„Ein Schriftsteller ist seinem Gewissen verpflichtet“ – Über die Anklage gegen den kurdischen Autor Yavuz Ekinci

von Gerrit Wustmann

Ende August erhielt der Istanbuler Schriftsteller Yavuz Ekinci die Art von Post, die in der Türkei seit Jahren hunderte Menschen täglich erhalten: Eine Anklageschrift nebst erstem Gerichtstermin, für Ekinci am 9. September. Siebeneinhalb Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft. Der Grund: Tweets von 2014, in denen Ekinci Solidarität mit den in Syrien gegen die IS-Terroristen kämpfenden Kurden signalisierte. Illegal ist an diesen Tweets freilich nichts, aber das spielt für die Willkürjustiz des Erdoğan-Regimes keine Rolle.

Zur Erinnerung: Ende 2014 marschierten die IS-Truppen auf den nahe der türkisch-syrischen Grenze gelegenen Ort Kobane (Arabisch: Ayn al-Arab) zu, Teil kurdischen Selbstverwaltung Rojava. Diese kurdische Pufferzone war dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Dorn im Auge. Er wollte ein autonomes kurdisches Gebiet um jeden Preis verhindern. Deshalb griff die türkische Armee nicht ein. Soldaten und Panzer der Türkei standen auf türkischer Seite in Sichtweite von Kobane und warteten darauf, dass der IS seine blutige Arbeit verrichtete, während die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die in Syrien gemeinsam mit den USA den IS bekämpften, auf sich alleine gestellt blieben. 

Später, als der IS in Kobane einmarschierte, kursierten Filmaufnahmen im Netz, die türkische Grenzsoldaten im Plausch mit den Extremisten zeigten, und der aufkeimende Verdacht sollte sich bald bestätigen: Es stellte sich heraus, dass verletzte Islamisten in türkischen Krankenhäusern behandelt wurden, während die Armee auf über die Grenze flüchtende Kurden schoss. Wenig später konnte die Tageszeitung Cumhuriyet beweisen, dass der türkische Geheimdienst MIT Waffen über die Grenze lieferte. Mit den Extremisten von damals macht die türkische Armee in Syrien heute längst ganz offen gemeinsame Sache. Der damalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar wurde verhaftet, vor Gericht wurde ein Anschlag auf ihn verübt. Er lebt heute im Exil in Deutschland.

Die YPG sind ein syrischer Ableger der PKK und gelten der türkischen Regierung damit als Terrororganisation. Dass die YPG den türkischen Großmachtansprüchen in Syrien und der türkischen Kooperation mit Islamistengruppen entgegensteht, macht sie für Ankara zum Feind. Dass die Türkei NATO-Mitglied ist und die YPG lange Jahre Partner der USA waren, spielt dabei keine Rolle, es ist einer der unzähligen kaum aufzulösenden Widersprüche in der Region. 

Wer sich mit der YPG (oder jeglichen anderen Gruppen, die von der türkischen Regierungspartei AKP als feindlich eingestuft werden) solidarisiert, gilt schnell selbst als ‘Terrorist’ oder ‘Terrorunterstützer’, Journalisten, die darüber Berichten, werden reihenweise wegen ‘Verbreitung von Terrorpropaganda’ vor Gericht gezerrt, ebenso wie zehntausende Bürger*innen, die irgendetwas vermeintlich Verfängliches auf Twitter oder Facebook von sich gegeben haben. 

So ist das in einem Staat, in dem Presse und Justiz längst gleichgeschaltet sind und jeder, der auch nur ansatzweise in den Verdacht gerät, mit dem Präsidentenpalast nicht konform zu gehen, gefährlich lebt. Den Kölner Sozialarbeiter und Journalisten Adil Demirci erwischte es, weil er Jahre zuvor eine Beerdigung einer linksextremen Gruppe besucht hatte, um darüber zu berichten. 

Ekinci postete damals auf Twitter Bilder von YPG-Kämpfern in Kobane und versah sie mit den Hashtags #BijiBerxwedanaKobani und #BijiYpg, was soviel heißt wie “Lang lebe der Widerstand von Kobane” und “Lang lebe die YPG”. Er stellte sich damit offen an die Seite derjenigen, die die kleine Stadt gegen die Terroristen des IS zu verteidigen suchten. Es war eine Reaktion, die viele in aller Welt damals in den sozialen Netzwerken zeigten. Wer es in der Türkei tat, wurde früher oder später dafür belangt. 

Yavuz Ekinci, selbst Kurde, ist eine jener bedächtigen intellektuellen Stimmen, die das Regime zum Schweigen bringen will. Seine Bücher sind erfolgreich bei Leser*innen in der Türkei. Zwei liegen auch auf Deutsch vor, beide bei Kunstmann in der Übersetzung von Oliver Kontny, und hoffentlich folgen noch weitere.

Zuerst erschien 2017 der Roman „Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam“: Die Geschichte einer kleinen Dorfgemeinschaft, die den Einmarsch einer feindlichen Armee erwartet. Die Ereignisse im Buch bilden wohl nicht zufällig Parallelen zur Situation in Kobane, aber auch zur Situation vieler kurdischer Dörfer im Südosten der Türkei, die in den letzten Jahrzehnten und auch in jüngerer Zeit der Brutalität und Willkür der türkischen Truppen ausgesetzt waren – man denke an die Belagerung von Sur und Cizre und die dortigen Kriegsverbrechen, über die auch Aslı Erdoğan so beklemmende wie anklagende Texte geschrieben hat (für die sie ebenfalls erst inhaftiert und dann ins Exil getrieben wurde).

Das Dorf am Fuß des Berges Amar könnte ein anatolisches Idyll sein. Eine kleine Gemeinschaft, deren Personal Yavuz Ekinci Seite für Seite anekdotenhaft lebendig werden lässt. Da sind die Kinder, die sich raufen, die Fußball spielen und mit den Westernhelden im Fernsehen mitfiebern. Da sind Cemal und Havva, die sich trotz des oft rauen Lebens ihre Liebe bewahrt haben. Da ist Eyüps Sohn Amar, der seit dem Tod seiner geliebten Schmuni jeden Tag auf dem Friedhof verbringt und mit ihrem Grabstein spricht – sehr zum Missfallen des örtlichen Imams, der das als Zweifel an Gottes Entscheidungen rügt. Da ist der alte Eyüp selbst, der im Sterben liegt, den Blick auf einen Wandteppich, auf dem die Geschichte seines Tals dargestellt ist. Eine Geschichte von Krieg und Vertreibung. „Sie kommen!“ ruft jemand vom Dorfplatz, und Eyüp hört es im Schlafzimmer und weiß: Er hat nicht mehr viel Zeit, so oder so. Sie werden vom Berg Amar herabkommen und auch sein Dorf niederbrennen, die Frauen vergewaltigen, die Männer und die Kinder töten. So wie sie es in all den anderen Dörfern getan haben.

2019 folgt „Die Tränen des Propheten“. Im Zentrum steht ein nerdiger Informatiker mit dem bezeichnenden Namen Mehdi, der an seinem Mitgefühl zergeht, der das Leid der Menschen erlebt, als sei es sein eigenes. Er sucht vergeblich sein Heil in den Schriften der Weltreligionen und den Wahrheiten der Dichter. Er würde so gern eine Botschaft des Friedens unter die Leute bringen, aber mit weniger als hundert Followern bei Twitter und Instagram will das nicht so recht funktionieren. Und aus dem Haus kommt er, sehr zum Gram seiner Frau und seiner Tochter, auch nicht, denn seit Kindestagen plagt ihn ein schmerzhaftes Hühnerauge, und die Panik, jemand könnte drauftreten, lähmt ihn völlig.

Bis ihm eines Nachts der Erzengel Gabriel einen Besuch abstattet und ihn tatsächlich zum neuen Propheten kürt. Die Sache hat nur einen Haken: Niemand nimmt Mehdi ernst. Man hält ihn mal für einen nervigen, mal für einen liebenswürdigen Spinner. Jesus und Muhammad hätten es heutzutage wohl etwas schwerer als zu ihrer Zeit.

Ekinci schickt seinen Helden in eine Welt, in der die Propheten durch Instagram-Influencer ersetzt wurden, Kriege zur Normalität gehören und einer, der sich eine ganz andere Welt vorstellt nur geisteskrank sein kann. Der schmale Grat zwischen urkomischem Schelmenroman und einem resignierten Blick auf die Menschheit gelingt Ekinci dabei so überzeugend, dass man Seite für Seite gezwungen wird, seine Positionen zu hinterfragen, zu überdenken, worüber man da eigentlich lacht.

Zugleich fächert er ein anspielungsreiches Panorama der Religionskritik auf, indem er Mehdi durch die Mythen der Theologien stolpern lässt und ihn zeitweise zum unfreiwilligen Hamlet macht. Ekincis Romane gehören mit zum Besten, was die junge Literatur der Türkei zu bieten hat. Und es sind mit ihrem Autor letztlich auch seine Bücher, die nun vor Gericht stehen, wenn auch nicht explizit.

„Ich habe keine Angst“, sagt Yavuz Ekinci, als ich ihn frage, wie es ihm geht. „Weder vor dieser Klage, noch vor zukünftigen Klagen. Ich bin ein Schriftsteller. Ein Schriftsteller ist seinem Gewissen verpflichtet. Ich gehöre keiner Partei und keiner Organisation an. Parteien und Organisationen können höchstens meine Leser sein. Wie Whitman schon sagte: ‚Ich frage einen verletzte Menschen nicht, wie es ihm geht, ich werde selbst zu dem verletzten Mensch.‘ Ich blicke auf die Welt wie Walt Whitman. Ich stehe auf der Seite der Menschen und des Lebens.“

 

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