Erfahrungen und Widersprüche – Zum hundertsten Geburtstag Franz Fühmanns

von Lukas Betzler

Vor hundert Jahren, am 15. Januar 1922, wurde Franz Fühmann im böhmischen Rokytnice nad Jizerou (Rochlitz an der Iser) geboren. Fühmann wurde einst zu den bedeutendsten Schriftsteller:innen der DDR gezählt und auch im Westen gelesen, wo seine Werke vor allem bei Suhrkamp und Luchterhand erschienen. Heute hingegen, knapp 38 Jahre nach seinem Tod, ist er weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur unter denjenigen, die in der DDR aufwuchsen, hat sein Name noch einen vertrauteren Klang, denn es gab dort in den siebziger und achtziger Jahren wohl kaum ein Kind, das keine seiner Kindergeschichten oder Mythen-Nacherzählungen kannte. Aber diese Lektüren liegen schon weit zurück und werden nur bei wenigen seither erneuert worden sein. Auf dem Radar der Literaturkritik und -wissenschaft befindet sich Fühmann, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sowieso schon seit längerer Zeit nicht mehr. Daran hat bislang auch der Umstand wenig geändert, dass Fühmann von Schriftsteller:innen wie Marcel Beyer, Annett Gröschner, Peter Härtling oder Ingo Schulze zu ihren wichtigsten Vorbildern gezählt wird. Die „Fühmann-Renaissance“, von der Stephan Krause schon 2018 auf literaturkritik.de angesichts zahlreicher neuer Veröffentlichungen zu Fühmann freudig schrieb, ist bedauerlicherweise immer noch mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Fühmanns Werk, von dem ein bedeutender Teil – aber bei weitem nicht alles – in einer von ihm selbst autorisierten achtbändigen Werkausgabe vorliegt, ist von ungeheuer großer Bandbreite. Er schrieb Gedichte und übersetzte Lyrik aus dem Tschechischen und Ungarischen, er verfasste Erzählungen und Kinderbücher, erzählte Märchen, Mythen und Bibelgeschichten nach und schrieb nicht zuletzt herausragende Essays zu Literatur und Kunst. Kurzum: Es ist nicht möglich, dieses Werk auf einen Nenner zu bringen. Und doch gibt es einen Aspekt, der sich, aller Brüche und Widersprüche zum Trotz, wie ein roter Faden durch Fühmanns Werk hindurchzieht: das Nachdenken über Auschwitz. Nicht zuletzt in diesem Umstand liegt begründet, weshalb Fühmanns Werk uns heute interessieren muss.

Vom glühenden Nazi zum Sozialisten

Die zentrale Stelle, die Auschwitz in Fühmanns Werk einnimmt, hängt unlösbar mit seiner Biografie zusammen, in der sich die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln. 1922 geboren und in der „rüde[n] nationalistisch-faschistische[n] Lebenssphäre“ des Sudetenlands aufgewachsen, wurde Fühmann schon früh ein überzeugter Nationalsozialist. Im Alter von 16 Jahren trat er in Liberec (Reichenberg) in die Reiterstaffel der SA ein und beteiligte sich dort an der Reichspogromnacht des November 1938. Mit 17 Jahren meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, in die er schließlich 1941, mit 19 Jahren, eingezogen wurde. Er wurde zum Fernschreiber und Telefonisten ausgebildet und war als solcher Mitglied der deutschen Besatzungstruppen in der Ukraine und in Griechenland. Dass er im Krieg eigener Aussage zufolge keine Grausamkeiten beging, verdankte er dem „gütige[n] Geschick“, nie den Befehl dazu erhalten zu haben.

Bundesarchiv, Bild 183-M0323-0300 / Katscherowski (verehel. Stark), / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Im Mai 1945 kam Fühmann in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Bis zuletzt hatte er an den „Endsieg“ geglaubt. Noch wenige Monate zuvor waren von ihm verfasste Gedichte in der NS-Wochenzeitung Das Reich erschienen. Nun las er im Gefangenenlager im Kaukasus Lenin und Lukács und erfuhr, seinen späteren Schilderungen zufolge, durch die Nürnberger Prozesse vom grauenhaften Ausmaß der industriellen Massenvernichtung in Auschwitz. Er verlor darüber seine faschistische Überzeugung und ersetzte sie durch die Prinzipien des historischen Materialismus. Diese Prinzipien lernte er auf der Antifa-Zentralschule in Noginsk bei Moskau, an die er 1946 delegiert worden war, und machte sie sich so gründlich zu eigen, dass er nicht nur bis zum Lehrgruppenleiter aufstieg, sondern auch schon 1948 in einem Gastbeitrag für das Neue Deutschland einen zuvor dort erschienenen Text über „Die Kunst als Aufgabe“ als „unmarxistisch“, „der marxistisch-leninistischen Lehre widersprechend“ und somit „grundfalsch“ abqualifizieren konnte.

Fühmanns Wandlung vom glühenden Nazi zum stalintreuen Sozialisten wird häufig als „Konversion“ bezeichnet, als Übertritt von einem dualistischen Wertesystem in ein anderes. Das binäre Freund-Feind-Denken, die eindeutigen moralischen Kategorien gut und böse, schädlich und nützlich, richtig und falsch hatten Nationalsozialismus und Stalinismus gemeinsam. Sicher war die Wandlung zum Sozialisten daher auch eine Konversion, und Fühmann hat das später schärfer an sich selbst kritisiert als jeder andere. Rückblickend betonte er, dass er damals zwar glaubte, sich grundlegend gewandelt zu haben, dass er aber einige Denkweisen aus der Zeit des Nationalsozialismus, etwa seine „Verachtung der Demokratie“, seinen „unbedingten Autoritätsglauben“ und sein „großes ideologisches Gläubigkeitsbedürfnis“, zunächst beibehielt – und dass diese Denkweisen „der neuen Gesellschaft gar nicht unwillkommen“ waren.

Aber trotz fortbestehender autoritärer Einstellungen war Fühmann doch „auf die andere Seite der Barrikade [ge]wechselt“, nämlich von jenen, die Auschwitz betrieben, zu jenen, die es befreit hatten. „[D]amit ist der Prozeß [der Wandlung] noch nicht beendet, doch ohne diesen Wechsel wäre er nicht denkbar“, gab Fühmann in einem Interview zu Protokoll. Noch mehr als zwanzig Jahre später, in seinem Prosaband Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, schrieb er: „Ich bin gleich Tausenden andren meiner Generation zum Sozialismus nicht über den proletarischen Klassenkampf oder von der marxistischen Theorie her, ich bin über Auschwitz in die andre Gesellschaftsordnung gekommen. […] Die neue Gesellschaftsordnung war zu Auschwitz das Andere; über die Gaskammer bin ich zu ihr gekommen […].“ Und auch wenn Fühmann zunehmend erkannte, dass diese neue Gesellschaftsordnung keineswegs frei von Kontinuitäten zum Nationalsozialismus war, behielt er die Überzeugung, dass der Sozialismus die notwendige Konsequenz aus Auschwitz sei, bis zum Ende seines Lebens bei. Im Jahr 1982 teilte er dem Münchner Publikum anlässlich der Entgegennahme des Geschwister-Scholl-Preises mit: „[…] und wenn ich auch – was kein Geheimnis ist – mich mit diesem meinem Staat und Führungskräften meiner Gesellschaft in konflikthaften Dissensen befinde […], so stehe ich doch hier vor Ihnen als dieses Staates Bürger aus freiem Willen, in freier Entscheidung, auf Grund meines Nachdenkens über Auschwitz, und aus diesem Grunde als Sozialist.“

Ein Autor mit lehrhafter Absicht

Die Frage, welche Konsequenzen er als Schriftsteller aus Auschwitz zu ziehen habe, war für Fühmann anfangs ebenfalls leicht zu beantworten. Im Dezember 1949 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft zurück, trat der neu gegründeten National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) bei – einer Blockpartei, die vor allem als Sammelbecken für ehemalige Wehrmachtsangehörige und NSDAP-Mitglieder diente, – und stieg dort binnen kurzer Zeit zum Kulturfunktionär auf. Er schrieb zahllose Artikel für die Parteizeitungen der NDPD und veröffentlichte daneben Gedichtbände und erste Erzählungen. Fühmann glaubte, dass die Folgerung aus Auschwitz für einen Schriftsteller darin bestehen müsse, seine Literatur voll und ganz in den Dienst des aufzubauenden sozialistischen Staates zu stellen – was paradoxerweise implizierte, zu Auschwitz selbst möglichst zu schweigen, selbst dann, wenn seine Literatur von der Zeit des Nationalsozialismus erzählte. Ein didaktisches, politisch-instrumentelles Verständnis von Literatur prägte die ersten Jahre seines Schaffens, und Fühmann verwarf später vieles von dem, was er in den fünfziger Jahren geschrieben hatte. Doch auch wenn Fühmanns Literatur aus dieser Zeit immer eine „lehrhafte Absicht“ hatte, schloss das literarische Qualität und Konsequenz keineswegs aus: In der Lyrik können dafür etwa die beiden auf Grimm’schen Märchen basierenden Gedichte Lob des Ungehorsams und In Frau Trudes Haus stehen. In der Prosa sind es vor allem Fühmanns antifaschistische Erzählungen, darunter der, wie Marcel Reich-Ranicki im Jahr 1967 in der Zeit urteilte, „virtuos geschriebene“ Text Das Gottesgericht von 1957.

1958 wurde Fühmann infolge verschiedener Konflikte aus dem Vorstand der NDPD ausgeschlossen. Er beendete damit seine Karriere als Funktionär und begann seine Laufbahn als freier Schriftsteller. Mit Reportagen und Erzählungen (allen voran Kabelkran und Blauer Peter, einer Erzählung von einer Rostocker Werft) folgte er dem 1959 beschlossenen Bitterfelder Weg, auf den es ihn nach eigener Aussage sowieso drängte. Außerdem schrieb er zwei seiner populärsten Kindergeschichten: Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte (1959) und Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (1960). Es folgten produktive Jahre, in denen Fühmann zahlreiche Bücher für Kinder schrieb, aber mit Das Judenauto (1962) und König Ödipus (1966) auch wieder zum Thema seiner ersten Erzählungen zurückfand: dem Nationalsozialismus und seinen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen. Doch Fühmann geriet zunehmend in Konflikt mit seinem Staat, insbesondere nach dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees der SED von 1965, auf dem eine restriktive Kulturpolitik beschlossen wurde. 1967 zählte Reich-Ranicki ihn schon „zu den enttäuschten und verbitterten Künstlern in der DDR, wenn nicht gar zu jener leisen, leidenden literarischen Opposition“. Als im Sommer 1968 Panzer der Sowjetunion den Prager Frühling niederschlugen, spitzte sich diese Situation krisenhaft zu. Fühmann stand kurz vor dem Zusammenbruch, unterzog sich einer Alkoholentziehungskur in einer Rostocker Psychiatrie und ging aus dieser schweren Krise stark verändert hervor. In einem 1971 selbstverfassten Lebenslauf drückt sich diese Veränderung in einer trockenen Notiz aus: „prinzipielle Veränderung der Arbeitsweise“.

„… du kommst von Auschwitz nicht los“

Diese Veränderung der Arbeitsweise fasste Fühmann rückblickend als eine Entwicklung „weg von der didaktischen Literatur und hin zu der Literatur in ihren Möglichkeiten überhaupt“. Schon der Erzählband Der Jongleur im Kino von 1970 war ein Versuch, so weit und tief wie möglich in die Erinnerung hinabzusteigen. Ans Äußerste ging er in diesem Versuch dann aber mit dem Prosaband Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, der 1973 erschien. Ursprünglich als „heiteres Büchlein für Ungarn-Besucher“ geplant, wuchs es sich zu einer rigorosen literarischen Selbstbefragung aus. Tagebuchartige Aufzeichnungen von Erlebnissen und Begegnungen wechseln sich darin mit Aphorismen, Denkbildern, Sprachspielen, poetologischen und vor allem biografischen Reflexionen ab. Den Kern dieser Reflexionen bildet das eigene Verhältnis zu Auschwitz. „Meine Generation ist über Auschwitz zum Sozialismus gekommen. Alles Nachdenken über unsre Wandlung muß vor der Gaskammer anfangen, genau da“, schreibt Fühmann. Was das in seinem Fall bedeutet, ist eine unnachgiebige Selbstbezichtigung: „Gesetzt du wärest nach Auschwitz kommandiert worden, was hättest du dort getan?“, fragt sich Fühmann, und antwortet: „Ich war […] wie Hunderttausende meinesgleichen ein junger Faschist, habe wie sie gedacht, empfunden, geträumt, gehandelt und hätte in Auschwitz nichts anderes getan als die anderen auch und hätte es wie sie ‚meine Pflicht‘ genannt.“

Die Frage, wie einer mit der Erkenntnis leben könne, dass er, und sei es mittelbar, an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden beteiligt war, wurde zum zentralen Problem von Fühmanns Schreiben: „Du kannst tun, was du willst, du kommst von Auschwitz nicht mehr los“.

Schreiben und Scham

Fühmann verkörperte als Schriftsteller den Widerspruch, der ihm zufolge das Schreiben ausmacht: „Schreiben ist nicht etwas, das man muß, doch nur, wenn man es muß, ist es schreiben.“ Wenn Fühmann über seine Arbeit sprach oder schrieb, entsteht das Bild eines Menschen, der nicht anders kann als zu schreiben, auch wenn er daran leidet. „Schreiben ist qualvoll“, bekannte er etwa 1982 in einem Gespräch mit Klaus Antes. Mit Unverständnis reagierte er, wenn andere versicherten, wie viel Spaß ihnen das Schreiben mache. Oft betonte er auch, wie quälend langsam er mit seiner Arbeit vorankomme. Er schrieb „schneckenhaft langsam, nämlich zeilenweise als Tagwerk“ und arbeitete ewig an seinen oft endlos langen hypotaktischen Sätzen. Seine Typoskripte überarbeitete er mit Schere, Papier und Kleber so häufig, dass sie am Ende hart und bis zu fingerdick waren. Fühmann selbst nannte sie „Bretter“.

Wohl einer der Hauptgründe für dieses langsame Tempo war, neben der kompromisslosen Suche nach Wahrheit, die Scham. Fühmann schrieb voller Scham, gleichermaßen aus Scham heraus und gegen die Scham an. In Zweiundzwanzig Tage reflektierte er dieses grundlegende Problem des Schreibens: „Ein Gedicht, ein Stück, ein Buch, das man nicht schreiben muß, soll man einer guten Regel zufolge ungeschrieben lassen, aber man soll auch jede Schreibarbeit weglegen, bei deren Zustandekommen man nicht gegen Gefühle der Scham anzukämpfen gehabt hat. […] ‚Der Verlust von Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn‘ (Freud; sinngemäß). Ich will keine schwachsinnigen Bücher“.

Scham, Scheu und das Anerkennen von (gesellschaftlichen wie persönlichen) Tabus sind für Fühmann somit die Voraussetzung des Schreibens, eine ebenso ästhetische wie moralische Notwendigkeit – gerade für einen deutschen Schriftsteller nach Auschwitz, wie Fühmann 1982 in einem Interview hervorhob: „Der ehemalige Nazijunge, letzten Endes ein Verteidiger von Auschwitz auf der einen Seite – und auf der anderen jene, die eben die Flammen von Auschwitz gelöscht haben. Da entstand eine natürliche Scheu, Kritik zu üben. Übrigens sind bestimmte Positionen meines inneren Zensors wahrscheinlich unüberwindbar, in zweierlei Hinsicht: Ich würde nie etwas schreiben können mit einer negativen Aussage in bezug auf die Rote Armee, und ich würde nie ein Wort der Kritik äußern können am jüdischen Staat, welche Regierung auch immer ihn führe.“ 

Lesen als Erfahrung

An dem nur schwer einer Gattung zuzuordnenden Prosawerk Zweiundzwanzig Tage lässt sich eine Tendenz ausmachen, die sich bei Fühmann in den siebziger Jahren mehr und mehr durchsetzte: die Tendenz zum essayistischen Schreiben. Seine Essays zu Literatur und Kunst – genannt seien die Essaysammlung Erfahrungen und Widersprüche (1975) und natürlich sein mehr als zweihundert Seiten langer Essay Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht (1982) – müssen keinen Vergleich zu den großen Essayist:innen des 20. Jahrhunderts scheuen. Sie sind Ausdruck einer zunehmend souveränen kritischen Haltung, die den Konflikt mit der politischen Führung der DDR nicht scheute. Fühmann setzte sich vor allem für jüngere Kolleg:innen wie Uwe Kolbe und Wolfgang Hilbig ein und gehörte 1976 zu den Erstunterzeichner:innen einer Protestnote gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.

In seinen Essays zeigt sich Fühmann aber nicht zuletzt auch als sensibler, kritischer, genauer Leser. Er gibt mit ihnen geradezu ein Beispiel des Lesens, ein Modell, wie zu lesen sei. Das Lesen nimmt er dabei ebenso ernst wie sein Schreiben, denn in der Literatur – der gelesenen wie der selbst geschriebenen – ahnte er „jenes Andere […], das den Menschen auch nach Auschwitz nicht aufgab, weil es immer das Andere zu Auschwitz ist“.

Die Grundlage von Fühmanns eigenem Lesen ist eine geduldige, genaue, wiederholte, ja, manchmal geradezu rücksichtslose Lektüre. In seinem Trakl-Essay zitiert er Trakls Gedichte jeweils mehrfach, einige Verse gar dutzendfach. In Vademecum für Leser von Zaubersprüchen, einem Essay über Sarah Kirschs 1973 erschienenen Gedichtband, deutet er unter anderem ihr Gedicht Ich wollte meinen König töten und verwendet dabei allein auf den ersten Vers fünf Seiten. „Es ist ja nicht wahr, daß man Gedichten nicht zusetzen dürfe. Ich gestehe: dem da habe ich zugesetzt, und es mir“, kommentiert er.

Die Bereitschaft, sich von Literatur zusetzen zu lassen, also die Fähigkeit, Literatur als etwas zu erfahren, das einen betrifft, ist der Kern von Fühmanns Modell des Lesens. Es geht nicht um Betroffenheit, sondern um Betroffensein aufgrund einer in der Literatur zum Ausdruck kommenden menschlichen Erfahrung – und diese Erfahrung lässt sich auch in so weit von der heutigen Wirklichkeit entfernt erscheinenden Texten wie jenen der antiken Mythologie entdecken. Fühmanns neben jenem über Trakl berühmtester Essay, Das mythische Elemente in der Literatur von 1974, sucht nach den Gründen und Ursachen für unser „Bewegtsein, Angerührtsein, Gepacktsein, Ergriffensein“ durch Literatur und findet sie eben in ihrem ‚mythischen Element‘, das es ermöglicht, „individuelle Erfahrung […] an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen“. Zum prägnanten Ausdruck dieser Erfahrung mit Literatur wird ihm der lateinische Satz „tua res agitur“ – auf Deutsch in etwa ‚um deine Sache geht es‘, ‚deine Sache wird hier verhandelt‘.

Die Sache, die Fühmann als die seine begreift, ist zuvorderst das Problem der Wandlung und des Widerspruchs vor dem Hintergrund von Auschwitz. Dieser Erfahrungshintergrund zeigt sich in seinem Essay über den jüdisch-ungarischen Dichter Miklós Radnóti, der 1944 von der SS erschossen wurde und in seinen im Lager entstandenen Gedichten „sein eigenes Ausgelöschtwerden“ schilderte, oder dem Essay über František Halas, der im von den Nazis besetzten Tschechien dichtete. Aber er zeigt sich besonders auch in Fühmanns Blick auf die deutsche Literaturgeschichte; denn auch Literatur, die vor Auschwitz entstanden ist, bleibt für Fühmann vom Zivilisationsbruch nicht unberührt. Wenn er etwa das vermeintlich harmlose Abendlied von Matthias Claudius liest, die ersten beiden Strophen mit dem aufsteigenden weißen Nebel und der „holden Kammer“, die sich auf „Jammer“ reimt, dann fällt Fühmann das Wort ‚Gaskammer‘ ein. Er entdeckt in Claudius’ Gedicht „die entsetzliche Ahnung, daß eine Welt, die allen noch heil scheint, einen Riß hat, durch den Kälte strömt“ und betont, dass man daher „Auschwitz in sein Gedicht einfügen kann, zwar mit Entsetzen, doch ohne ihm Gewalt anzutun“. Wenn Fühmann E.T.A. Hoffmanns Schauergeschichten liest, lassen ihn dessen unheimliche Übeltäter, denen man ihre Boshaftigkeit nicht ansieht, an die NS-Verbrecher denken: „Das ist ja eben das Unheimliche, daß die Eichmanns und Mulkas aussehn wie Herr Müller […].“ Und Georg Trakl, den er erstmals kurz vor Kriegsende im Mai 1945 las, scheint ihm, etwa mit dem Vers „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“ aus dem Gedicht Grodek, die von den Deutschen verübten Gräuel vorausgeahnt zu haben, von deren ganzen Ausmaß Fühmann kurz darauf im Kriegsgefangenenlager erfahren sollte: „Grodek liegt vor Auschwitz“.

Nicht jede Literatur kann im Lesenden die Erfahrung des tua res agitur auslösen. Denn die Bedingung dafür wäre, so Fühmanns Überzeugung, dass in ihr Widersprüche nicht getilgt, sondern entfaltet und ausgetragen werden, womit er sich gegen eine Doktrin des Sozialistischen Realismus positionierte, die von der Literatur positive Helden und gelöste Konflikte fordert. Was passieren kann, wenn ein:e Leser:in mit derart widerspruchsvoller Literatur konfrontiert ist, demonstriert Fühmann in seiner Erzählung „Pavlos Papierbuch“ aus Saiäns-Fiktschen (1981). In Fühmanns dystopischen Geschichten aus diesem Band ist das Weltall im vierten Jahrtausend in zwei verfeindete Teile gespalten: Uniterr und Libroterr, grotesken Versionen von Realsozialismus und Kapitalismus. Pavlo lebt in Uniterr, wo es kaum Bücher mehr gibt, jedenfalls keine aus Papier. Doch eines der wenigen, nämlich insgesamt nur 31 verfügbaren Papierbücher aus längst vergangener Zeit bekommt er eines Tages in die Hände. Es trägt den Titel In schwerer Zeit und enthält drei Erzählungen: Kafkas „In der Strafkolonie“, „Die Marter der Hoffnung“ von Auguste de Villiers de l’Isle-Adam und „Der Nasenstüber“, die von Fühmann selbst verfasste Geschichte eines KZ-Häftlings, der monatelang gedemütigt und in den Wahnsinn getrieben wird, indem er jeden Morgen vom Aufseher einen Nasenstüber erhält. Pavlo liest diese drei Geschichten, die sich von der Literatur, die er kennt, so sehr unterscheiden, voller Verwirrung, aber auch voller Faszination: „wie durch das Gefühl gebannt, als erzähle ihm jemand ein Geschehnis, das sich mit ihm, Pavlo selber, ereignet, er hatte es bislang nur noch nicht gewußt“. Es ist kaum übertrieben, hierin eine der größten Leseszenen der Literaturgeschichte zu sehen, und ihr Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sie in der von Fühmann selbst eingelesenen (und auf Youtube verfügbaren) Aufnahme hört. Als Pavlo die Lektüre beendet hat, fühlt er sich „wie nach einem Schlag in die Magengrube“, und ein ganz ähnliches Gefühl kann die Geschichte auch in ihren Leser:innen (oder Hörer:innen) hinterlassen.

Unabgegoltenes Leid, uneingelöste Hoffnung

Wer heute Fühmann liest, befindet sich in einer ganz ähnlichen Rolle wie Pavlo in seiner Lektüre des Papierbuchs. Was da zu lesen ist, ist ungewohnt, fremd, bisweilen unverständlich. Und dennoch kann man an Fühmanns Literatur genau jene Erfahrung des tua res agitur machen, die er selbst an der Literatur von Autoren wie Hoffmann und Trakl, an Mythen und Märchen machte; denn Fühmanns Literatur gibt Modelle menschlicher Erfahrung in all ihren Widersprüchen. Wie Pavlo mit seinem 1500 Jahre alten Papierbuch wird man in Bezug auf Fühmanns Literatur mit dem Einwand rechnen müssen, dass diese Literatur doch aus einer längst vergangenen Zeit, aus einem untergegangenen Land stamme. Man wird sagen, dass uns diese Erfahrungen und Widersprüche heute, mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR, gar nichts mehr angingen, nicht mehr von ‚unserer Sache‘ handeln könnten. Doch wenn Fühmann etwas gezeigt hat, dann die trotz allem Wandel bestehenden Kontinuitäten, die Gegenwart der Vergangenheit im Heute. Das Leid, das ihn zum Schreiben zwang, ist immer noch unabgegolten, die Widersprüche unausgetragen, die Hoffnungen uneingelöst.

Im Deutschland von heute kann ein ehemaliger Bundeskanzler, der konsequent die Wehrmacht verherrlichte und seine eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus relativierte, auf seiner Trauerfeier von einem, der inzwischen sein Nachfolger geworden ist, als Beispiel „scheinbar unbegrenzte[r] moralische[r] Autorität“ gewürdigt werden; hier verschweigt ein Literaturnobelpreisträger, eine ebensolche ‚moralische Autorität‘, seine SS-Mitgliedschaft jahrzehntelang, verbraucht seine ‚letzte Tinte‘ aber für antisemitische Projektionen auf Israel; und hier wird mittlerweile, und sei es auch aus hehren antirassistischen Motiven, die Erinnerung an Auschwitz als „Deutscher Katechismus“ angegriffen. In solch einer Gesellschaft, die sich dabei in grotesker Selbstverkennung als vorbildlichen „Erinnerungsweltmeister“ begreift, kommt Fühmanns Literatur unverminderte Aktualität zu.

Fühmann mit seiner Vorliebe für Zahlenspiele und Mathematik sah die 22, die das Jahr seiner Geburt angibt, gerne als seine Glückszahl an. Und selbst wenn man an Zahlenmagie nicht glaubt – die Voraussetzungen für eine Wiederentdeckung durch ein größeres Publikum in diesem Jahr  sind gut: Im Hinstorff-Verlag ist Fühmanns achtbändige Werkausgabe ebenso verfügbar wie neu aufgelegte Einzelausgaben vieler Werke; zudem liegen dort wunderbar neu illustrierte Kinderbücher und Mythen-Nacherzählungen vor. Und auch die Bedingungen für eine intensivere literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Fühmann sind günstig: Mehrere Briefwechsel Fühmanns sind bereits ediert. Sein Nachlass liegt gut erschlossen im Archiv der Akademie der Künste, seine umfangreiche Bibliothek befindet sich in den Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Und für nächstes Jahr ist im Metzler-Verlag ein Fühmann-Handbuch angekündigt. Der Wunsch nach einer Fühmann-Renaissance könnte somit erfreulicherweise Wirklichkeit werden.

Beitragsbild von Dan Novac

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