von Kae Schwarz
Kann man einen Massenmord begehen, indem man eine Unterschrift auf ein Stück Papier setzt? Im Frühjahr 1956 versuchte die junge Philosophin Elizabeth Anscombe, die Dons aus den Colleges von Oxford davon zu überzeugen, dass die Antwort darauf nur “Ja” sein könne. “Die Frauen führen etwas im Schilde” gaben die Männer untereinander weiter, als sie auf dem Weg in die Bodleian Library waren, um über die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Harry S. Truman abzustimmen – und vor allem, um Anscombe zu überstimmen. Für Anscombe war klar, dass Truman es nicht verdient hatte, von der Universität gewürdigt zu werden, weil er für den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verantwortlich war. Sie war keine Pazifistin und bestritt auch nicht, dass Trumans Entscheidung den Krieg verkürzt und Tote auf beiden Seiten erspart habe. Dennoch war sie der Überzeugung, dass er für den Tod Unschuldiger verantwortlich sei, und dass dies die Verleihung eines Ehrendoktortitels ausschließe.
Die Szene bildet den Einstieg in das Buch Metaphysical Animals. How four women brought philosophy back to life von Clare Mac Cumhaill und Rachael Wiseman, das die Freundschaft und die intellektuelle Entwicklung von vier in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen Frauen schildert. Viele Motive, die diese Schilderung bestimmen, treten in der Szene besonders zugespitzt zutage: Da ist eine Frau, die eine von Traditionen beherrschte Männerwelt betritt und sich weigert, den in diesen Traditionen verwurzelten männlichen Erwartungen an sie zu entsprechen. Elizabeth Anscombe, die von einer langen Reihe von Pfarrersfrauen abstammte, hatte der anglikanischen Konfession abgeschworen und war zum Katholizismus konvertiert. Obwohl sie verheiratet war, bestand sie auf die Anrede “Miss” und trat unter ihrem Mädchennamen Anscombe auf, ließ sich also nicht durch ihre Beziehung zu einem Mann definieren. Bei ihren Vorlesungen trug sie, entgegen der ausdrücklichen Regeln der Universität und zum Entsetzen vieler, Hosen statt Röcke, und ihre Argumente gegen die Verleihung des Ehrendoktortitels an Truman brachte sie nicht auf Latein vor (das sie vollendet beherrschte) sondern auf Englisch und dazu wortwörtlich ungeschminkt: “Das Haar lang und ungepflegt, sauberes Gesicht, kein Make-Up, formlose Kleidung”.
Gegen die in dieser Männerwelt für selbstverständlich gehaltenen Ansichten argumentierte Anscombe mit intellektueller Präzision und begrifflicher Klarheit. Ihre Argumentation basierte auf der Einsicht, dass Handlungen nicht isoliert aus sich selbst heraus verstanden und anhand abstrakter Prinzipien beurteilt werden können, sondern in Strukturen des menschlichen Lebens eingebettet sein müssen. In “Metaphysical Animals.” erzählen Mac Cumhaill und Wiseman, wie sich Elizabeth Anscombe, Philippa Foot, Mary Midgley und Iris Murdoch die akademische Position und das theoretische Rüstzeug erkämpften, um die von Männern etablierten Selbstverständlichkeiten der modernen Philosophie ins Wanken zu bringen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte eine Art des Denkens die englische Philosophie, die sich aus zwei Quellen speiste: dem sogenannten Common-Sense-Realismus und dem sprachanalytischen Paradigma des Wiener Kreises (dessen Geschichte David Edmonds in “Die Ermordung des Professor Schlick” sehr lesenwert schildert). Der Common-Sense-Realismus hatte es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, die Bedeutung moralischer Ausdrücke zu analysieren. So kam etwa George Edward Moore in seinem Werk “Principia Ethica” zu dem Schluss, dass der Ausdruck “gut” nicht analysierbar sei und daher auch nicht definiert werden könne. Angenommen, so Moore, wir sagten, dass “gut” erklärt werden könne, durch einen anderen “natürlichen”, also nicht wertenden Ausdruck wie etwa “lustbringend”. Das würde bedeuten, dass das Urteil “Dies ist gut” durch den Satz “Dies ist lustbringend” begründet werden könne. Moore hielt dies nicht für überzeugend, was er durch das sogenannte “Argument der offenen Frage” zeigen wollte. Denn wenn “gut” durch “lustbringend” erklärt werden könne, dann wäre es unsinnig zu fragen “Dies bringt Lust, aber ist es auch gut?” Moore hielt es jedoch für offensichtlich, dass diese Frage sinnvoll gestellt werden könne. Die Antwort darauf sei nicht offensichtlich. Daher sei es eine besondere Art von Fehler, von beschreibenden auf wertende Aussagen schließen zu wollen. Moore nannte diesen Fehler den “Naturalistischen Fehlschluss”.
Wenn moralische Urteile nicht durch beschreibende Urteile begründet werden können, wie wissen wir dann, was gut ist? Moore war der Ansicht, dass Menschen über eine besondere Art von Erkenntnisfähigkeit verfügten, die sie unmittelbar erkennen ließe, was gut ist, und die er “rationale Intuition” nannte. Die Frage “Woher weißt du, dass das gut ist?” wäre dann vergleichbar mit der Frage “Woher weißt du, dass das gelb ist?” Alles, was man darauf antworten kann, wäre “Guck doch hin! Siehst du es denn nicht?”
Zwei Kollegen Moores, Harold Prichard und David Ross, versuchten den Ausdruck “gut” gänzlich aus der moralischen Sprache zu verbannen und nur noch von dem “Richtigen” oder “Falschen” zu sprechen. Moralisch zu handeln habe etwas mit Pflicht und Regeln zu tun, nicht mit den Absichten und dem Charakter der handelnden Person, und unsere Pflichten würden wir durch rationale Intuition sofort erkennen. Iris Murdoch, die in Prichards Vorlesungen saß, hielt diese Art des Philosophierens für “oberflächliche, alberne Milch-und-Wasser-Ethik”. Ein Großteil ihres philosophischen Lebenswerkes sollte darin bestehen, eine Moralphilosophie zu formulieren, die mehr Substanz besitzt.
Das sprachanalytische Paradigma bestand darin, die logische Form von Aussagen zu untersuchen, um festzustellen, wo das Denken in die Irre führt. Die Sätze “Hunde sind Säugetiere” und “Großzügigkeit ist gut” sehen aus wie dieselbe Art von Sätzen. In beiden Fällen wird eine Klasse von Gegenständen bezeichnet und allen Gegenständen dieser Klasse eine Eigenschaft zugeschrieben. Der Wiener Kreis war jedoch der Ansicht, dass diese oberflächliche Gleichheit eine Täuschung sei, denn während Hunde und die Eigenschaft, Säugetier zu sein, beobachtbar sind, gelte dies nicht für Großzügigkeit und die Eigenschaft, gut zu sein. Dementsprechend sah der Wiener Kreis die Aufgabe der Philosophie darin, die Oberfläche von Aussagen zu durchbrechen und zu ihrem logischen Kern vorzustoßen, um das Sagbare vom Nichtsagbaren abzugrenzen.
Die Logikerin Susan Stebbing war die erste, die das Potential einer Synthese des Common-Sense-Realismus mit der Methode des Wiener Kreises erkannte. Sie hatte die Idee, die analytische Methode auf Aussagen und Tatsachen anzuwenden, und so die fundamentale Struktur der Alltagserfahrung offenzulegen. Dabei griff sie den emanzipatorischen Impuls des Wiener Kreises auf. Sie hoffte, Propaganda und Desinformation den Boden entziehen zu können, wenn man der breiten Öffentlichkeit beibringen konnte, zu fragen “Was bedeutet das denn eigentlich?” Es war jedoch nicht Stebbing, die in die Geschichte einging als diejenige, die das Denken des Wiener Kreises nach England brachte, sondern Alfred Jules (“Freddy”) Ayer.
Ayer verbrachte in den 1930er Jahren einige Zeit in Wien, wo er den Diskussionen des Kreises beiwohnte, ohne jedoch viel zu verstehen – sein Deutsch reichte nicht aus. Obwohl er aus den Treffen nicht viel mitnahm, und dies auch freimütig eingestand, war er davon überzeugt, alles Wichtige begriffen zu haben. Zurück in England schrieb er ein Buch mit dem Titel “Wahrheit, Sprache und Logik”, in dem er die Methode des Wiener Kreises erklärte und auf verschiedene Probleme der Philosophie anwandte. Ein Kapitel des Buches widmete er der Ethik und der Religion, über die er ein vernichtendes Urteil fällte: Wenn der Wiener Kreis Recht damit hat, dass moralische Aussagen gar nicht richtig oder falsch sein können, was tun wir dann, wenn wir solche Aussagen machen? Ayer erklärte, wir würden einfach unsere Gefühle zu den betreffenden Sachverhalten zum Ausdruck bringen. Wenn ich sage “Tiere zu quälen ist schlecht” ist das nichts anderes als wenn ich sage “Tiere quälen” und dabei das Gesicht verziehe oder mit dem Daumen nach unten zeige.
In den Folgejahren wurde Ayers Synthese von Empirismus und Sprachanalyse, die Mary Midgley als “reinen Unkrautvernichter” bezeichnete, in den Common Rooms von Oxford und Cambridge äußerst einflussreich. Laut Platon beginnt die Philosophie mit dem Staunen, also der Faszination für das Nichtverstandene und das Nichtverstehen. Durch Ayer kamen die jungen Nachwuchswissenschaftler darauf, dass der Ausruf “Ich verstehe das nicht” der vernichtende Zug in jeder Debatte sein konnte. Man musste nur sagen “Aber was soll das denn heißen?”, und schon galt die These, auf die sich die Frage bezog, als nicht mehr salonfähig. “Die Art von Neugierde und Erstaunen, die Mary, Iris und Elizabeth zur Philosophie geführt hatten, war zu einem Zeichen peinlicher Naivität erklärt worden.”
Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Die jungen Männer, die sich angewöhnt hatten, die Debatte durch den Schlachtruf “Ich verstehe das nicht” zum Verstummen zu bringen, wurden einberufen oder meldeten sich freiwillig. Zurück blieben die Frauen, die älteren Männer, von denen viele noch Vertreter der idealistischen Philosophie nach Hegel waren, gegen die sich der Common-Sense-Realismus vor allem richtete, und einige Wehrdienstverweigerer. Ein Vertreter des Idealismus war Donald MacKinnon, der auf seine Weise ähnlich suspekt und nonkonformistisch war wie das Quartett, um das es in dem Buch geht. MacKinnon gehörte zur jüngeren Generation, hatte aber den Wehrdienst zunächst aus Gewissensgründen verweigert. Als er seine Ansicht später änderte, wurde er wegen seines Asthma für untauglich erklärt. In Oxford war er Tutor und unterrichtete zunächst Philippa Foot (die damals noch Bosanquet hieß) und später Murdoch, Anscombe und Midgley (damals noch Scrutton).
Das Gefährliche an Ayers Unkrautvernichter sei, so erklärte MacKinnon seinen Studentinnen, dass er das menschliche Leben auf die Manipulation von Symbolen reduziere. Für Ayer seien Menschen Rechenmaschinen, die logische Operationen ausführen in einer Welt, die nur noch aus “Atomen und Leere” (Demokrit) bestehe. Doch Menschen seien Metaphysische Tiere – reine Provokation, war “Metaphysik” für die Vertreter der analytischen Methode doch die ultimative Beleidigung – und “Metaphysische Tiere brauchen es, über das Transzendente, den Menschlichen Geist und das Unbegrenzte zu sprechen.”
Einen ganz ähnlichen Gedanken sollte Iris Murdoch später in ihrer Kritik an der Moralphilosophie der analytischen Schule, aber auch an der Jean-Paul Sartres vorbringen, zwischen denen sie eine große Ähnlichkeit erkannte. Beide reduzierten die handelnde Person auf den reinen Willen, der in einer Welt, die selbst frei von Werten und Bedeutsamkeit ist, radikal frei entscheidet und sich allenfalls an einem unpersönlichen Regelwerk orientiert. In ihrem Aufsatz “The Idea of Perfection” stellt sie fest, dass diesen Theorien nach moralisches Handeln wie Einkaufen ist:
“Ich betrete das Geschäft in vollkommener Freiheit, beurteile die Eigenschaften der Waren objektiv und wähle. Je größer meine Objektivität und mein Unterscheidungsvermögen sind, desto größer ist die Zahl der Produkte, aus denen ich wählen kann. […] Die Vernunft arbeitet mit neutralen Beschreibungen und zielt darauf ab, der häufig erwähnte ideale Beobachter zu sein. Die Wertterminologie ist das Vorrecht des Willens; aber da der Wille eine reine Entscheidung, eine reine Bewegung ist, und nicht ein Gedanke oder eine Art des Sehens, benötigt der Wille eigentlich nur Handlungswörter wie „gut“ oder „richtig“. […] Die moderne Ethik analysiert “gut“, das leere Handlungswort, das das Korrelat des isolierten Willens ist […].”
Personen im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es nicht mehr, nur noch den Input durch die Wahrnehmung der wertfreien Wirklichkeit und das radikal freie Entscheiden oder die Verarbeitung durch die Algorithmen moralischer Regeln. In dem Aufsatz “On ‘God’ and ‘Good’” erklärt sie, wie es dazu kommen konnte: “Dies ist bis zu einem gewissen Grad ein natürliches Ergebnis des Verschwindens eines permanenten Hintergrunds für die menschliche Aktivität: ein permanenter Hintergrund, sei es von Gott, der Vernunft, der Geschichte oder dem eigenen Ich bereitgestellt. Der*die Akteur*in, dünn wie eine Nadel, erscheint im schnellen Aufblitzen des wählenden Willens.” Dagegen setzte Murdoch die Idee, dass Moralität vor allem in der Wahrnehmung ihren Ort habe. Es ginge nicht darum, einem unpersönlichen System von Regeln zu folgen, und diese nach einem logischen Kalkül auf Situationen anzuwenden. Vielmehr sei entscheidend, andere Menschen in ihrer jeweiligen Individualität ganz genau zu sehen. Sie nannte dies einen “gerechten und liebevollen Blick, gerichtet auf eine individuelle Wirklichkeit”.
Das Verschwinden dieses Hintergrundes war Ayers Unkrautvernichter zu verdanken. Die idealistische Philosophie hatte ihr Projekt als die Untersuchung eben dieses permanenten Hintergrundes verstanden, vor dem sich das menschliche Leben abspielt. Doch diese Art zu philosophieren galt als überholt. Das philosophische Lebenswerk von Murdoch, Anscombe, Foot und Midgley sollte darin bestehen, diesen Hintergrund wiederzugewinnen und die Moralphilosophie “in ihren angestammten Boden zurückzuverpflanzen”, wie Mac Cumhaill und Wiseman es formulieren.
Aber worin sollte dieser Hintergrund bestehen? Denn der Glaube an eine übergeordnete Instanz, die Maßstäbe des Guten und Schlechten setzt, schien angesichts des Krieges keine gangbare Option mehr zu sein. Der permanente Hintergrund sollte daher nichts anderes sein als die allgemeine Struktur des menschlichen Lebens. Harry S. Truman bewegt seine Hand mit einem Füller über ein Stück Papier, sodass eine ganz bestimmte Tintenlinie entsteht – was tut er? Er unterzeichnet einen Befehl. Er erfüllt seine Funktion als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte. Er kommt seinem Wahlversprechen nach, den Krieg zu gewinnen. Er befiehlt den Tod von mehr als einhunderttausend Zivilist*innen. In ihrem Buch “Absicht”, das als erster Text der modernen Handlungstheorie gilt, argumentiert Anscombe, dass jede dieser Beschreibungen wahr ist. Truman unterzeichnet einen Befehl, erfüllt seine Funktion als Befehlshaber, kommt seinem Wahlversprechen nach, tötet Unschuldige, indem er den Füller über das Papier bewegt. Und dies ist möglich, weil diese Bewegung eingebettet ist in eine ganz spezifische Struktur des menschlichen Lebens. Und deswegen sei es auch möglich, wie Anscombe in ihrem Vortrag erklärte, der später unter dem Titel “Mr. Truman’s Degree” veröffentlicht wurde, dass ein eher mittelmäßiger Mensch außergewöhnlich bösartige Dinge tun kann, ohne dadurch beeindruckend zu werden.
Aber wie lässt sich aus dieser Struktur des menschlichen Lebens herleiten, was gut und schlecht ist? Dieser Frage widmete sich vor allem Philippa Foot, aber auch Elizabeth Anscombe (und ihr Ehemann Peter Geach). Sie griffen dabei eine Idee auf, die von Aristoteles stammt. Aristoteles argumentierte, dass jedes Lebewesen einer Lebensform zugeordnet werden kann, aus der sich ergibt, was gut für dieses Lebewesen ist. Die Lebensform ist dabei der Inbegriff der Weisen, in der sich das Leben des Lebewesens vollzieht. So gehört es zur Lebensform von Störchen, im Winter nach Afrika zu fliegen und im Frühjahr zurückzukehren, und zur Lebensform von Eichenbäumen, im Herbst ihre Blätter abzuwerfen und im Frühjahr neue wachsen zu lassen. Diese Aussagen haben sowohl eine beschreibende wie auch eine wertende Funktion. Sie sagen etwas darüber aus, wie das typische Storchen- oder Eichenleben aussieht und wie es aussehen sollte. Wenn ein Storch im Herbst nach Afrika fliegt, müssen wir nicht erklären, warum er es tut, denn das ist, was Störche nun einmal tun. Wenn eine Eiche im Frühjahr keine frischen Triebe ausbildet, dann müssen wir dafür eine Erklärung finden, und die wird wahrscheinlich darin bestehen, dass im Leben der Eiche etwas schiefgegangen ist (vielleicht ist sie durch Pestizide nicht mehr in der Lage, oder ihr fehlt es wegen der Klimakrise an Wasser). Das Leben einer Eiche, die im Frühjahr keine neuen Triebe ausbildet, ist in der Regel ein schlechtes Eichenleben.
Aristoteles, Anscombe und Foot versuchen zu zeigen, dass wir auf dieselbe Weise auch Aussagen über das typische menschliche Leben machen können. In ihrem Aufsatz “On Promising and its Justice” fragt Anscombe danach, warum Versprechen bindend sind. Ihre Antwort ist, dass es zu einem typischen menschlichen Leben gehört, andere zu Handlungen zu veranlassen. (Harry Truman setzt seine Unterschrift auf ein Stück Papier, und kurze Zeit später und tausende Kilometer entfernt vergehen die Menschen von Hiroshima im radioaktiven Feuer. Dies ist nur möglich, weil eine ganze Reihe von Personen die Verbindlichkeit von Trumans Befehl anerkannten.)
Anscombe stellt in dem Aufsatz fest, dass diese Art von Kooperation nicht durch Zwang zustande kommen könne. Ich kann die Hand eines Menschen packen und so über das Papier bewegen, dass dort eine Linie erscheint, ich kann aber nicht auf dieselbe Weise bewirken, dass dort seine Unterschrift erscheint. Ein (gutes) menschliches Leben ist ohne eine ganz bestimmte Art von Kooperation nicht vorstellbar, und für diese ist es erforderlich, dass Menschen die Verbindlichkeit von Versprechen (und eine ganze Reihe anderer moralischer Verhaltensweisen) anerkennen. Anscombes Ehemann Peter Geach brachte es so auf den Punkt: Die Menschen brauchen die Tugenden wie die Bienen ihre Stachel.
Auch Mary Midgley verfolgte die Idee, dass wir Menschen nicht außerhalb der natürlichen Welt stehen, sondern Teil von ihr sind. In Beast and Man erklärt sie, dass wir Menschen Tiere wie alle anderen auch sind. Dabei wendet sie sich aber entschieden gegen jede biologistische Verkürzung dieser These, wie etwa sozialdarwinistische Gedanken oder die Behauptung, dass egoistische Handlungen “natürlich” seien. In dem Aufsatz Freedom and Heredity argumentiert sie, dass zwischen Biologie und Freiheit, Körper und Geist gar kein Widerspruch bestünde. Denn Freiheit, so Midgley, bedeute die Freiheit zu etwas. Um frei zu sein, müsse es etwas geben, für das man sich entscheiden kann. Dies ist aber nur möglich, weil wir als körperliche Wesen in einer Welt aus Materie leben.
In ihrem Spätwerk Die Natur des Guten ringt Philippa Foot mit der Frage, worin ein gutes Leben für Menschen besteht, und was der Zusammenhang zwischen den Tugenden und einem guten Leben ist. Der Begriff des guten Lebens ist dabei mehrdeutig, denn er kann einmal das moralisch gute Leben bezeichnen und einmal ein Leben, das erfüllt ist und von der betreffenden Person auch als gut erlebt wird. Darüber hinaus kann er auch in dem Sinne verstanden werden, der oben schon erwähnt wurde: das gute Leben als eines, das der menschlichen Lebensform angemessen ist.
Der Anspruch von Foot ist dabei, zu zeigen, dass diese drei Bedeutungen zusammenfallen: das gute Leben für Menschen ist eines, das sich inhaltlich aus der menschlichen Lebensform erschließen lässt, zu dem die Ausbildung der Tugenden gehört, und das erfüllt ist, weil es ein tugendhaftes Leben in Übereinstimmung mit der menschlichen Lebensform ist. Auch wenn vor allem der Schluss des Buches, in dem Foot den Begriff eines erfüllten Lebens diskutiert, keine abschließende Antwort geben kann, ist das Buch dennoch wegweisend für die neo-aristotelische Moralphilosophie.
Mac Cumhaill und Wiseman gelingt es dabei sehr gut, diese teilweise sehr anspruchsvollen theoretischen Überlegungen so einfließen zu lassen, dass sie den Lesefluss nicht unterbrechen, verständlich erklärt werden und trotzdem nicht oberflächlich oder vereinfacht dargestellt werden. Das Buch ist in erster Linie eines über das Leben und die Freundschaft von vier außergewöhnlichen Frauen. Die Philosophie gehört deswegen dazu, weil sie zu dem Leben der vier Frauen gehörte.
Das Buch begleitet die vier von den späten Dreißiger Jahren durch den Krieg und die Nachkriegszeit bis in die Mitte der Fünfziger Jahre. Die Episode um die Ehrendoktorwürde für Harry Truman bildet den Einstieg und den Abschluss des Buches und rahmt die Erzählung somit ein. Mac Cumhaill und Wiseman zitieren ausführlich aus Briefen, Tagebucheinträgen und anderen Schriftstücken des Quartetts. Auf diese Weise können Leser*innen die Entstehung der Freundschaft zwischen den vier Frauen und die Entwicklung ihrer philosophischen Positionen mitverfolgen. Dazu flechten sie Kurzporträts anderer Personen ein, wie etwa Ayer und MacKinnon oder auch der Leiterinnen der Mädchenschulen und Colleges, welche die vier besuchten. Dadurch entsteht ein lebendiges Panorama der universitären Gesellschaft in Oxford und Cambridge, in das die Biographie eingebettet wird.
Dabei wird von Anfang an deutlich, dass diese Gesellschaft für Frauen nicht viel übrig hatte. Das erste Kapitel trägt den Titel “Auf Bewährung” und zitiert damit eine Bemerkung von Vera Farnell, Dekanin des Somerville-College, das Midgley und Murdoch besuchten: Frauen seien an der Universität Oxford immer noch auf Bewährung und müssten auf jede ihrer Handlungen genau achten. Philosophie ist nicht ladylike – gegen diese Vorstellung mussten die vier Freundinnen immer wieder ankämpfen. Manchmal im Kreise ihrer eigenen Familie: Esther Bosanquet, die Mutter von Philippa Foot und Tochter von US-Präsident Grover Cleveland war so überzeugt davon, dass ihre Tochter Philippa noch im hohen Alter und als international renommierte Philosophin in Interviews immer wieder betonte, sie sei “clever” aber nicht “intelligent”.
Mac Cumhaill und Wiseman schaffen es sehr gut, diese tiefsitzenden Vorurteile gegenüber Frauen in der Wissenschaft darzustellen, ohne dabei ihrerseits in Vorurteile zu verfallen. Es wäre vielleicht allzu einfach, hier den Gegensatz aufzumachen zwischen einer Art des Philosophierens, die einem “männlichen” Ideal folgt, und der “weiblichen” Kritik daran. Auf der einen Seite eine Methode, die sich der rationalen, distanzierten Logik verpflichtet sieht, auf der anderen Seite der Fokus auf das Organische und die Forderung, sich das menschliche Leben in all seinen Verworrenheiten und Uneindeutigkeiten genau anzusehen. Doch anstatt diesem Bild zu erliegen, beschränken sich Mac Cumhaill und Wiseman darauf, die Geschichte der Freundschaft zwischen den vier Frauen zu erzählen, die unvermeidlich auch eine Geschichte ihrer philosophischen Entwicklung ist.
Der Untertitel des Buches “How Four Women Brought Philosophy Back to Life” kann auf zwei Arten gelesen werden. Einmal kann er so gedeutet werden, dass die vier die tote Philosophie wieder zum Leben erweckt haben. Er kann aber auch so verstanden werden, dass sie die Philosophie wieder zurück zum menschlichen Leben gebracht haben, von dem sie sich entfremdet hatte. Im Verlauf des Buches wird klar, dass beide Versionen zutreffen.
Wer die philosophischen Positionen des Quartetts schon kennt, wird in dem Buch eine ausgezeichnet recherchierte und kurzweilig geschriebene Biographie finden. Wer die philosophischen Positionen des Quartetts noch nicht kennt, wird in dem Buch nicht nur diese Biographie finden, sondern auch eine erste Einführung in die neo-aristotelische Moralphilosophie. Heute handelt es sich bei dieser um eine einflussreiche Strömung der Moralphilosophie, in der die anspruchsvolle Frage des Sokrates, wie zu leben sei, ernsthaft diskutiert wird, in der Überzeugung, dass sie nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet werden kann.
Clare Mac Cumhaill und Rachael Wiseman: Metaphysical Animals. How four women brought philosophy back to life. Penguin Books. Deutsch: The Quartet. Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten. C.H. Beck.