von John Reiter
Ein Film-Opening. Wellen spülen an den Strand, Dünen, Strandhafer im Wind. Schnitt, Perspektivwechsel von der Wasserseite. Zwei Strandkörbe mit älteren Herren, ein Tischchen mit Champagnerkübel.
Erzählerin: „Unsere Helden, Axel Springer und Rudolf Augstein, sind schon lange im Paradies. Bei ihnen fühlt sich das natürlich an wie Sylt. Und sieht auch genauso aus.“
So beginnt ein halbstündiger Film namens “Auf der Suche nach der verlorenen Auflage”, den die AxelSpringer SE Mitte Oktober 2021 auf Youtube eingestellt hat. Wen und was sie damit erreichen will, ist nicht auf Anhieb zu erraten. Er soll aber wohl zeigen, wie innovativ das Unternehmen ist. Zu diesem Zweck stehen zwei alte Herren im Mittelpunkt. Mit etwas gutem Willen sind die genannten Mid-Century-Großverleger zu erkennen, verkörpert von zwei eigentlich ernstzunehmenden Schauspielern. Beide verstehen die digitale Welt nicht mehr. Deshalb reisen sie aus dem Paradies zurück in die Gegenwart und bekommen im Springer-Hochhaus erklärt, wie das heute so läuft.
Ihre erste Begegnung im Hochhaus ist ein Herr Müller, der Anzeigenchef, der dem traditionellen Geschäftsmodell nachtrauert: „Früher kam der Kunde, denn hat man sich beschnuppert, denn sind wir hier nach oben an die Bar, ham een jenomm‘ und mit‘m Handschlag war der Jahresetat sicher“. Er steht, in der Plüschumgebung des Springer-Journalistenclubs unter dem Dach, für die alte Zeit, die das Haus natürlich hinter sich gelassen hat.
Dann, viele Begegnungen mit multilingualen jungen Leuten sowie deren spontanen Sing- und Tanzeinlagen später, geraten Springer und Augstein in einen Onboarding-Kurs für neue Mitarbeiter:innen. Hier lernen sie, wie die Witwe des Unternehmensgründers und der “jüngste CEO seit Axel Springer aus einem Intrigantenstadl einen erfolgreichen Verlag gemacht haben”, vor allem durch eine „inzwischen legendäre Studienreise der Führungskräfte ins Silicon Valley.” Eine Revolution: “Geflogen wurde nicht Business sondern 14 Stunden Holzklasse […]. Raus aus der Komfortzone, […] weg von der Hotelbar, weg von der teuren Rotweinseligkeit.“
Am Ende des Films landen die beiden wackeren Alten wieder im Sylter Strandkorb, der inzwischen aber auf dem Dach des Konzernhochhauses steht. Es reicht nun also eine Treppe, um von Springers Journalistenclub ins Paradies zu kommen.
Der Streifen hätte die Zielgruppe bestimmt erheitert, wäre nicht im gleichen Atemzug der Chefredakteur von Springers Bild, Julian Reichelt, „nach neuen Erkenntnissen“ seiner Aufgaben entbunden worden. Und zwar plötzlich, als mit der New York Times ein internationales Medium das Thema erneut aufgriff. Zuvor hatte der Konzernvorstand Reichelt vorübergehend freigestellt, nach einem Compliance-Verfahren aber unter Auflagen auf seinem Posten belassen. Die Angelegenheit warf ein Schlaglicht auf die innere Verfassung der Bild-Redaktion, von der schon ein Dreivierteljahr zuvor ein bizarrer Hofbericht des Fernsehsenders Amazon Prime einen eigentümlichen Eindruck erzeugt hatte. Einige deutsche Medien, auch das offenbarte die NYT, recherchierten in der Sache zwar weiter, veröffentlichten die Ergebnisse aber zunächst nicht.
In dieser Umgebung sorgte der ohnehin skurrile Springer-Film natürlich für Häme. Während die Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt, dass in der Unternehmenspraxis der Chefredakteur jüngere Mitarbeiterinnen in benachbarte Hotels bestellt und man nach Klausurtagungen gemeinsam mit dem nackten Herausgeber baden geht, deklamiert im Film die Diversitätsbeauftragte: „Aber heutzutage ist das ‚Wie‘ des Miteinanders, also die Unternehmenskultur, für den Erfolg genauso wichtig, wie die Auflagen“. Bissige Kommentare auf Social Media und ein Bericht in einem Branchenmagazin sorgten dann dafür, dass Springers Selbstinszenierung einer etwas breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde.
Weniger rätselhaft wirkt der Imagefilm, wenn man dazu einen knapp fünfzig Jahre alten Fernsehbeitrag anschaut. Er fing damals die paradiesischen Zustände ein, die heute der Strandkorb symbolisiert. In Kampen auf Sylt präsentierte sich 1972 eine Aussicht auf das Paradies, die vielleicht die letzten und einzigen mutigen Journalisten in Deutschland dazu motiviert, sich in die Chefredaktion der Bild emporzuschreiben. Vor dem Hintergrund dieser Meistererzählung ergeben die alten Helden im Strandkorb plötzlich Sinn. Vorhang auf für “Die Schönen und die Reichen”:
Ein Film-Opening. Wellen spülen an den Strand, Pferde reiten durch die Dünen, Strandhafer im Wind. Schnitt, Perspektivwechsel von der Wasserseite. Eine Gruppe Frauen, teils oben ohne, teils nackt, tollt lachend in Richtung Wasser.
Erzähler: „Schöne Bilder von einer schönen Insel. Fraglos, Kampen auf Sylt hat seinen Reiz. Die einen schätzen die herbe Landschaft, die anderen träumen vom süßen Leben.“
So beginnt die Fernsehdokumentation des Norddeutschen Rundfunks. An älteren Herren und Champagnerkübeln mangelt es auch in diesem Stück nicht. Die Kamera schwelgt in automobiler Oberklasse, Privatjets und – zeittypisch – Dekolletés. Playboys schwadronieren ins Mikro und lassen Korken knallen. Gunter Sachs signiert auf dem Motorrad sitzend Geldscheine von Passanten. G+J-Mitgründer Richard Gruner quetscht sich in ein etwas zu enges Westernhemd und dann samt mehreren Begleiterinnen nacheinander in ein Coupé und ein Privatflugzeug.
Zu jeder Tageszeit fließt Alkohol. „Porsche-Paul“ taxiert in aller Offenheit aus dem Pool im „Village“ die anwesenden Frauen. Im „Pony“ erbebt die Tanzfläche zum FKK-Kultsong „Nackedi, nackedu, nackedei dei dei“ aus der Sexklamotte „Sonne, Sylt und kesse Krabben“ vom Vorjahr (“Das Paradies der nackten Mädchen: Jetzt steht es auch Ihnen offen!”). Obwohl die meisten Herren hier mit den 68ern nichts am Hut haben, partizipieren sie gerne an deren Legende, Promiskuität sei Ausdruck von Emanzipation. „Mädchen“, wie die weiblichen Beteiligten durchgehend genannt werden, gehören anscheinend zum Inventar. „Der größte Teil kommt wahrscheinlich der Männer wegen“, sagt eine junge Frau. Das also ist das Paradies Axel Springers.
Er selbst läuft in Minute 47 nur kurz durchs Bild, gibt keinen O-Ton. „Durch den großen Besitz, den er erworben hat, hat er natürlich eine Distanz zu den anderen“, sagt der Krupp-Generalbevollmächtigte Berthold Beitz. Er wird seine Gründe gehabt haben. „Manchmal ließ er Mädchen nur für eine Nacht nach Sylt einfliegen und verabschiedete sich am anderen Morgen nicht“, schreibt Springers Biograph Michael Jürgs in dem dreißigseitigen Kapitel, das er allein dem Geschlechtsleben des Verlegers widmete. Mitarbeiterinnen des eigenen Konzerns spielten darin keine unerhebliche Rolle [1].
Weniger Distanz haben die engen Mitarbeiter. Bild-Chefredakteur Peter Boenisch lässt im Film sein Haus neben einem der Anwesen Springers errichten. Er schwebt mit dem Hubschrauber ein – angesichts des betont autoaffinen Kurses der Zeitung wahrscheinlich die höchste Stufe der Individualmobilität. Im gleichen Jahr beginnt auch seine Nebentätigkeit als PR-Berater für Mercedes-Benz, von denen er zusammen mit dem ZDF-Autotester Rainer Günzler über Tarnfirmen in der Schweiz bis 1981 mehr als eine Million D-Mark erhält. Bekannt wurde dieser Umstand erst Mitte der 1980er Jahre im Zuge der sogenannten „Flick-Affäre“ um verdeckte Parteispenden, weil Boenisch diese Einkünfte nicht versteuert hatte. Deshalb trat er 1985 auch von seinem späteren Amt als Regierungssprecher des ersten Kabinetts Kohl zurück.
„Im Hause Springer kursierten, wie Axel Springers Generalbevollmächtigter Ernst J. Cramer sich erinnert, über Boenischs Beratertätigkeit ‚damals Gerüchte‘, zu denen Boenisch auf Nachfrage erklärt habe, das sei ‚alles Quatsch‘. ‚Wenn jemand in einer solchen Position ist‘, so Cramer, ‚gibt man sich damit zufrieden und stellt nicht noch Nachforschungen an.‘“ Wahrscheinlich ging man stattdessen an die Bar in Springers Journalisten-Club. Oder im „Pony“ auf Sylt. Manchmal reicht es ja auch, wenn man “lange und intensiv” miteinander spricht.
„Die Schönen und die Reichen“ ist nicht nur ein Sittengemälde, sondern auch eine soziologische Laboranordnung. Wirtschaftskapitäne treffen auf Prominente, Politiker, „Mädchen“ und – Journalisten. Die Männlichkeitsformen sind hier tatsächlich generisch. Letztgenannte Gruppe hat dabei eine besondere Stellung, die sie bis heute gehalten hat. In der aktuellen Affäre um Julian Reichelt beschrieb der ehemalige Bild-Mann Georg Streiter dies als professionelle Deformation:
„Sie glauben, dass sie größer werden, wenn sie sich neben einen Großen stellen. Sie können mit Präsidenten, Bundeskanzlerinnen und Ministern sprechen. Erst glauben sie, sie seien auf Augenhöhe. Im nächsten Stadium denken sie, auch sie seien wichtig und mächtig – was ja auch zu einem gewissen Grad zutrifft, denn journalistische Berichterstattung auf der einen Seite löst gelegentlich auch politisches Handeln auf der anderen Seite aus.“
Das erinnert an den Habitus des „falschen Mittelstands“, den Ralf Dahrendorf einst am Dienstleistungspersonal der Oberschicht beobachtete: „Der Widerspruch zwischen sozialer Stellung und Selbstbewusstsein macht diese Schicht zudem zu einer politisch labilen Kategorie, deren Unterstützung erworben zu haben keine Partei besonders selbstgewiss stimmen kann.“ Auf Sylt sitzt diese Kategorie mit am Tisch des Privatbankiers Enno von Marcard, in Gestalt von WamS-Chefredakteur Claus Jacobi und Boenisch‘ Vorvorgänger im Amt des Regierungssprechers Conrad Ahlers (zuvor Spiegel).
Marcard macht sich champagneröffnenderweise schon damals Sorgen um die Meinungsfreiheit – indes, auf der Insel bestand „wirklich eine außerordentliche Möglichkeit, sich zu unterhalten und Meinungen auszutauschen, was nicht immer und überall möglich ist“. Seine Meinung, dass Kampen „mit Ausnahme von Baden-Baden […] tatsächlich heute die Crème de la Crème beherbergt“, blieb dann auch ohne Widerspruch.
Am Tresen im „Gogärtchen“ diktiert WDR-Fernsehdirektor Werner Höfer ein Statement von 131 Zeichen in die Kamera [2], das sich hinter heutigen Tweets journalistischer Ruheständler nicht verstecken müsste: „Sylt und Kampen lebt von seinen Vorurteilen, leidet aber unter seinen Vorurteilen und wird an seinen Vorurteilen zugrundegehen.“ Zeit-Feuilletonist Rudolf Walter Leonhardt versucht, irgendetwas Lässiges zu sekundieren. Lässig scheint nur Rudolf Augstein, auf dem Klappfahrrad und mit Kind auf der Schulter: „Ich weiß nicht, wer hier den Ton angibt. Ich weiß nicht, wer hier repräsentativ ist. Ich weiß nur, wer sich dafür hält.“
Da der Automobileuphoriker und heutige Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt 1972 erst fünf Jahre alt ist, übernimmt seinen Part Wilhelm Becker, Kfz-Händler aus Düsseldorf: „Die meisten Leute haben Angst, einen Rolls Royce zu kaufen, obwohl sie das Geld hätten und es ihnen Spaß machen würde. Sie haben Angst davor, was sagt der Nachbar, man fährt einen Rolls Royce…?“ Die allgegenwärtigen Neider in Deutschland vermiesen den Leistungsträgern den Spaß und hemmen das Wachstum. Oder präziser: Die eigene Angst vor imaginären Neidern. Zeitlos im Stehsatz.
Fernsehen war Anfang der 1970er Jahre noch etwas Besonderes. Das Erscheinen von Team und Ausrüstung selbst ist ein Ereignis. Und vielleicht erklärt das die offensichtliche Arglosigkeit, mit der die Reichen und Schönen sich selbst zu Darsteller:innen im kapitalismuskritischen Rundschlag des Norddeutschen „Rotfunks“ machten.
Eigentlich blieb der Sylter „Jet Set“, abgesehen von Audienzen für die Klatschpresse, sonst gerne unter sich: „Wir haben uns gewehrt. Die beiden Verleger, Axel Springer und Rudolf Augstein, haben nie in ihren Gazetten über diese Insel schreiben lassen“, sagt gutgelaunt Jean Sprenger, Hausbildhauer bei der Krupp AG. Entsprechend säuerlich kommentierte der erwähnte Rudolf Walter Leonhardt den NDR-Beitrag nachträglich in der Zeit: „Der Film zeigte das Kampen der Illustren und der Illustrierten, er hatte mit dem wirklichen Kampen nicht sehr viel zu tun und mit der Insel überhaupt nichts.“ Warum auch? Als Landschaftsreportage wird ein Film mit dem Titel „Die Schönen und die Reichen“ wohl nicht angelegt gewesen sein.
Übrigens war das jener Rudolf Walter Leonhardt, der drei Jahre zuvor in der Zeit geschrieben hatte „dass gerade Liebesbeziehungen in einer Atmosphäre der Abhängigkeit gedeihen“ und dessen „Übergriffe und Anzüglichkeiten“ laut Redakteurin Iris Radisch im ganzen Haus bekannt waren. Sie beschreibt die Sphäre der großen Medienhäuser in Hamburg damals als „weitverzweigtes und historisch gewachsenes, männliches Gesamtsystem“ sexueller Übergriffigkeit und Machtmissbrauchs.
Das Paradies dieses Gesamtsystems liegt der Legende nach auf einer Nordseeinsel. Ein freizügiges, spezifisch deutsches Reservat mit Park- und Flugplatz, klaren Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien, geschützt vor gesellschaftspolitischen Debatten [3]. Der männliche Top-Journalist erörtert hier vor dem Hintergrund von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung mit den Reichen und Mächtigen ungestört die politische Lage, das Inventar der Schönen sorgt für Kontemplation. Für die Zaungäste fällt ein Blick auf nackte Haut ab. Eine Fernsehdokumentation hat dieses Paradies 1972 verewigt, ein Springer-Imagefilm übernimmt knapp 50 Jahre später blindlings die Symbolik.
Allerdings sind inzwischen, wie der Fall Reichelt zeigt, selbst Bild-Chefredakteure nicht mehr unantastbar. Schließlich erstreckt sich die Konzerntätigkeit inzwischen weit über das nordfriesische Wattenmeer hinaus bis jenseits des Atlantiks. Umso verbissener wird das Paradies aus dem Journalistenclub oben im Springer-Hochhaus verteidigt, derweil darunter die Diversitätsbeauftragten Stockwerk um Stockwerk erobern. Während inklusiver Sprachgebrauch im Konzern längst zum Alltag gehört, schießen dessen Redaktionen nach außen auf alles, was gendert [4]. Das wird so weitergehen, solange der Customer Value alter Herren ohne Verständnis für gesellschaftspolitische Entwicklungen noch nicht ausgeschöpft ist. Es sind allerdings Männer auf verlorenem Posten. Der Springer-Imagefilm legt tatsächlich Rudolf Augstein in den Mund: „Als Wehrmachtsoffizier mit Fronterfahrung schlage ich vor: Rückzug!“
[1] Jürgs, Michael (1995): Der Fall Axel Springer. Eine deutsche Biographie, München: 193.
[2] Höfer gab gut fünfzehn Jahre später die Moderation der ARD-Sendung “Internationaler Frühschoppen” auf, nachdem seine publizistische Rolle im Kontext eines NS-Volksgerichtshof-Urteils von 1943 zur Hinrichtung eines Musikers öffentlich thematisiert worden war. https://www.spiegel.de/geschichte/fall-werner-hoefer-a-950056.html Die Sendung wurde ersetzt durch den noch heute existierenden “ARD-Presseclub”.
[3] Eine Umgebung, die kurz zuvor auch FAZ-Herausgeber Joachim Fest gewählt hatte, um als autobiographischer Ghostwriter des Nazi-Baumeisters und -Allzweckministers Albert Speer die maßgebliche bürgerliche Nachkriegs-Entlastungslegende vom verführten, apolitischen Experten auszuformulieren. Vgl. Brechtken, Magnus (2017): Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München.
[4] Zum Beleg die Stichworte „Bild“ und „Gender-Wahnsinn“ oder „Welt“ und „Genderwahn“ in eine beliebige Suchmaschine eingeben.
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