von Simon Sahner
Die Vermittlung und Einordung von Kultur ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Wer das kulturelle Geschehen analysiert, bespricht und ordnet, muss sich dieser Verantwortung bewusst sein. Es ist eine Aufgabe, die Fingerspitzengefühl erfordert und die Fähigkeit, differenziert, empathisch, kritisch und sorgfältig über die Themen zu sprechen, die eine Gesellschaft bewegen und über die in einer Gesellschaft diskutiert wird.
“Frauen wurden hart wegvergewaltigt in der Urmenschenzeit und überlebt haben die, die den Gendefekt hatten “Meine Vagina wird feucht”, weil sie eben keine inneren Verletzungen bekommen haben, beim Geschlechtsverkehr.”
(Thilo Mischke am 25.03.2019, Uncovered, Folge 14: Feminismus = First World Problem?)
Eine Sendung, die sich dieser Aufgabe angenommen hat, ist titel thesen temperamente (ttt), ein bereits seit 1967 bestehendes Kulturmagazin der ARD. Ab dem Jahr 2006 war Max Moor einer der beiden Moderator*innen, seit 2021 stand ihm Siham El-Maimouni im Wechsel zur Seite. Im kommenden Jahr soll nun der Journalist Thilo Mischke die Position von Moor übernehmen und abwechselnd mit El-Maimouni durch die Sendung führen. Außerdem soll er – ebenfalls für die ARD – einen an die ttt-Redaktion angedockten Kulturpodcast mit der Podcasterin Jule Lobo moderieren.
“Warum sehen wir uns eigentlich immer nur Berliner Hintern an? Ich meine, es gibt doch noch viel mehr Frauen auf dieser Welt! Wie geil wäre es eigentlich, wenn man eine Weltreise macht, also sich einmal um den Globus vögelt, bis man Ruhe findet, bis man nicht mehr nachts wie bescheuert im Magnet herumsteht, um viel zu jungen Frauen auf den Arsch zu stieren?”
(Thilo Mischke, In 80 Frauen um die Welt, riva Verlag, S. 7)
Deutliche Kritik an Besetzung
Seit mehreren Tagen wird diese Personalentscheidung für Mischke von vielen Menschen aus dem Kulturbetrieb kritisiert. Autor*innen wie Berit Glanz (Redaktionsmitglied bei 54books), Mareike Fallwickl, Nicole Seifert, Mareice Kaiser, Alena Schröder und Till Raether; Journalist*innen wie Andrea Diener, Isabella Caldart und Ann-Kathrin Büüsker; und viele weitere Menschen aus dem Kultur- und Literaturbetrieb wie Magda Birkmann, Dax Werner, Moritz Hürtgen und Joris Wiese äußerten in den Sozialen Medien Kritik und untermauerten sie mit Zitaten aus den Büchern und Podcasts des angehenden Moderators. Annika Brockschmidt und Rebekka Endler ordneten diese Kritik und analysierten und sammelten die Quellen in ihrem Podcast Feminist Shelf Control im Gespräch mit Anja Rützel und Isabella Caldart. Die Kritik ist umfassend und deutlich. Sie wirft Thilo Mischke vor allem vor, mit seinen Texten und Aussagen in Podcasts sexistische und misogyne Stereotype zu unterstützen und damit zu einer Vergewaltigungskultur / Rape Culture beizutragen. Diese allumfassende Kultur der Frauenverachtung und Misogynie führt in Folge zu den vielfachen Fällen sexualisierter Gewalt, besonders aufsehenserregend waren in den letzten Monaten der Fall Gisèle Pelicot und die Strg-F-Recherche zu Vergewaltigernetzwerken auf Telegram. Mischke war bisher vor allem als Investigativjournalist bekannt, der unter anderem durch etwas reißerische Dokumentationen für Pro7 auffiel, zum Beispiel über Rechtsextremisms oder Deutsche als Kämpfer für oder gegen den sogenannten Islamischen Staat. Außerdem hat er seit 2018 einen Podcast unter dem Titel Alles muss raus (zuvor Uncovered).
In der Tradition des Gonzo-Journalismus
Ein Thema, das seine Laufbahn von Beginn an durchzieht, ist Sexualität. Damit erlangte Mischke auch 2010 das erste Mal größere Aufmerksamkeit, nämlich mit dem als Sachbuch vermarkteten Titel In 80 Frauen um die Welt, in dem ein Erzähler namens Thilo Mischke mit seinen Freunden die Wette eingeht, mit 80 Frauen aus aller Welt Sex zu haben. Der Text versteht sich als provokante Reisereportage in der Tradition des Gonzo-Journalismus, eine radikal subjektive Form des Pseudojournalismus, der auf Grundlage wahrer Ereignisse mit Übertreibungen arbeitet. Gonzo-Journalismus zieht seinen Reiz vor allem aus der suggerierten Authentizität und einer provokant drastischen Perspektive der Autor*innen. Es bleibt auch bei Mischke stets im Unklaren, was wirklich geschehen, was erfunden und was übertrieben ist. Seit seinem Erscheinen wurde das Buch mehrfach für seine sexistische Sprache, die Objektifizierung von Frauen zur Lustbefriedigung, für seinen kolonialistischen Rassismus und für die Beschreibung übergriffiger Handlungen und Fantasien kritisiert.
“Was hatte ich nicht für abstruse Ideen, wie ich untermauern könnte, dass ich Sex hatte. Von Lackmusstreifen, die ich in ein Buch einklebe, mit verschiedenen PH-Werten und Namen daneben, bis zu Excel Tabellen, die einen Körper so genau beschreiben, dass ich es mir nicht hätte ausdenken können. Ich wollte Fingerabdrücke nehmen, heimlich Nacktfotos machen, Tonbandaufnahmen vom jeweiligen Sex. Alles unpraktisch, alles viel zu grob, dachte ich immer.”
(Thilo Mischke, In 80 Frauen um die Welt, riva-Verlag, S. 18)
Mischke hat sich im Kontext dieser Kritik verteidigt, indem er behauptete, nicht für den Buchtitel verantwortlich zu sein und eine zweite Auflage habe verhindern wollen. Außerdem habe es damals, als das Buch erschien, noch keine Seximusmusdebatte gegeben, behauptete er am 30. März 2021 in einer Folge seines Podcasts. Gleichzeitig legte er im Gespräch mit der Kolumnistin Nadine Primo im März 2021 zum Thema “In 80 Meinungen um die Welt. Kann Sexismus verziehen werden?” Wert darauf, dass das Buch selbst kein Fehler gewesen sei, lediglich der Titel. In einem Gespräch mit der Autorin Helene Hegemann bezeichnet er den Text noch in diesem Jahr (2024) als Vorstufe für seine Investigativrecherchen. Es ist ein seltsames Dickicht aus Selbstverteidigung, Verächtlichmachung von Kritik und Selbstwiderspruch, in das Mischke sich in der Auseinandersetzung mit dem Buch verstrickt hat.
Ein fragwürdiger Umgang mit Sexualität
Es ist jedoch nicht einfach ein Buch, das dieser Medienschaffende vor über einem Jahrzehnt geschrieben hat, das jetzt die Kritik an seiner Besetzung als Moderator anfacht. Es ist der mit zahlreichen Zitaten und Ausschnitten untermauerte Eindruck, dass Mischke einen, vorsichtig gesagt, fragwürdigen Umgang mit dem Thema Sexualität hat. Diese Spuren finden sich in seinem gesamten Schaffen aus den vergangenen 15 Jahren. Da gibt es weitere Bücher, zum Beispiel unter dem Titel Die Frau fürs Leben braucht keinen großen Busen (2013), eine GQ-Kolumne, in der es immer wieder um Sex geht, die Jolie-Kolumne Fikipedia, die zweiteilige Pro7-Doku Unter fremden Decken – Auf der Suche nach dem besten Sex der Welt und diverse Folgen seines Podcasts.
Sexualität ist in diesen Büchern, Dokumentationen und Podcasts vor allem die Lustbefriedigung des Mannes, der aufgrund seines überbordenden Sexualtriebes immer und überall nach der nächsten Gelegenheit zum Sex sucht. Teilweise wird diese sehr heteronormative und sexistische Perspektive ergänzt um kolonalistisch-rassistische Betrachtungen von Sexualität und Frauen in aller Welt und ihre jeweiligen angeblichen Besonderheiten. Dafür erhielt Mischke auch vor der aktuellen Kritikwelle immer wieder Gegenwind. In einer Folge seines Uncovered-Podcasts äußerte er sich zu dieser Kritik und dem Thema Feminismus im Gespräch mit Caroline Rosales im März 2019. Hier verstieg sich Mischke zu der These, dass die männliche Sexualität evolutionär auf Vergewaltigung basiere. Frauen würden deshalb bei sexueller Erregung “feucht” werden, weil die Evolution diesen “Gendefekt” begünstigt habe, damit Frauen bei einer Vergewaltigung nicht verletzt würden und verbluteten. Erst das Christentum habe diesen Urzustand befrieden können. Das ist natürlich in vielerlei Hinsicht Humbug, blieb aber im Podcast selbst weitgehend unwidersprochen.
Man könnte diese Materialsammlung als Grundlage der Kritik noch weiterführen, und viele Menschen tun genau das, beispielsweise auf Bluesky oder Instagram. Selbst wenn man all diese Zitate als unbedachte Äußerungen abtut und behauptet, Mischke würde das ja alles nicht so meinen, bleibt die unbestreitbare Tatsache, dass hier jemand über anspruchsvolle Themen spricht, der offenbar nicht dazu in der Lage ist, dies differenziert, sensibel und mit dem entsprechenden Verantwortungsbewusstsein zu tun. Das wäre aber die absolut grundlegende Voraussetzung für die Moderation eines Kulturmagazins, das sich immer wieder auch mit Themen wie sexualisierter Gewalt, Diskriminierung und Misogynie auseinandersetzt.
Die Schutzbehauptung Fiktionalität
In einer Stellungnahme der ttt-Redaktion auf Instagram heißt es, Mischke habe sich von seinem Buch distanziert, sich selbstkritisch damit auseinandergesetzt und dafür entschuldigt. Angesichts der hier dargestellten Quellen klingt diese Behauptung mindestens unglaubwürdig. Die Zitate zu Vergewaltigung aus dem Podcast seien aus dem Zusammenhang gerissen, wird Mischke in dem Statement der Redaktion zitiert. Das ist nicht nur falsch, es ignoriert auch die unbestreitbar grobe Wortwahl (“wegvergewaltigt”). Vor allem reiht sich diese Behauptung ungut in die Tradition ein, insbesondere Frauen, ihre Erlebnisse und Eindrücke kleinzureden und abzusprechen. Sie würden sich sexistische Vorfälle, Aussagen und andere Tatsachen nur einbilden, heißt es immer wieder. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Vorwürfen ist die Antwort der ttt-Redaktion jedenfalls nicht. Die Autorin Berit Glanz hat auf eine Beschwerde an die ARD die Antwort bekommen, es handele sich bei dem Buch In 80 Frauen um die Welt um einen “fiktionalen Titel”, nichts davon habe “tatsächlich stattgefunden – außer einer Recherchereise, in der er (Mischke) die Orte, die er in dem Roman beschreibt, bereist hat.”
Die Verteidigung, dass ein Text fiktional sei und deswegen nicht für seine wie auch immer kritikwürdigen Aussagen kritisiert werden könne, ist inzwischen ein peinliches Klischee dieser Art von Debatten. Das Buch von Mischke behauptet an keiner Stelle, ein Roman zu sein, je nach Auflage prangt ein Foto des Autors auf dem Cover und das sprechende Ich im Text heißt Thilo Mischke. Der Titel erschien zudem im riva-Verlag, ein Verlag, der normalerweise keine Romane oder fiktionalen Texte im Programm hat. In einem Video-Beitrag von Focus wird der Autor zudem damit zitiert, das Beschriebene sei zu “95 Prozent wahr”. Natürlich ist nicht davon auszugehen, dass jede Szene, die im Buch beschrieben ist, genau so stattgefunden hat. Das spielt aber für die hier relevante Bewertung des Textes im Kontext von Fiktionalität und Faktualität nur eine untergeordnete Rolle. Auch faktuale Texte können unter bestimmten Umständen erfundene Szenen aufweisen. Entscheidend ist hier die Frage, welche Signale ein Text und sein*e Verfasser*in aussenden und was sie damit erreichen wollen.
Der Autor Thilo Mischke arbeitete schon 2010 als Journalist für Magazine wie VICE und Neon, die unter anderem bekannt für subjektive, literarische und teils provokante Reportagen in Gonzo-Tradition waren. Das Buch präsentiert sich in seiner Aufmachung als Fortführung dieser Arbeit. Im Klappentext heißt es:
“Es ist eine unglaubliche Wette mit seinen Freunden: Verführt er auf seiner Weltreise 80 Frauen, zahlen sie ihm den gesamten Trip. Thilo Mischke reist durch Polen, die Ukraine, Israel, Indien, Thailand, Hongkong, Dubai, nach Japan, Australien, Fidschi, Neuseeland, Argentinien und Brasilien. Er trifft Inkognitonutten, Vorhauthasserinnen, eine selbstmörderische Finnin aus Hongkong, rohes Pferdefleisch essende Japanerinnen und diebische Favelafrauen.”
Der Text zieht seine Legitimation daraus, dass der Verfasser Thilo Mischke als draufgängerischer Womanizer und tollkühner Sex-Reporter auftritt. Würde man davon ausgehen, dass all das Fiktion ist und nichts mit der Person Thilo Mischke zu tun hat, und das auch im Paratext so kommunizieren, würde der Text seine stärksten Verkaufsargumente verlieren: Authentizität und Provokation. Dass der Autor nicht jedes Detail so erlebt hat und übertreibt, ist Teil der Vereinbarung, die der Text mit seinem Publikum eingeht. Die Leser*innen wissen nicht genau, was sich wirklich zugetragen hat. Der Reiz des Buches ist genau diese Spannung, als Leser*in nie genau zu wissen, ob die krassen Beschreibungen so geschehen oder nur erfunden sind. Das Buch ist damit ein hybrider Text, der faktual und authentisch auftritt, Vermutungen über erfundene Anteile zulässt, ohne sie zu verifizieren und von dieser Spannung lebt. Ein fiktionaler Text ist es nicht, ein Roman schon gar nicht.
Warum er?
Was bleibt nun aber als Erkenntnis von dieser Kritik, diesen Zitaten, diesen Verteidigungen und Rechtfertigungen? Es bleibt vor allem der Eindruck, dass die entscheidenden Kriterien für die Besetzung der Moderation von Kulturmagazin und Podcast performative Lockerheit und ein unbedarfter Zugang zu Kultur waren. Das gibt Mischke in einem Trailer auch zu: “Mein Kulturbegriff ist nämlich ein sehr unterkomplexer“ sagt er da. Die Frage, ob der ausgewählte Moderator in der Lage ist, anspruchsvolle Themen mit der geforderten Sensibilität – im Zugang und in der Sprache – zu behandeln, hat anscheinend keine Rolle gespielt. Die Behauptung der ttt-Redaktion, Mischke habe “seine Kompetenz als Journalist und Reporter vielfach unter Beweis gestellt”, ist zumindest diskutabel. Zu journalistischer Kompetenz gehört auch der verantwortungsvolle Umgang mit komplexen Themen und das Prüfen von Quellen und Thesen (“Frauen wurden hart wegvergewaltigt in der Urmenschenzeit und überlebt haben die, die den Gendefekt hatten ‘Meine Vagina wird feucht’”). Wagemut und die Lust an herausfordernden Themen, wie Mischke sie in seinen Reportagen bewiesen hat, sind ohne Frage journalistisch relevante Eigenschaften, ausreichend für verantwortungsbewussten Journalismus sind sie allerdings allein nicht.
Konsequenzen dieser Wahl
Sollte Mischke auch nach dieser breit vorgetragenen Kritik ab 2025 als Moderator von titel thesen temperamente auftreten, werden sich viele Menschen, die sich in Büchern, Dokumentationen, Podcasts und anderen Kulturmedien zu Themen äußern, die Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein erfordern, sehr genau überlegen, ob sie einer Einladung in die Sendung folgen. Wie soll eine Person, die selbst sexualisierte Gewalt erfahren, übergriffige Anmachen erlebt hat oder anders sexistisch behandelt wurde, sich darauf verlassen, dass ihr Buch, ihr Film, ihr Podcast in der Sendung mit dem nötigen Feingefühl präsentiert, besprochen und eingeordnet wird?
Wir haben in den letzten Jahren viele Debatten über Rape Culture, sexualisierte Gewalt und übergriffiges Verhalten geführt. Fälle wie die Vergewaltigung und der Missbrauch von Giséle Pelicot und die Recherchen zu Vergewaltigungsgruppen auf Telegram durch Strg F zeigen, wie wichtig, herausfordernd, schmerzhaft und anspruchsvoll diese Debatten sind. Dazu braucht es verantwortungsvolle, sensible und informierte Kulturjournalist*innen, von denen es einige gibt. Eine*r von ihnen hätte ttt ab nächstem Jahr zusammen mit Siham El-Maimouni moderieren können.
Anmerkung: Dieser Text basiert unter anderem auf der Recherchearbeit unzähliger Personen, die in den Tagen vor Weihnachten unermüdlich zwischen Care-Arbeit, Zugfahrten, Kinderbetreuung und Festvorbereitungen die Zeit aufgebracht haben, die sie wahrscheinlich lieber mit Familie und/oder Freund*innen verbracht hätten. Manche wurden hier namentlich genannt, aber allen ist zu danken.
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Foto von Sindy Süßengut