Schlagwort: Skandal

Neue alte Männlichkeit – Zur Debatte um den Band ‚Oh Boy‘

von Peter Hintz

Oh Boy. Männlichkeit*en heute hieß eine Anthologie von Texten deutschsprachiger Autor*innen, die sich großer Aufmerksamkeit erfreute, bevor sie einen Monat nach ihrem Erscheinen vom Kanon Verlag wieder vom Markt genommen wurde. Boykottaufrufe und heftige öffentliche Kritik am Verlag und an den Herausgebenden Donat Blum und Valentin Moritz hatten es zunehmend unhaltbar gemacht, ein Buch, das für eine neue Form kritischer Männlichkeit stehen wollte, in der aktuellen Form zu belassen. Gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen hatte Moritz in seinem eigenen Beitrag einen sexualisierten körperlichen Übergriff thematisiert, den er selbst begangen hatte.

Die Anthologie ist Teil einer ganzen Reihe neuer deutschsprachiger Bücher, die explizit Männlichkeit thematisieren und sich in ihren introspektiven Erzählungen als selbstkritisch verstehen. Dazu gehören etwa Toxic Man von Frédéric Schwilden, Väter von Paul Brodowsky oder Prägung. Nachdenken über Männlichkeit von Christian Dittloff. Oh Boy präsentiert sich intersektional und beinhaltet auch Beiträge von queeren und nichtweißen Autor*innen, will also die Vielstimmigkeit von Männlichkeiten jenseits einer heteronormativ-weißen Geschlechtsidentität hervorheben. Es geht um “Bilder von neuen Männlichkeit*en bis heute.”

Dank der Uneindeutigkeit des Begriffs “neue Männlichkeit” lassen sich damit eine ganze Reihe männlicher Praxen zusammenwürfeln – von trans Männern über sorgende Väter bis hin zu alleinstehenden cis Männern, die sich als irgendwie selbst- oder “herrschaftskritisch” identifizieren. Von vornherein konnten Kritiken an den Herausgebenden oder einzelnen Beiträgen also mit Verweis auf andere, bessere Teile des Buches abgewehrt werden. So erscheint der Text des Herausgebers Valentin Moritz neben Beiträgen von bekannten queerfeministischen Autor*innen wie Sascha Rijkeboer oder postmigrantischen Schriftstellern wie Dinçer Güçyeter.

Konkreter verstehen die Herausgebenden und einige ihrer Autor*innen die ‘neue’ Männlichkeit als Kontrastfolie zu einer ‘alten’ Männlichkeit, die für die patriarchale Ausübung von Macht stand, gegen Frauen, vor allem aber gegen andere Männer, die durch rigide körperliche und soziale Normen selbst beschränkt werden. Im Vorwort heißt es:

„Es war im Dezember 2021. Wir saßen in einer Bar in Neukölln und tauschten uns über unser zwiespältiges Verhältnis zum Literaturbetrieb aus, über unser Schreiben und das der Anderen. […] Hier drinnen jedoch begannen unsere Köpfe zu glühen: Auf gewundenen Pfaden entwickelte sich die Vorstellung eines gemeinsamen Buches […] Oh Boy sollte das Buch heißen, denn, oh boy!, es würde mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Wie wurden wir zu ‘Männern’ gemacht? Von welchen Männlichkeitsidealen wurden wir geprägt? Warum grenzen wir uns von einigen ab und lassen andere gelten?“

Die ‘neue’ Männlichkeit betont emotionale oder physische Schwächen, eine gefühlige Innigkeit zwischen Männern jenseits von Homosexualität und überhaupt das offene Reden über die eigene Erfahrung mit Geschlechternormen. Donat Blums Ich-Erzähler*in, die*der sich selbst als “mansplain[er]” bezeichnet, erklärt: “Männlichkeit sind die Betten, die nach meinem pubertären Bruder riechen. Nach verkorkster Sexualität. Nach saurem Bier und stolzem Furz.”

Nicht einmal die Hipsterstädte (Freiburg und Berlin), an denen sich die Autor*innen im Gegensatz zu ihrer ländlichen Heimat heute gern aufhalten, sind angesichts sozialpolitischer Veränderungen der letzten Jahrzehnte besonders neu. Männliche Homosozialität und Feminismus wirken für die Herausgebenden allerdings wie Entdeckungen der letzten fünf bis zehn Jahre, da es zuvor an einem “selbstkritischen Dialog” gemangelt habe. Ein vom SWR produzierter Videobeitrag über Oh Boy zeigt Moritz, wie er sich stolz von einem Freund die Haare schneiden lässt und mit einer Frau Tischfußball spielt.

Statt einer fundierten Rahmung der einzelnen Beiträge wollen die Herausgebenden betont “kein monolithisches, durchgestyltes Werk einer einzelnen Expertenperson” bieten, sondern eine lose Sammlung von Essays und Kurzgeschichten, “in bester literarischer Tradition”. Mit diesem Verweis auf die literarische Form wird offengelassen, wer eigentlich in den Beiträgen von sich erzählt und die eigene Männlichkeitspraxis kritisch reflektiert – sind es fiktive Ich-Erzählende oder die Autor*innen selbst? Moritz’ Kurzbeschreibung seines Textes gibt allerdings an, dass er sich in seinem Text “die eigene Übergriffigkeit ein[gesteht].”

Wie spätere Statements von Verlags- und Herausgebendenseite auch zeigen, liegt in der strategischen Uneindeutigkeit von Fakt und Fiktion ein Schlüsselproblem der Männeranthologie. So haben nach der öffentlichen Kritik am Buchprojekt Donat Blum und der Verlag auf eine angebliche Fiktionalität des Beitrags von Moritz verwiesen. Vorwürfen, Moritz hätte sich über die Wünsche eines Opfers von sexualisierter Gewalt gesetzt, wurde ironischerweise also damit begegnet, dass die Aussagen im Text – und damit auch das Schuldeingeständnis und das Selbstbekenntnis zur kritischen Männlichkeit – als fiktiv zu bewerten seien.

Unklarheit über das, was jetzt eigentlich real ist und was nicht, durchzieht diesen Diskurs der neuen Männlichkeit auch in anderer Hinsicht. Zwar wird unentwegt die Unnatürlichkeit ziemlich abstrakter ‘alter’ Männlichkeitsbilder hervorgehoben, zugleich bleibt aber unhinterfragt, ob die dick aufgetragene Melancholie der Autor*innen (oder: Ich-Erzähler?) sich nicht selbst klassisch männlicher Tropen bedient und damit kulturell bedingt ist. Ganz im Gegenteil scheint es, dass mit dieser männlichen Gefühligkeit eine ‘neue’ männliche Natürlichkeit behauptet wird, die ironischerweise eine Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit durchaus anerkennen will.

So soll durch Gefühl, insbesondere dem Eingeständnis von Verletzlichkeit, einem Mangel an männlicher Authentizität beigekommen werden; unter den Wunden der alten patriarchalen Männlichkeit, ihren verdrängten Wünschen und Schwächen, liege eine Essenz männlicher Individualität. Dieser individualisierte und sich selbstkritisch gebende Männlichkeitsdiskurs ist nicht neu; er wird schon in den kanonischen Texten des liberalen Aufbruchs der 1960er und 1970er Jahre transparent, in Buddy Movies wie Easy Rider oder bei den männlichen Einzelgängern John Updikes oder Philip Roths. 

Bei vielen Texten in Oh Boy geht es damit gar nicht zuerst um männliche Selbsthinterfragung, die auch Antworten hervorbringen soll, sondern um emotionale Expressivität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbstmitleid oder Schuldgefühlen bis hin zum Kitsch. Valentin Moritz (oder sein Erzähler) fragt sich, “[w]ie genau ich zum glücklichen Menschen werde, weiß ich nicht […] Ich fühle mich in der Schwebe wie eine Frisbee im Flug. […] Aber immerhin, ich lerne gerade, meine Gefühle zu benennen – und wenn es nur das Gefühl ist, eine Frisbee zu sein. Huiiiiiiii.” Und auch Daniel Schreibers Kurzgeschichte über einen sich als übermäßig angepasst empfindenden schwulen Mann endet mit der Pointe: “Er fragt sich, was er alles unterdrücken musste, um die Person zu werden, die er geworden ist, und ob ihm diese Person gefällt.”

Grenzen und Hierarchien dieser gefühligen und egozentrischen Männlichkeit bleiben unreflektiert, weibliche Perspektiven spielen im Buch kaum eine Rolle. Die Herausgebenden und manche ihrer Autor*innen reiten lieber auf patriarchalen Dorf- und Vatergeschichten aus der Jugenderinnerung herum. Die neue Männlichkeit bleibt homosozial, erzeugt sich im Vergleich mit vermeintlich weniger “herrschaftskritischen” Männern. Die Erneuerungsrhetorik der Herausgebenden verschleiert letztlich die Anleihen der neuen Männlichkeit beim Altbekannten.

Foto von Marcel Strauß auf Unsplash

Kritik und Künstlerscheiße – Notizen zum Hundekot-Eklat

von Johannes Franzen

1.

Da hat man wahrscheinlich etwas mit Medien oder ein kulturwissenschaftliches Fach studiert. Da hat man Praktika gemacht und schließlich einen begehrten Job bei einem sehr seriösen Kulturmagazin auf 3sat ergattert. Und dann muss man plötzlich für einen Beitrag über Tanztheater einen Haufen Hundekot besorgen oder etwas, das einen Haufen Hundekot simuliert, der mit einer Tüte von der Straße aufgeklaubt wird. Dann wiederum habe ich auch mehrere Geisteswissenschaften studiert, wurde promoviert und habe veröffentlicht – und werde nun qua Profession gezwungen, über Hundekot zu schreiben. So sind wir alle Verlierer in diesem Spiel, das wir Diskurs nennen. 

2.

Soviel vorweg: Den Hund trifft keine Schuld. Er ist ein unschuldiger Kerl und hätte niemals in diese schlimme Sache hineingezogen werden dürfen.

3. 

Kritiker*innen sind schon immer ein Feindbild gewesen. Sie stellen eine (oft selbsternannte) Elite der ästhetischen Gesetzgeber dar, die anderen Menschen den Spaß verderben. A.O. Scott, der ehemalige Cheffilmkritiker der New York Times schreibt in seinem Buch Better Living Through Criticism: „Jeder Kritiker gewöhnt sich daran, mit Skepsis und Misstrauen und manchmal auch mit offener Verachtung umzugehen. Wie können Sie es wagen! Was gibt Ihnen das Recht dazu? Warum sollte jemand Ihnen zuhören?”

4. 

“Der Ballettchef der Staatsoper Hannover, Marco Goecke, hat bei einer Premiere die Kritikerin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Wiebke Hüster, mit Hundekot beschmiert.” (Tagesspiegel) “Nach der Hundekot-Attacke: Marco Goecke zeigt zunächst weder Reue noch Einsicht und lässt nun doch noch eine schriftliche Entschuldigung folgen.” (NZZ) “Als Ballettdirektor der Staatsoper Hannover hat Marco Goecke nach seiner Hundekot-Attacke auf Journalistin Wiebke Hüster inzwischen seinen Hut genommen.” (SZ)

5. 

Um den Status, den Kunst und das Künstlerische in unserer Gesellschaft einnehmen, einzuschätzen, kann man ein einfaches Gedankenexperiment machen. Was, wenn der Mann, der hier eine Frau mit Hundekot attackiert hat, kein gefeierter Ballettdirektor gewesen wäre, sondern ein wahlloser Wirrkopf? Allein der Status des Attackierers macht aus einer misogynen Straftat eine Performance, über die auch viel geschmunzelt wurde. 

6. 

Kunstskandale laden Transgressionen mit Bedeutung auf, geben einfachen Schweinereien das Prestige eines ästhetischen Ereignisses. Davon hat die moderne Kunst lange einträglich gelebt. Von Duchamps Fontaine bis zu Manzonis Merda d’artista hatte diese Form der Provokation oft auch direkt mit Fäkalien zu tun, die man in die Institutionen der Kunst schmiert, um die Kunst herauszufordern. Ob das die Kunst vorangebracht hat, ist schwer zu sagen, aber für die Rolle des Künstlers als privilegierter Rebell waren diese Aktionen konstitutiv.

7.

Die Kacke des Künstlers ist etwas besonderes. Sie scheint ästhetisch aufgeladen und entzieht sich der kleinbürgerlichen Moral. Es handelt sich um autonome Scheiße.

8. 

Über 100 Jahre nach Duchamp immer noch der gleiche Witz. Ist den Leuten nicht langweilig?

9. 

“Goecke beschreibt den Anschlag im NDR als Reaktion auf jahrelange Verletzungen durch die Kritikerin: ‘Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen’, sagt Goecke. ‘Wie würden andere Menschen, die hart arbeiten, damit umgehen, wenn sie so mit Schmutz beworfen werden würden?’, fragt er in dem Beitrag rhetorisch – um dann selbst zu antworten: ‘Kein hart arbeitender Mensch würde sich das auf Dauer gefallen lassen.’” (Spiegel)

10.

In seinem Buch Feindbild werden beschreibt der Kunstwissenschafler Wolfgang Ullrich, wie der Maler Neo Rauch als Reaktion auf einen kritischen Artikel ein Bild mit dem Titel „Der Anbräuner“ gemalt hatte, in der eine Figur ein Bild mit Scheiße malt. Ullrich entwickelt aus diesem Ereignis eine Konfliktgeschichte des Autonomieparadigmas in der Gegenwart, das dazu verwendet wird einen reaktionäres Geniemythos zu legitimieren.

11.

Es ist beeindruckend, wie beflissen die Medien die Genieästhetik Goeckes reproduzieren. In einem Interview mit dem NDR darf er im Wald sitzend mit einer dunklen Sonnenbrille den wilden Künstler spielen. Die Thomas-Bernhard-Imitatio ist frappierend. Aber ohne Thomas Bernhard kein Marco Goecke. Der Autor ist die Blaupause für Generationen von männlichen Künstlern und Intellektuellen, die gerne wilde Burschen sein, aber trotzdem eine Karriere haben wollen.

12.

“Sie könne den Ballettchef aus Hannover verstehen, der eine Kritikerin mit Hundekot attackiert hat, sagt die nun 80-jährige Schriftstellerin und Moderatorin Elke Heidenreich. Das Mittel sei nicht richtig, aber viele Kritiker seien hochmütig.” (Deutschlandfunk)

13.

Die Autorin Sibylle Berg schreibt auf Twitter: “#hundekot Das ist kein Angriff auf die Pressefreiheit. überragende Künstler sind Ausnahmemenschen, sie dürfen nicht alles aber-shit happens. #MarcoGoecke  ist einer der überragenden Künstler in D- ihn zu verlieren wäre ein riesiger Verlust- macht ne Therapie,gebt euch die Hand.”

14.

Hier ist dann alles beisammen: Der Künstler ist ein Ausnahmemensch, dessen überragendes Talent sein anti-soziales Verhalten legitimiert. Der Status verleiht Lizenzen, die sein Verhalten den ethischen Anforderungen, die für den Rest der Gesellschaft gelten, entziehen. Einen solchen Künstler “darf man nicht verlieren”, dafür muss man schon einmal über eine Tat hinwegsehen, die in so gut wie jedem anderen Kontext streng verurteilt worden wäre. In diesem Fall wird sie mit einem amüsierten “shit happens” weggewischt. (Inzwischen hat Berg diese Äußerungen in einem Interview zurückgefahren.)

15. 

Die Anschauung vom “außerordentlichen Rang der Dichtkunst”, schreibt Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens, habe sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. In dieser Zeit erhielt der Dichter die Würde eines mit “höchster Autorität auftretenden Schöpfers.”

16. 

Die Autonomie der Künstlerscheiße ist ein wichtiger Identifikationspunkt für die bürgerliche ästhetische Theorie der Moderne.

17.

Es ist doch erstaunlich, wie sehr der moderne Geniemythos wie eine Verkleidung wirkt, die man sich von der Stange nehmen kann. Die Scharlatane aus dem Tech-Sektor übernahmen einfach die Rollkragenpullover und die visionäre Rhetorik eines Steve Jobs. Goecke hat seine Sonnenbrille, seinen Mantel und seinen Dackel. 

18. 

Les Poètes maudits nannte Paul Verlaine sein Buch von 1884, in dem er eine Generation junger Dichter heroisierte, die sich in Text und Leben gegen die Gesellschaft stellten. Was diese verfemten Dichter von ihren Erben in der Gegenwart unterscheidet, ist, dass sie auch Kosten für ihr anti-bürgerliches Verhalten tragen mussten. Seitdem hat sich das Rollenmuster des verfemten Künstlers aber institutionalisiert. 

19. 

 „Das ist die Paradoxie. Dass wir uns bezahlen lassen von den Mächtigen, um sie anzugreifen.“ (Claus Peymann 2022)

20.

Das Bürgertum leistet (hält?) sich den Bürgerschreck als Ablass. Seht her, wir finanzieren die Kritik unserer Herrschaft, wir lassen uns ein paar mal im Jahr auf den Edelbühnen des Landes anschreien. Dann trinken wir Sekt im Foyer.

21.

“Ja, ich habe gebrüllt. Aber nur in größter Not, in schwachen Momenten, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Ich brülle aus Liebe! Zu einer Liebesbeziehung gehört die Auseinandersetzung. Das Leben ist nicht harmlos, es ist Blut und Schrecken. Warum soll ausgerechnet das Theater ein Platz der Seligen sein?” (Claus Peymann 2022)

22.

Wer mit Menschen redet, die am Theater arbeiten oder gearbeitet haben, hört viele Anekdoten von übergriffigem, gewalttätigem Verhalten, das sich grundsätzlich aus einer vagen Kunst- und Genieideologie legitimiert. Die Vorstellung, dass große Künstler*innen, zumeist Regisseur*innen oder Intendant*innen, an einer Extremsituation partizipieren, die ein berserkerhaftes Verhalten nicht nur rechtfertigt, sondern sogar einfordert, gehört zum festen Haushalt der institutionellen Selbsterzählungen. 

23. 

„Nichts ist leichter, als eine Grenzüberschreitung zu verzeihen, die einem anderen zugefügt wurde.“ (Mithu Sanyal)

24.

Der Genie-Mythos scheint eine entlastende Funktion zu haben. Es ist schwer und oft trostlos, sich an die gesellschaftlichen Regeln halten zu müssen, es erfordert viel Energie. Eine Sozialfigur wie das moderne Künstlergenie schafft da zumindest imaginäre Erleichterung. In der Figur kompensiert man die drückende Last der Zivilisation, das ständige Gutseinmüssen. Wer würde nicht gerne einmal seinen Feinden Scheiße ins Gesichts schmieren? Aber das geht natürlich nicht – außer man ist Künstler, dann wird eine solche Tat legitimiert oder es gibt zumindest eine ‘Debatte’. 

25.

Die Sozialfigur des wilden Künstlers lindert das Unbehagen in der Kultur.

26.

Menschen interessieren sich immer mehr für Künstler und immer weniger für Kunst.

27.

Goethes Jugendgedicht “Rezensent” wird oft zitiert, vor allem der letzte Vers: “Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.” Menschen finden das lustig. So wie das Genie sich der moralischen Verantwortung für seine Taten zu entziehen scheint, so gelten auch für das Verhalten der Kritik gegenüber offenbar andere Regeln. Die Verachtung von Kritiker*innen besitzt eine gewisse kulturelle Anerkennung. 

28.

Die Kritiker*in steht unbehaglich zwischen Künstler*in und Fan.

29.

Als Reaktion auf eine schlechte Rezension des Films The Avengers twittert Samuel L. Jackson an seine Follower unter dem Hashtag #Avengersfans: „AO Scott needs a new job! Let’s help him find one! One he can ACTUALLY do!” Als Reaktion auf eine unbeeindruckte Rezension ihres neuen Albums twitterte Lizzo an ihre Follower: „PEOPLE WHO ‘REVIEW’ ALBUMS AND DONT MAKE MUSIC THEMSELVES SHOULD BE UNEMPLOYED.“

30.

“Bloß wirkt das Stück so, als wären dem hinter der Scheibe sitzenden Meeresbeobachter die Trolle durch seine Aufzeichnungen geritten und hätten Goecke die zerfetzten Fragmente hinterlassen mit der Drohung, sie ja nicht sinnvoll in eine Reihenfolge zu bringen. Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten. Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach mehr verlangen.” (Wiebke Hüster in der FAZ)

31.

“Der moderne Kritiker vertauscht das überparteiliche Mandat des Richters gegen eine engagierte Doppelrolle: er ist zugleich Verteidiger (des zu unrecht verkannten Künstlers) und Ankläger (gegen das ignorante Publikum).” (Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte)

32.

Die Moderne hat die Kritiker als eine Art Komplizen der Kunst etabliert. Die schwere, komplexe, provokative Kunst steht immer unter Druck. Spießer und Philister wollen ihr an den Kragen, wollen verbieten, einschränken, den Kulturhaushalt kürzen. Dagegen müssen Kunst und Kritik eine gemeinsame Front bilden.

33.

Seit die Medienkonkurrenz immer stärker die Institutionen der Hochkultur bedroht, hat sich die Kunst selbst unter Artenschutz gestellt. Jede harsche Kritik ist damit nicht nur ein Angriff auf ein bestimmtes Kunstwerk, sondern auf die Kunst selbst.

34.

Die öffentliche Antwort auf Kritik, schreibt Gérard Genette in Paratexte, sei eine “heikle und im Prinzip verbotene” Übung. “Der Grund des Verbots ist wohlbekannt: Die Kritik ist nämlich frei, und ein von ihr schlecht (oder gut) behandelter Autor wäre schlecht (oder zu gut) angeschrieben, falls er sich gegen Tadel zur Wehr setzte oder für Lob dankte, die beide gleichermaßen einem freien Urteil entspringen.”

35.

Im besten Fall sollte die Künstler*in an der kritischen Kommunikation über ihr Werk gar nicht beteiligt sein. Hier geht es um den Austausch zwischen Kritik und Publikum. Das Publikum möchte wissen, ist das gut, soll ich meine Zeit investieren und die Kritik gibt Auskunft. Aber natürlich ist es unerträglich, dabei zuschauen zu müssen, wie sich Menschen öffentlich darüber austauschen, ob du es gebracht hast oder nicht. Man muss sich nur vorstellen, dass man am gleichen Tisch sitzt wie eine Gruppe von Menschen, die heftig über dich lästern. Und du darfst nichts darüber sagen. (Beim Bachmannpreis ist diese Erfahrung sogar institutionalisiert).

36.

Eine Künstler*in, deren Werk man schlecht besprochen hat, wird danach kein Bier mehr mit dir trinken wollen. Und das ist auch ok. Das Problem ist aber, dass man am Ende mit einem Bier in der Hand auf den selben Partys steht. 

37.

Wie frei ist die Kritik? Als freie Autor:in bekommt man bei den großen Zeitungen in Deutschland heute für eine Kritik von 9.000 Zeichen manchmal 90, manchmal 130, manchmal 300, manchmal 350 Euro. 

38.

Feindschaften muss man sich leisten können.

39.

Muss es einen Ort für den Zorn der Künstler*in über eine schlechte Rezension geben? Wenn ja, wo wäre das?

40.

Bis in die 1970er Jahre hinein waren die Rezensionen im Times Literary Supplement anonym. Das galt auch für Autor*innen wie T.S. Eliot oder Virginia Woolf.

41.

Wer ab jetzt über eine Aufführung von Marco Goecke berichtet, egal in welcher Form, der verrät die Kritik als Profession. Eine Kunst, die sich der Kritik auf diese brutale Art verweigert, hat das Recht verwirkt, kritisiert zu werden.

42.

Aber jetzt reden wir über Hundekot und was vom Künstler übrig blieb. Wenige Menschen interessieren sich für Tanztheater, aber viele interessieren sich für scheißewerfende Genies. Wir unterhalten uns angeregt über Serien, Filme, Spiele, können intelligent und mit Wärme über die Vor- und Nachteile der ästhetischen Artefakte sprechen, die wir in unserer Freizeit konsumieren – aber der Diskurs über Hochkultur findet inzwischen vor allem im höheren Lästern über den Skandal statt. Kunst mit einem großen K braucht die Kontroverse, um überhaupt noch ein Gesprächsgegenstand zu sein.

43.

Es gibt inzwischen viele gute Gründe, den Begriff der “Kunst” durch “Content” zu ersetzen. Es wäre ein Befreiungsschlag, der das ästhetische Artefakt endlich vom Künstler befreien würde.

44.

Niemand hat der Kunst in den letzten Jahrzehnten so sehr geschadet wie der Künstler.

Foto von Kev Costello auf Unsplash

Zynischer Nonkonformismus

von Johannes Franzen

Politische Kommunikation ist oft ein Zirkus mit schrecklichen Spätfolgen. Der Podcast „The Flamethrowers“, der die Geschichte des rechten talk radios in den USA erzählt, macht immer wieder deutlich, dass die schwierigen Helden dieser ‚Kunstform‘ als Entertainer auf der Suche nach einer erfolgreichen Nische angefangen haben. Der Meister des rechten Radios, Rush Limbaugh, der zum Zeitpunkt seines Todes im letzten Jahr ein Vermögen von über 500 Millionen Dollar besaß, begann als erfolgloser Moderator. Dann entdeckte er das schier unerschöpfliche Bedürfnis nach einer Stimme, die den angeblich linksliberalen Zeitgeist herausforderte. Sein wütendes Geschrei gegen Feminismus, Anti-Rassismus oder LGBTQ-Aktivismus fand ein riesiges Publikum und wirkte stilbildend für ein rechtes Unterhaltungsformat, das seine Energie aus dem höhnischen Zorn über progressive Anliegen zog.

‚Owning the Libs‘ – Linksliberale provozieren – wurde zu einer der wichtigsten Strategien einer intellektuell entkernten Rechten, die es sich seit den 1970er Jahren zusehends auf dem muffigen Theaterboden der ‚Culture Wars` gemütlich gemacht hatte. Die erfolgreichen Karrieren Limbaughs und anderer Moderatoren, von denen „The Flamethrowers“ erzählt, verweisen aber auch auf die Geschichte eines Geschäftsmodells, das in der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie den Gipfel seiner Lukrativität erreicht hat – das Geschäftsmodell des mutigen Nonkonformisten, der den uniformierten Zeitgeist herausfordert. Es handelt sich um ein Rollenmuster, dessen Attraktivität sich durch alle Register des kulturellen Anspruchs zieht, und auch solche Figuren der jüngeren Kulturgeschichte betrifft, die von einem Limbaugh auf den ersten Blick denkbar weit entfernt erscheinen.

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Ein hässliches Geschäft – Die Realität des Kunstdiebstahls

von Christina Dongowski

Arsène Lupin, Thomas Crown, Simon Dermott, Danny Ocean, Neal Caffrey – in der kulturellen Imagination ist der Raub und das Stehlen von Kunst- und Luxusobjekten eine Sache gut aussehender Männer in perfekt sitzenden Anzügen. (Sarah Black alias The Bishop in Red Notice von 2021, ist bisher eine der ganz wenigen Frauen im Business.) Ihre Motivation, sich als agil-eleganter Fassadenkletterer oder als Mastermind eines komplizierten Heists den  Kunstbesitz anderer Leute oder gleich die Kunstschätze einer Nation anzueignen, sind nicht einfach materieller Natur. Mindestens so wichtig sind die intellektuelle und sportliche Herausforderung, Sicherungssystem und Wächter zu überwinden, sowie der Trieb, dieses spezielle Objekt besitzen zu müssen. Kunstraub erscheint als von gutem Geschmack und ästhetischer Reizbarkeit geadelte Zwangsneurose oder als die eigentlich höchste Form des Sammelns. 

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Verpuffter Skandal – Wie ein Schlüsselroman scheitern kann

von Johannes Franzen

 

Die Art, wie wir Literatur konsumieren, ist immer geprägt von einer gewissen Unaufrichtigkeit. Es gibt die Dinge, die wir mögen sollen, und die Dinge, die wir wirklich mögen. Der Schlüsselroman etwa, in dem es darum geht, reale Vorbilder hinter den scheinbar fiktiven Figuren zu entschlüsseln, ist eine dieser Gattungen, bei denen die Diskrepanz zwischen dem schlechten Ruf einerseits und der konstant hohen Nachfrage andererseits auf die Heucheleien ästhetischer Wertsetzung verweist. Das Ratespiel, das uns verspricht, dass hinter den fiktiven Figuren reale Vorbildern lauern, verstößt natürlich in jeder Hinsicht gegen die Reinheit der Kunst. Statt uns an schönen Sätzen oder psychologischer Tiefe zu erfreuen, weiden wir uns am boulevardesken Trash, am indiskreten Geheimnisverrat. Der Roman – doch eigentlich die bestimmende Kunstform der Moderne – wird hier degradiert zum Vehikel für das Waschen schmutziger Wäsche.  Weiterlesen