von Berit Glanz
43 Jahre nach John Lennons Ermordung im Dezember 1980 und 22 Jahre nach dem Tod von George Harrison wurde Anfang November zum vermutlich allerletzten Mal ein Beatles-Song veröffentlicht. Das Interesse für den neuen Song zeigt sich in den vielen Millionen Aufrufen bei den etablierten Streaming Plattformen. Auch das von Peter Jackson gedrehte Musikvideo zum Song wurde bereits viele Millionen mal angeklickt. Für Fans der Beatles war das jetzt erschienene Lied keine Überraschung, war er doch bereits in den 1990er Jahren als möglicher neuer Beatles-Song im Gespräch gewesen. Damals wurde die Arbeit an “Now and Then” jedoch abgebrochen, weil die Aufnahmebänder zu stark rauschten und George Harrison unzufrieden mit der Aufnahmequalität war. Auf den 1995 und 1996 veröffentlichten Anthology-Alben gab es deswegen nur zwei neu produzierte Songs: “Free as Bird” und “Real Love.”
Für alle drei nach Lennons Tod produzierten Beatles-Songs waren Aufnahmebänder, die Yoko Ono an McCartney weitergegeben hatte, die Grundlage. Die Lieder sind also keine Lennon/McCartney Ko-Produktionen, sondern Solostücke von Lennon, die durch nachträgliche Überarbeitung und Produktion zu Beatles-Songs gemacht wurden. Schon damals wurde die merkwürdige Geisterhaftigkeit der Songs kritisiert. Lennons Stimme klingt tatsächlich etwas hohl, die Aufnahmequalität der Bänder ließ sich trotz technischer Fortschritte nicht ausgleichen. In den Charts konnten sich die zwei für Anthology veröffentlichten Songs nicht ganz so stark durchsetzen, wie man es von Beatles-Songs erwartet hatte.
Für mich als Teenager waren die beiden neuen Beatles-Lieder jedoch eine Offenbarung, weil sie mein zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre währendes Fandom in die Gegenwart holten. Gleichzeitig verwies der unheimliche Sound von Lennons Stimme darauf, dass diese Band überhaupt nichts in dieser Gegenwart verloren hatte. Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, meine frühen Teenage-Jahre mit einem völlig hypertrophierten Beatles-Fandom zu verbringen, aber irgendwann war ich auf Beatles Schallplatten gestoßen und hatte meine eigene Boyband gefunden. Während der supermelodiöse Pop von Take That die Charts dominierte und mit Nirvana eigentlich der heilige Gral performativen Außenseitertums für rebellierende Teenager zur Verfügung stand, verwendete ich meine Zeit auf Bleistiftportraits der einzelnen Beatles, ein detaillierter Linolschnitt mit Paul McCartneys Gesicht vergilbt vermutlich gerade noch in einer meiner Schubladen.
Fandom für Bands der Vergangenheit hat immer auch den Nebeneffekt, dass man damit die eigene Distanz vom Zeitgeist markieren kann. Man hört eben nicht das, was gerade modisch ist, sondern imaginiert sich in eine andere Dekade. Teenager verwenden seit jeher nostalgische Retro-Ästhetiken, um einen Ausdruck für das eigene Entfremdungsgefühl zu finden. Dass ich als Teeanger deswegen von gerührten Alt-68ern mit Schallplatten beschenkt wurde, nahm ich Nebeneffekt gerne in Kauf. Der menschgewordene Empfehlungsalgorithmus – Wenn du die Beatles magst könntest du auch Deep Purple gut finden – verfehlte jedoch das Ziel, denn natürlich ging es bei meinem Fandom nicht um den Sound einer Dekade, sondern um das Schwärmen für Musiker aus der Vergangenheit, die gerade wegen ihrer Unerreichbarkeit attraktiv erschienen.
Meine Fantasien und Träume kreisten natürlich nicht um den von mir als beinahe peinlich alt empfundenen Paul McCartney oder den grauhaarigen George Harrison der Gegenwart. Alle erotische Energie dieses Fandoms richtete sich auf Männer, die selbst in meinem Kopf schwarz-weiß und zweidimensional waren und deswegen auf keine Art und Weise bedrohlich für mein dreizehnjähriges Ich im Jugendzimmer (kein norwegisches Holz, dafür Buche-Furnier) der 1990er waren.
Einige Jahre später war ich einige Abende als Komparsin bei Beatles-Nostalgiekonzerten tätig und spielte eine von der Beatlemania ergriffene Jugendliche der 60er Jahre. Auf der Bühne in einer Gruppe junger Mädchen Sätze wie “Joooohn I love you” zu schreien, führte mir nochmal drastisch vor Augen, dass meine frühere Beatles-Obsession nicht viel damit zu tun hatte, Teil einer Manie sein zu wollen. Die Fan-Energie für eine schon lange vergangene Band war so zufriedenstellend, weil sie einer Schatzsuche glich: Ich las alle Bücher, die es zu den Beatles gab, sammelte alte Postkarten mit Beatles-Bildern und kaufte alle Beatles-Filme auf VHS, um sie dann unzählige Male anzuschauen. Mein Fandom war die Suche nach Geistern in historischem Material und zwischen den Zeilen der Texte. Deswegen passte die Geisterhaftigkeit der Anthology-Songs so gut zu dem Bedürfnis, das mein Fandom erfüllte: ziellose Nostalgie für Vergangenheitsfetzen, die ich als identitätsstiftend empfand.
Für diese Form von Hexenbrett-Nostalgie eignen sich Musikaufnahmen perfekt, denn Musik zu hören ist immer auch Geisterbeschwörung. Mit Hilfe von Speichermedien, Schallplatten, MP3s oder Notenblättern, kann Musik abgerufen werden, auch wenn die Komponist*innen schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ich denke oft daran, dass die initiale Reaktion vieler Menschen auf die Aufnahme ihrer eigenen Stimme, die der Phonograph im späten 19. Jahrhundert mit simplen Wachswalzen möglich gemacht hatte, faszinierter Grusel war. Es fällt aus heutiger Perspektive schwer sich vorzustellen, wie sich die ersten Begegnungen mit mediatisierten menschlichen Stimmen anfühlten. Wie es auf die Menschen wirkte, plötzlich der gespeicherten Stimme eines verstorbenen Menschen begegnen zu können. Der technische Wandel hatte eine neue Variante von Geistererscheinung möglich gemacht. Statt Musik ausschließlich live rezipieren zu können, war es nun möglich, aufgenommenen Stücken zu lauschen. Das Hören von Platten, später Musikkassetten, CDs und Live-Streams veränderte nicht nur die Musik selbst, sondern auch unsere Formen der Erinnerung.
Mit neuen Aufnahmentechnologien konnte man die Stimmen der Toten in seine private Räume holen, Musik wurde zu einer intimen Erfahrung, die auch den Trauerprozess veränderte, wenn beliebte Künstler*innen starben. Ich erinnere mich daran, wie ich am Todestag von Amy Winehouse ihr letztes Album rauf und runter hörte. Die stimmliche Präsenz der von mir sehr geschätzten Sängerin empfand ich als tröstliches Erbe, das niemand uns, ihren traurigen Fans, nehmen konnte. Dabei gibt es in der langen Musikgeschichte unzählige populäre Sänger*innen, deren Stimme niemals auf Tonträgern konserviert werden konnte, weil die Technologie zu ihrer Lebenszeit noch nicht entwickelt worden war.
Legendären Opernsängerinnen und -sänger, wie beispielsweise der schwedischen Operndiva Jenny Lind oder der in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreichen Schwarzen Opernsängerin Elizabeth Greenfield, können wir nur in den Beschreibungen ihrer Zeitgenossen begegnen. Die Geister aus der Zeit vor dem technologischen Durchbruch der Schallplattenaufnahme verweigern sich der Beschwörung auf den Plattentellern der Gegenwart. Findet der technologische Fortschritt erst nach tiefgreifenden kulturellen Veränderungen statt, dann verschwinden Musiktraditionen in der Geschichte. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tradition des Kastratengesangs, die für viele Jahrhunderte die Musik prägte.
Nicht nur Händels und Monteverdis Opern sind für Castrati geschrieben, bis in das 19. Jahrhundert hinein wurden Jungen „sopranisiert“, um den Stimmbruch zu verhindern und sie potenziell zu erfolgreichen Sängern zu machen – potenziell vor allem deswegen, weil unklar und in der Forschung umstritten ist, wie viele Kastrationen überhaupt vorgenommen wurden, weswegen sich nicht eindeutig sagen lässt, ob der schwere verstümmelnde Eingriff zwangsläufig eine gut bezahlte Karriere nach sich zog. Diese menschenunwürdige Praxis ist Gott sei Dank beendet, auch wenn das bedeutet, dass zu einem bestimmten Stil der Musikgeschichte gegenwärtig kein Zugang mehr gefunden werden kann. Von nur einem einzigen Kastratensänger existieren überhaupt Tonaufnahmen: Alessandro Moreschi singt auf zwei Aufnahmen aus den Jahren 1902 und 1904. Die Kastratenstimmen aus der Zeit des bel canto sind in der Vergangenheit verschwunden.
Die 90er Jahre, in denen aus den Lennon-Tonbandaufnahmen Beatles-Songs produziert wurden, sind auch das Jahrzehnt, in dem versucht wurde, eine Kastratenstimme mit Computern zu erzeugen. Für den Film Farinelli von 1994, der die Biographie des berühmten Sängers erzählt, wurde aus zwei modernen Gesangsstimmen, einer Sopranistin und einem Countertenor, eine künstliche Kastratenstimme gemischt und die Mareschi-Aufnahmen konsultiert.
Jeder technische Fortschritt im Bereich von Aufnahmetechnik und digitaler Bearbeitungsmöglichkeiten wird verwendet, um historische Stimmen in die Gegenwart zu transportieren. Der mit einem CT-Can modellierte Stimmapparat einer Mumie wurde vor einigen Jahren in Leeds mit dem 3D-Drucker nachgebildet, um zu hören, wie die vor 3000 Jahren verstorbene Person geklungen hat und auch die Stimme des Ötzis sollte mit technischen Mitteln wieder hörbar gemacht werden.
Die aktuelle Entwicklung im Bereich des maschinellen Lernens macht auch vor Stimmbearbeitungen nicht halt. Es werden jedoch nicht nur Stimmen der Gegenwart manipuliert, sondern auch historische Aufnahmen für eine gegenwärtige Rezeption nachbearbeitet. Die Aufnahmen des Kastraten Alessandro Moreschi wurden beispielsweise mit digitalen Mitteln geglättet und auf Youtube hochgeladen, wo in vielen Kommentaren Grusel über die akustische Begegnung mit dem historischen Phänomen geäußert wird.
Auch die schlechte Tonbandaufnahme von “Now and Then” wurde AI gestützt nachbearbeitet, sodass Tonlagen separiert werden konnten. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen war es Paul McCartney so wichtig zu betonen, dass die Musik in dem Lied vollständig real ist und alle vier Beatles an der Aufnahme beteiligt waren. Wie schon bei “Free as a Bird” und “Real Love” ist diese Authentizitätsbeteuerung meiner Meinung nach aber völlig unnötig, weil es bei den neu produzierten Beatles Songs viel eher um Geisterbeschwörung geht als um einen authentischen Bandauftritt.
Die unheimliche Gleichzeitigkeit des Nichtgleichzeitigen, die “Now and Then” schon im Titel enthält, wird in dem Musikvideo für den Song perfekt zum Ausdruck gebracht: Neben den alten Herren Ringo Starr und Paul McCartney tauchen alte Aufnahmen von Lennon und Harrison auf. Technischer Fortschritt wird für Zeitgenossen dann spannend, wenn er sich unheimlich anfühlt. Der britische Science-Fiction Autor Arthur Clarke hat das zu Beginn der 1970er als drittes seiner Clarkeschen Gesetze folgenderweise formuliert: “Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.” Mit Blick darauf haben die verbleibenden zwei Beatles es mit ihrem neuen Song geschafft, sich als Band jenseits der Limitierungen linearer Zeitlichkeit zu präsentieren und ihre eigenen Geister zu beschwören.