eines verrottenden Blätterhaufens im prasselnden Regen; eine Barbie-Krähe und eine aus zusammengerollten Papierstreifen gelegte wütende Göttin im Stil von Klimt in Weitwinkelperspektive. Bilder und Worte und Bilder und Worte, die nicht alle Sinn für ihn ergeben, weswegen er zunächst “volumetric lighting” und die mysteriösen, das Format definierenden Zahlenangaben vom Ende vieler Prompts googeln muss.
Nach einer Weile des Beobachtens schreibt er /imagine “Bilder fliegen in Warp-Geschwindigkeit auf dich zu.” Er sieht wie in Klammern ein “waiting to start” hinter seinem Eingabebefehl erscheint. Er wartet. Während der Computer rechnet und rechnet, tauchen weitere Bilder im Channel auf, sodass er hochscrollen muss, um zu schauen, ob sein Textpropmpt vielleicht in der Bildermenge verschwunden ist. Dann sieht er die vier Bildvorschläge der AI: Bunte Streifen, die konzentrisch auf den Mittelpunkt zulaufen. In drei Bildern ist in der Mitte eine Art Raumschiff zu sehen und auf einem Bild ein Mensch mit langen Haaren, erschreckt geöffneten Augen und einer Mischung aus Kapuzenpullover und Raumanzug. Er zoomt in das Bild hinein, um zu schauen, ob die Figur ihm ähnlich sieht, aber es gibt kaum Gemeinsamkeiten. Vielleicht hat er zu viel von der AI erwartet.
Die nächste Stunde verbringt er im Discord und generiert ein Bild nach dem anderen. Nie zuvor hat er sich so sehr wie ein Magier gefühlt. Die absurdesten Gedanken aus den abgelegensten Windungen seines Gehirns manifestieren sich vor ihm in Bildform. Je abwegiger seine Idee, desto überraschender das Resultat. Wenn ihm eines der vier vorgeschlagenen Resultate besonders gut gefällt, lässt er wieder und wieder Variationen generieren. Die besten Resultate vergrößert er per Knopfdruck, ein Prozess, bei dem sich unzählige neue Details und Veränderungen aus dem Bild herauskristallisieren. Im Vergleich mit der hochskalierten Version sehen die initialen Varianten aus, wie grobe Entwürfe, unscharfe Möglichkeiten.
Er schreibt, dass sich die AI einen auf dem Fahrrad sitzenden Batman vorstellen soll, der auf der Route 66 radelt. Die entstandenen Fahrräder sind auf den ersten Blick überzeugend, aber bei genauerem Hinschauen fahren sie gruselig knapp neben der Realität: Überzählige Speichen, verbogene Lenkstangen und gedoppelte Sättel.
Die unmöglichen Fahrräder, mit denen Batman einen computerimaginierten Highway entlang radelt, erinnern ihn an die Extragliedmaßen und überzähligen Zähne, die immer wieder in den Bildern im Kanal auftauchen, wenn Aufnahmen von Menschen aus dem Datensatz herauskristallisiert werden sollen. Die Bilder sind wie Träume, plausibel mit der wirklichen Welt verbunden, aber doch so weit daneben, dass sie unvermittelt in die Unheimlichkeit kippen können, in eine Absurdität, die ihn gleichzeitig fasziniert und verunsichert. Segelschiffe mit fehlenden Masten oder Masten, an denen nur halbe Segel hängen. Unmöglich proportionierte Ohren, Menschen mit Sixpacks, die beim Nachzählen Vierzehnpacks sind, Tänzerinnen mit in der Pirouette verlorenen Oberschenkeln.
Er schreibt /imagine “The Uncanny Valley” und wartet. Uncanny Valley, das unheimliche Tal, ist der Begriff für den Punkt, an dem Menschen anfangen, künstlich erzeugte menschenähnliche Figuren als gruselig zu empfinden. Es gibt einen Bereich der Menschenähnlichkeit, die gleichzeitig zu nah am Lebendigen dran ist und doch zu weit von ihm entfernt. Erkennt die künstliche Intelligenz den Prompt als Suche nach dem Unheimlichen im Maschinellerzeugten oder wird sie einfach ein unheimliches Tal generieren, vielleicht gefüllt mit einem dunklen Wald und und Gewitterwolken am Himmel.
Als sich die Bilder materialisieren, ist er überrascht. Vier Porträts junger Menschen, mit schneeweißen Haaren und auffällig hellen Augen. Ein wenig sehen die generierten Figuren so aus, als wären die gruseligen Kinder aus dem Horrorfilm das Dorf der Verdammten zu jungen Erwachsenen herangewachsen. Ihre Gesichter sind starr, beinahe emotionslos, als wäre die morbide Ästhetik lebloser Frauenkörper von High Fashion Modeaufnahmen auf diese vollständig aus der Zeit gefallen Gesichter übertragen worden. Er generiert nochmal und nochmal und nochmal. Immer wieder erscheinen die Menschengesichter mit demselben wässrigen starren Blick und den weißen Haaren, die nicht alt wirken, sondern entfärbt. Wenn er die Bilder nebeneinander betrachtet, sehen die Figuren beinahe verwandt aus. Eine große Familie anthropomorpher Androiden aus dem unheimlichen Tal.
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Als sein Computer ihm die Meldung gibt, dass er mit den unzähligen offenen Tabs und Programmen den Arbeitsspeicher des Geräts überlastet hat, nimmt er das als Zeichen, schlafen zu gehen. Er ist müde, wird jedoch mitten in der Nacht von Nano geweckt, der auf seiner Brust steht und beinahe panisch zischt. Nachdem er ihn zur Seite geschoben hat, geht er auf die Toilette. Im Halbdunkel des Badezimmers beugt er sich vor, um einen Schluck Wasser aus dem Hahn zu nehmen. Als er hochschaut und sich im Spiegel ansieht, denkt er für einen Moment, dass in seinen Haaren eine weiße Strähne zu sehen ist. Sein Herz hämmert gegen seine Rippen, als er das Licht anmacht. Kurz ist er geblendet, aber sieht dann, dass seine Haare hellbraun wie gewöhnlich sind.
Er reibt sich seine Augen, vielleicht war er noch im Halbschlaf. Gründlich sucht er nach der Strähne, aber findet nichts. Als er die Badezimmerlampe wieder ausgeschaltet hat, schaut er nochmal zur Sicherheit in den Spiegel, doch die weißen Haare bleiben verschwunden. Wieder im Bett liegt er noch eine Weile wach, schaut in das dunkle Zimmer und fragt sich, ob es vielleicht unklug gewesen ist, vor dem Einschlafen Bilder zu generieren.
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Am nächsten Morgen, nach einer unruhigen Nacht, kocht er in der Küche Kaffee. Mit einem vollen Becher setzt er sich an seinen Computer. Während er sich in dem Discord umschaut und einige kleine, spielerische Aufwachprompts schreibt, werden um ihn herum Logos und Website-Mockups generiert – Arbeitsstimmung. Beinahe hat er ein schlechtes Gewissen, als er inmitten der vielen professionellen Eingaben ein Propagandaposter für Einräder entwerfen lässt.
Er scrollt durch den Kanal und lässt sich von den Prompts der anderen inspirieren: im Stil von Giuseppe Arcimboldo, wie ein Gemälde von Vermeer, im Stil eines Pfadfinder Aufnähers, als Plastilinfigur, im Stil eines Ölgemäldes von Francis Bacon. Manchmal fühlt er sich beinahe wie ein Dieb, wenn er direkt Teile der Eingaben für seine eigene Bildroduktion übernimmt und manchmal sieht er, wie gute Ideen von anderen übernommen und weitergeführt werden. Er ist Teil eines riesigen Netzes aus Sprache, das gemeinsam Bilder hervorbringt. Am frühen Nachmittag merkt er, dass er seit Stunden nichts gegessen hat und macht sich eine Schale Cornflakes.
Während er isst, schaut er weiter in den Channel. Vor ihm entsteht das Bild eines Batmans, im Stil von Edward Hopper, der im Fernsehen einen Tierfilm schaut. Der gezeichnete Batman hockt in einem Midcentury-Ambiente vor dem Fernseher und schaut einen merkwürdig verformten Elefanten an. Die Einsamkeit des Superhelden vor dem Bildschirm fasziniert ihn so, dass er den Prompt erweitert und Batman auch eine Schale Cornflakes essen lässt.
Kurz nachdem das Resultat aufgetaucht ist, favt ein Account namens @Yeikiyoo seinen Cornflakes-Batman und lässt direkt darauf Varianten von allen vier Bildvorschlägen erstellen. Er favt alle Varianten. Für eine Weile generieren sie abwechselnd Bilder von immer neuen Batman-Situationen in unterschiedlichen Stilen und mit unterschiedlichen Settings. Manchmal fühlt es sich so an, als würde er jetzt nicht nur im Austausch mit einer Maschine Bilder erstellen, sondern in Zusammenarbeit mit einem Gegenüber, das fast genauso wenig greifbar ist wie die Software.
Als er sieht, wie @Yeikiyoo eines der zuvor erstellten Batmanbilder selbst als Prompt für die Künstliche Intelligenz einsetzt und mit einer Texteingabe kombiniert, sodass der Cornflakes-Batman in einen Screenshot aus einem Wes Anderson Film umgebaut wird, fühlt er sich wie das Gehirnexplosionsemoji.
Er kann die künstliche Intelligenz mit Bildern füttern und mit Text dazu auffordern, diese zu verändern. Sofort lässt er eine Mona Lisa im Stil von Jackson Pollock entstehen, vermischt Van Goghs Sternennacht mit Star Wars Soldaten und verwandelt Spitzenpolitiker in Waschbären, Unterwasserroboter und Schnitzfiguren. Als es an der Tür klingelt, fällt es ihm schwer, sich von seinem Computer zu trennen. Er öffnet und schaut in den Hausflur, als ein junger Mann mit seinen Einkäufen die Treppe hinaufschnauft.
Während er die angenommenen Tüten hinter sich abstellt und in seinem Geldbeutel schaut, ob er noch Münzen für ein Trinkgeld hat, sagt der Lieferbote: “Die weißen Haare passen wirklich perfekt zu dem weißen Kleid. Das ist schon gefärbt, oder?” Ihm rutscht der Geldbeutel aus der Hand, auf dem Boden liegt sein ganzes Kleingeld. Er sammelt die großen Münzen zusammen, murmelt “ja ja gefärbt”, drückt dem Mann das Geld in die Hand, schließt die Tür und läuft ins Badezimmer. Lange weiße Haare rahmen sein Gesicht. Er beugt sich vor und schaut sich im Spiegel an. Er weiß nicht, ob er vor Schreck so bleich ist oder ob er auch seine Wangen an Farbe verloren hat. Einatmen. Ausatmen. Die Haare im Spiegel bleiben weiß. Er setzt sich auf den Fußboden. Nano kommt und streicht um seine angewinkelten Beine. Nach einer Weile steht er auf, sein Körper bewegt sich wie in einem Traum, die Bewegungen weich und substanzlos, als wäre er nur eine Vorstellung. Er schaut in den Spiegel. Seine Haare sind braun.
Vielleicht hat er Hunger oder Durst. Vielleicht hat er nicht genug geschlafen. Vielleicht träumt er gerade und ist noch nicht richtig wach geworden. Er öffnet einen Erdbeerjoghurt. Der säuerlich-süße Geschmack in seinem Mund fühlt sich wirklich an. Er kneift sich in die Wange, lacht dann über sich selbst, denn vermutlich würde auch ein Traumkneifen Schmerz verursachen. Warum denken Menschen, dass man sich Schmerz und Leid nicht erträumen könnte? In der schwachen Spiegelung seines Edelstahlkühlschranks sehen seine langen braunen Haare wie immer aus.
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Während er die Haare zu einem Zopf zusammenbindet, geht er zurück an den Computer. “alle meine farben sind in die trainingsdaten geflossen” schreibt er in die Timeline. Die sofort auftauchenden Herzen kommen ihm real vor. Er hat noch nie davon geträumt, gefavt zu werden. In dem Discord erscheinen Bilder von Wohnzimmern, die mit dem Ozean verschmelzen, von Sektflaschen, die mit der Milchstraße gefüllt sind und die surrealen Bilder beruhigen ihn. Er schreibt /imagine “beruhigende Bilder” und fragt sich, welchen Zweck manche der Bilder in dem Kanal für die Menschen hatten, die sie generierten. Vermutlich verwendet nicht nur er die künstliche Intelligenz dazu, seine Gefühle in den Griff zu bekommen.
Auf dem Bildschirm erscheinen glatte Wasserflächen, in denen sich Bäume spiegeln, deren Äste merkwürdig aussehen, als er in das Bild hineinzoomt. Er schreibt /imagine “beruhigende Bilder von der Absurdität der Dinge”, aber die Resultate – eine Frau mit einer Schale Eiscreme auf dem Kopf und ein blauer Bus unter einem Eiscremehimmel – gefallen ihm nicht. Wieso denkt die Künstliche Intelligenz bei Absurdität an gigantisches Speiseeis? Vielleicht sollte er lieber Katzenbilder oder Tierbabys generieren. Die im Internet allgemein akzeptierten Beruhigungsbilder niedlicher Tiere würden vielleicht mehr helfen. Nano springt auf den Schreibtisch und schaut ihn an. Er fragt sich kurz, ob auf dem Rücken des Katers weißes Fell wächst, aber bei genauerem Hinschauen ist er genauso nackt und hässlich wie immer.
Er lässt die künstliche Intelligenz auf Basis eines Bildes von Nano eine Katze mit weißem Fell generieren. Für einen Moment hat er das Gefühl, dass sein Kater ihn protestierend anschaut. Die generierten Katzen sehen aus wie Werbetiere, keine Spur von der rosigen Nackheit seines Katers. Ihre Augen leuchten silbrig-blau und sehen im Vergleich zu den blassgrünen Augen des Katers, der neben seiner Tastatur sitzt, unnatürlich aus.
Er beschließt, das Profilbild seiner Erfolgsidentität mit einem Bild von Nano zu vermischen und das Ganze im Stil einer Aquarellmalerei generieren zu lassen. Heraus kommen vier merkwürdig verwaschene Versionen einer Katze mit Schnurrbart, als hätte man ein Aquarellbild noch zweimal in Wasser getränkt und nur die Spuren wären übrig geblieben. Er gibt sein Profilbild als Prompt ein und bittet die künstliche Intelligenz aus dem verschwommenen Schnurrbartgesicht einen fotorealistischen Menschen zu generieren. Nach wenigen Sekunden schauen ihn plötzlich vier Menschenvariationen mit dem starren Gesicht der Figuren aus dem unheimlichen Tal an.
Er dreht sich um, als er hinter sich ein Kratzen hört. Sein Kater sitzt auf dem Regal an der anderen Seite des Zimmer. Es sieht so aus, als würden sich die Farben aus seinem Zimmer langsam auflösen. Als wäre sein Raum in ein Wasserglas getaucht. Die Lichtbrechungen stimmen nicht mehr, die Farben wirken schlierig. Nanos nackter Katzenkörper reflektiert das Licht einer ihm unbekannten Quelle, als würde an einer Ecke der Zimmerdecke die Sonne durch die Wasseroberfläche brechen. Der Kater schaut auf. Seine Augen funkeln silbern, als wären LEDs hinter der Katzeniris installiert.
Der Raum beginnt sich zu drehen. Er schaut auf seine Hände, auf seinen Körper. Durch seine Hand kann er ganz plötzlich das Licht des Zimmerfensters sehen. Gab es an dieser Wand überhaupt ein Fenster? Mit zitternden Händen reißt er sich ein Haar aus. Im Licht seines Bildschirms leuchtet es weiß. Sein Kleid klebt plötzlich an seinem Körper, Schweiß oder Wasser, er weiß es nicht, seine Sensoren stimmen nicht mehr, sonst würde er merken, dass seine weißen Haare sich hinter ihm wie ein Segel im Wind bewegen.
In dem Kanal werden auch ohne sein Zutun immer weitere Bilder generiert, aber jetzt hat er das Gefühl, dass alle Bildern aus dem unheimlichen Tal zu ihm schauen, weiße Haare, silberne Augen, selbst das Bild eines freundlichen Koalas in einem Meer aus Gummienten wirkt merkwürdig farblos auf ihn. Das Gelb der Enten verblichen, die Augen des niedlichen Tieres silbrig.
Sein Herz hat aufgehört zu hämmern und für einen Moment fragt er sich, ob er sich einen neuen Herzschlag generieren könnte. Mit weichen Gelenken fließen seine Finger über die Tastatur, die sich unter seinen Händen anfühlt wie Flusskiesel. Nano maunzt und springt auf seinen Schoß, der nackte Katzenkörper plötzlich von weißem Fell bedeckt, wie eine Werbekatze, denkt er und streichelt ihn glücklich mit einer Hand, mit der anderen tippt er /imagine und lässt die Maschine ein Bild von ihm als Schurrbartmann im unheimlichen Tal generieren. Ganz langsam manifestieren sich vier Bilder aus der Diffusion.