von Gerrit Wustmann
Es gibt ein Genre, über das man in Deutschland eher selten stolpert: Horror. Zugleich wird man in Buchhandlungen und Mediatheken von der Krimiflut regelrecht erschlagen, worunter letztlich sämtliche anderen Genres leiden. Der Krimi sitzt hierzulande so bombenfest auf seinem Thron wie die CSU in Bayern und ist meist ähnlich innovativ und originell. Man liest halt, was man kennt. Wir kennen das ja von den Übersetzungen: Alles, was nicht aus großen EU-Ländern oder Nordamerika kommt, bewegt sich meist in Kleinstauflagen. Die „Weltliteratur“-Bestenlisten bestehen durchweg aus Westliteratur. Und wenn doch mal Genre aus nichtwestlichen Ländern übersetzt wird, dann sind es, natürlich, Krimis.
Oft blicke ich aber, zugegeben, neidisch in die USA. Denn neben den Krimibestenlisten gibt es dort auch Bestenlisten aller denkbaren anderen Genres und Subgenres und Subsubgenres. Das mag sicher an der Tatsache liegen, dass der englischsprachige Buchmarkt um ein Vielfaches größer ist als der deutsche. Aber ein anderer Grund ist eine größere Aufgeschlossenheit einerseits, andererseits weniger Naserümpfen der Genreliteratur gegenüber. Man hat dort verstanden, dass Genre Literatur ist, wenn es gut gemacht ist, gut erzählt ist, etwas zu sagen hat.
Das Horror-Genre ist im deutschen Feuilleton quasi inexistent. In deutschen Buchhandlungen muss man es mit der Lupe suchen, von den Publikumsverlagen wird es inzwischen konsequent ignoriert (Bestseller-Garanten wie Stephen King mal ausgenommen, der in den letzten Jahren übrigens bisweilen bessere Krimis schreibt als viele hauptberufliche Krimiautor*innen). Eine Handvoll Kleinverlage wie Festa in Leipzig und Buchheim in Grimma haben die dunkle Phantastik fast vollständig übernommen, und so gut das auch ist – es ist unterm Strich zu wenig, zu Vieles bleibt unübersetzt, findet nicht mehr den Weg auf den deutschsprachigen Markt.
In den USA ist das Horrorgenre (das bis zum Erscheinen von Carrie, Der Exorzist, Rosemarys Baby und dem konsequent übersehenen, aber unbedingt in diese Reihe gehörenden „Das Stilett“ von William Hallahan, in der „Okkult“-Nische lief) um 1974 herum explodiert. Ein paar Bestseller und deren erfolgreiche Verfilmungen haben Verlage animiert, bis in die Neunziger Zehntausende Titel auf den Markt zu werfen, bis er restlos übersättigt war und alles zusammenbrach. Das Ergebnis waren Tonnen an hingeschluderter Schundliteratur, in deren Masse viele durchaus lesenswerte Titel untergingen und rasch vergessen wurden. Wie immer, wenn Konzernverlage auf einen Zug aufspringen und noch den letzten Dollar bzw. Euro rausquetschen – das ist bis heute nicht besser geworden, im Gegenteil.
Nach dem Zusammenbruch wanderte das Genre in den USA (und UK) in Kleinverlage. Im Rückblick war das gut so. Alle, die nur auf Zahlen und schnellen Erfolg schielten, sprangen von Bord, andere machten mit kleinerem Publikum weiter und im Zuge der Digitalisierung, von Print On Demand und Social Media wuchs eine neue Generation an Kleinstverlagen und Autor*innen heran, die sich einerseits ihrer literarischen Traditionen sehr bewusst waren und sind, sich andererseits auf eine Erneuerung des Genres stürzten. In den letzten Jahren werden viele davon im englischsprachigen Raum von größeren Verlagen und breiteren Publikumsschichten entdeckt. In Deutschland bleibt das bislang weitgehend aus.
Eine der seltenen Ausnahmen ist Stephen Graham Jones, von dem im Buchheim Verlag in limitierten Ausgaben wenigstens ein paar Bücher übersetzt vorliegen. Jones, der von seinen Leser*innen wahlweise SGJ oder Dr. Jones genannt wird (er unterrichtet Literatur an der University Of Colorado in Boulder), wurde 1972 geboren, ist Blackfeet und wurde in den Nullerjahren mit experimentellen Romanen wie „The Fast Red Road“, „The Bird Is Gone“ oder „Growing Up Dead In Texas“ als innovative neue Stimme der Native American Literature gefeiert. Wahrgenommen haben ihn damals nur wenige. Obwohl seine Produktivität schon damals beeindruckte (inzwischen hat er knapp 35 Bücher in zwanzig Jahren publiziert), bewegten sich seine Werke lange Zeit in kleinen Auflagen und kurzlebigen Verlagen wir Rugged Land oder Lazy Fascist Press. Die Blurbs kamen mehr von anderen Autor*innen als aus den Medien. Sein allererster Roman allerdings, den er bereits 1999 schrieb und der 2006 erstmals unter dem Titel „Demon Theory“ erschien, sollte mehr als alles andere die Richtung vorgeben: In Form eines Filmscripts mit hunderten Fußnoten verfasst, ist das Buch eine witzig-hintersinnige Hommage ans Slasher-Genre. Wenn schon Whodunit, dann Slasher, könnte man sagen.
Wirkliche auch internationale Aufmerksamkeit gab es aber erst um 2020, als sein Roman „The Only Good Indians“ bei Saga Press und damit in einem großen Publikumshaus erschien. Es gelingt Jones darin, sich einerseits erneut vor den Traditionen des Slashers zu verneigen, ihn andererseits formal und inhaltlich durch den Fleischwolf zu drehen und etwas zu erschaffen, das man so noch nicht gelesen hat. Und das, ohne seine Kernthemen abzugeben: Das Leben im Reservat, Rassismus und Ausgrenzung sowie Stammestraditionen und die Bewahrung der eigenen Kultur spielen eine zentrale Rolle. Ist das nun also Native American Horror? Nur dann, wenn man zwanghaft eine Schublade benötigt. Übrigens, zu den ersten Dingen, die man lernt, wenn man SGJ liest, gehört dies: Den Begriff „Native American“ benutzen nur Weiße, die unbedingt politisch korrekt sein wollen. Jones‘ Protagonist*innen hingegen nennen sich selbst konsequent ‚Indians“, haben sich das Wort zu Eigen gemacht, oder nutzen ihre spezifische Stammesbezeichnung, wie etwa Blackfeet.
In „My Heart Is A Chainsaw“ setzt er das konsequent fort. Protagonistin Jade, sechzehn Jahre alt, beobachtet, wie das Land ihrer Vorfahren von Baggern plattgemacht und gentrifiziert wird, den Geschichtsunterricht in der Schule und die ewigen Lobpreisungen auf Columbus nennt sie „Brainwashing 101“ (passend dazu schreibt Jones in Kooperation mit IDW seit 2022 den Comic „Earthdivers“, in dem seine Figuren in der Zeit zurückreisen, um Columbus zu töten). Jade ist natürlich Slasherfan. Von Streaming und DVDs hält sie nichts, was ihre umfangreiche VHS-Sammlung belegt, und als im beschaulichen Proofrock am Indian Lake zwei Teenager ermordet werden ist sie sicher: Ein Slasher ist in der Stadt. Jade muss nun schnell herausfinden, wer das Final Girl ist. An sich selbst denkt sie dabei natürlich erstmal nicht, derweil sich immer mehr Leichen auftürmen.
Es ist nicht nur diese geschickte Verknüpfung von zeitgeschichtlichen Inhalten und höchst unterhaltsamen Geschichten, was Jones‘ Schreiben ausmacht, sondern neben seiner mit wirklich niemandem sonst zu vergleichenden Sprache, seinem Hang zu unübersetzbaren Wortspielen und seiner Fähigkeit, noch dem Düstersten mit erfrischendem Humor zu begegnen, seine pure Freude daran, out of the box zu denken und seine Plots oft völlig gegen den Strich zu strukturieren, wodurch es ihm gelingt, einem relativ formstrengen Subgenre wie dem Slasher tatsächlich wieder und wieder Neues zu entlocken. Und wer jetzt denkt: Dann soll er das doch bitte, bitte auch mit dem verstaubten Krimigenre machen, der kann sich „Not For Nothing“ (2014) anschauen. Wobei da deutlich mehr hardboiled als ‚Tatort‘ drinsteckt, zum Glück.
In einem Interview auf seine Produktivität angesprochen, sagte er einmal, er schreibe bei jeder Gelegenheit, auch in der Mittagspause, an der Haltestelle, und wann auch sonst immer es möglich ist, schnell ein paar Sätze zu tippen und später ins Manuskript einzufügen. Schreibblockade? Kennt er nicht, denn wenn er in einer Story festhängt, kloppt er sie in die Tonne und fängt mit der nächsten an. Das Schreiben soll schließlich Spaß machen. Genau diese Haltung ist es, die sich überträgt, die man beim Lesen spürt. Da ist ein Autor, dem es ums Schreiben an sich geht und um die pure Freude an der Literatur.
Ob Tananarive Due, Jahrgang 1966, einen ähnlichen Arbeitsansatz hat, weiß man nicht Jedenfalls gelingt ihr etwas sehr Ähnliches wie SGJ: Sie verknüpft mitreißendes Erzählen mit harten Themen wie Rassismus und Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten. Dues erster Roman „The Between“ erschien bereits 1995 und blieb bis heute der einzige ins Deutsche übersetzte (unter dem Titel „Die Hand der Nana Kelly“ bei Heyne, übersetzt von Hans Schuld). Seither folgten acht weitere und zwei Storysammlungen. Ihr jüngster Roman, „The Reformatory“ (Titan Books 2023) basiert auf dem Leben ihres Großonkels Robert Stephens, nach dem sie auch den Protagonisten benannt hat. Er starb unter ungeklärten Umständen im Jahr 1937 in der Dozier School For Boys in Marianna, Florida.
Der Robert Stephens im Roman lebt in dem kleinen Kaff Gracetown, in dem viele von Dues Erzählungen angesiedelt sind, ein fiktiver prototypischer Ort der Ära der Jim-Crow-Gesetze, mit denen die schwarze Bevölkerung des Südens nach Abschaffung der Sklaverei weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und mit zahlreichen Repressionen belegt wurde. Als Robert seine ältere Schwester gegenüber dem Sohn des weißen Grundbesitzers McCormack verteidigt, wird er vom Richter in eine ‚Besserungsanstalt‘ geschickt, von denen es damals viele gab, und dass insbesondere schwarze Kinder die Zeit dort nicht überlebten, war keineswegs eine Seltenheit.
Den sehr realen und minutiös recherchierten Horror dieser Einrichtung und die gleichzeitigen Versuche von Roberts Schwester, ihn zu befreien, wobei sie durch alle Instanzen eines zutiefst rassistischen Staats- und Gesellschaftssystems geht, verwebt Tananarive Due geschickt mit einer Geistergeschichte in der Tradition der Southern Gothic: Die Geister all der Kinder, die an der Schule starben, also ermordet wurden, sind weiterhin da. Und sie wollen Rache. Aber nicht von den lebenden Kindern, wie Robert bald herausfindet. So wird aus „The Reformatory“ nicht nur ein finsterer historischer Roman um ein bis heute kaum aufgearbeitetes Thema, sondern auch ein versiert geschriebener Pageturner in Form einer sehr modernen Geistergeschichte, und man versteht rasch, weshalb Altmeister Peter Straub Due bereits 2003, anlässlich ihres Romans „The Good House“ als „eloquent, impassioned, great storyteller“ bezeichnete (und eben jener Roman sei auch allen zum Weiterlesen empfohlen, die nach „The Reformatory“ Nachschub brauchen; wer die kurze Form bevorzugt, werfe einen Blick auf „Ghost Summer“ von 2015 – die titelgebende Novelle ist ein Prequel zum „Reformatory“).
Apropos kurze Form, apropos Weltliteratur: So sehr man es auch damit assoziieren mag, das Horror-Genre ist keineswegs so ausschließlich amerikanisch-britisch, wie es mangels darüber hinausgehender Übersetzungen oft scheinen mag. Dass es in der lateinamerikanischen Literatur eine zentrale Rolle spielt, fällt gelegentlich unter den Tisch, weil Feuilleton und Literaturwissenschaft hier lieber vom „magischen Realismus“ sprechen. Als seien beispielsweise viele Werke von Carlos Fuentes nicht eben das: Horrorliteratur. Oder Kafka. Man wird auf dem ganzen amerikanischen Kontinent kaum eine Horrorautor*in finden, die nicht Kafka zu den wichtigsten Leseerfahrungen zählt, und tatsächlich fügen sich sehr viele seiner Geschichten, aber auch ein Roman wie „Das Schloss“ nahtlos ins Genre ein, arbeiten mit seinen Motiven. Man darf nicht den Fehler machen, den Begriff mit all den schlechten, effekthascherischen Filmen zu verbinden, denn literarisch ist das Genre wesentlich weiter gefasst und nicht zuletzt deshalb so interessant, weil es inhaltlich und formal kaum Grenzen kennt.
Nirgends wird das deutlicher als in der von James D. Jenkins und Ryan Cagle bei Valancourt Books edierten Anthologienreihe „World Horror Stories“, die in den USA sogar schon Unistoff geworden ist. Die beiden Herausgeber tun etwas, das vor ihnen noch niemand getan hat: Sie suchen das Genre auf der ganzen Welt, also auch in Asien und Afrika. Zu sehen, was Autor*innen aus Südkorea, China, Nigeria, Israel, Indien, Sengal und vielen weiteren Ländern unter „Horror“ verstehen, ist ein wahrer Schatz, Wenn lokale Erzählweisen und kulturelle Elemente sich mit bekannten oder auch ganz neuen Genre-Elementen verbinden, entsteht ein neuer Blick, ein neues Lesen, das auch vermeintlich ausgetretene Pfade der Literatur wieder spannend macht. Und wie sehr die großen Publikumsverlage irren, wenn sie diesen Blick über den Tellerrand scheuen, zeigt auch der Erfolg der Valancourt-Anthologien: Die „World Horror Stories“ sind die meistverkauften Titel des kleinen Verlags, sie laufen derart gut, dass Jenkins und Cagle von einigen der Autor*innen (zuletzt etwa Bernardo Esquincas „The Secret Life Of Insects“ / Mexiko, sowie Attila Veres‘ „The Black Maybe“ / Ungarn) inzwischen auch Einzeltitel ins Programm genommen haben, die bei Presse und Publikum ähnlich gut ankommen.
Um es mit Stephen Kings Worten zu sagen: „Wir wissen genau, dass es das Monster unterm Bett nicht gibt. Und wir wissen auch, dass es uns nicht erwischen kann, solange wir die Füße unter der Decke lassen.“ Und gemütlich unter die Bettdecke gekuschelt lässt es sich literarischen Geistern am angenehmsten begegnen.
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