von Julia Bousboa
2018 betrat die damals 15jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg die Bühne der Öffentlichkeit und inspirierte Schüler*innen auf der ganzen Welt – Fridays for future war geboren. Kurz darauf veröffentlichten zahlreiche deutsche Kinderbuchverlage ihre eigenen Greta-Bücher. In den Jahren 2019 und 2020 erschienen Greta – wie ein kleines Mädchen zu einer großen Heldin wurde (Knesebeck), Mein Name ist Greta (Midas), Gretas Geschichte (Plaza), Greta und die Großen (arsEdition), Unsere Zukunft ist jetzt! Kämpfe wie Greta Thunberg fürs Klima (Oetinger), Jeden Freitag die Welt bewegen (dtv) und Greta Thunberg (Insel). Tenor all dieser Bücher: Niemand ist zu klein um die Welt zu verändern!
Auf die biografischen Greta-Bücher folgten zahlreiche Kindersachbücher zu den Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit, die nichts Geringeres fordern, als dass Kinder zu kleinen Weltretter*innen werden. Zunächst erfahren sie Alles über Plastik (Usborne) und auch über Müll, die lästigste Nebensache der Welt (Beltz&Gelberg) und können die Frage Wieviel wärmer ist 1 Grad? (Beltz&Gelberg) beantworten. Sie wissen, dass Unser Klima im Chaos (Carlsen) ist.
Mit diesem Grundwissen ausgestattet werden Kinder nun zu Heldentum und Weltrettung animiert: Rettet die Erde! heißt es da für alle ab drei Jahren (Moritz Verlag) und Mach dich stark für eine bessere Welt! (Dorling Kindersley). Es gibt 100 Dinge, die du für die Erde tun kannst! (Schwager & Steinlein), lasst uns einfach die Welt retten! (Sauerländer), nur so können Storys für Kinder, die die Welt retten wollen (Rowohlt) entstehen, denn Mein ökologischer Fußabdruck (Ars Edition) ist mir bewusst.
Wie die Welt gerettet werden soll? Geräte wie Fernseher und Laptops sollen ordentlich ausgeschaltet werden und angeschlagenes Obst und Gemüse soll man nicht wegwerfen, sondern zu einem “Happy-Earth-Erdbeershake” verarbeiten. Weitere Alltagstipps kommen hinzu: Nicht in jeder Jahreszeit die Heizung voll aufdrehen, sondern Wollpullover und dicke Socken tragen. Duschen statt baden. Während des Zähneputzens das Wasser abstellen. Produkte ohne Plastik kaufen. Fleisch durch Gemüse ersetzen. Bio-Produkte kaufen. An Hilfsorganisationen spenden. Müll sammeln. Nicht fliegen.
Wer seinen Kindern das Thema Klimaschutz nahebringen und sie für einen nachhaltigeren Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen sensibilisieren möchte, dem steht momentan eine sehr große Auswahl an passender Lektüre zur Verfügung. Niemand ist zu klein, um die Welt zu verändern, Ausrufezeichen!
Aber ist wirklich niemand zu klein dafür? Beim Lesen dieser Flut an Kinderbüchern über Nachhaltigkeit und Klimaschutz entstehen mit der Zeit zwei Störgefühle – auch wenn diese selbstverständlich nicht die grundsätzliche Wichtigkeit des Themas in Abrede stellen. Das erste Störgefühl basiert auf der sehr privilegierten Perspektive, aus der heraus die Welt gerettet werden soll. Nicht fliegen, regional einkaufen, Laptops nicht auf Stand-by laufen lassen, weniger Fleisch essen, Upcycling, Gurke ohne Plastikverpackung kaufen – abgesehen davon, dass Eltern all diese Lösungsansätze bereits in den 1980er Jahren von Peter Lustig gelernt haben und die Vorschläge wenig Neuigkeitswert haben, richtet sich die in den Büchern vermittelte neoliberale Form der Klimarettung hauptsächlich an eine kaufkräftige Mittel- und Oberschicht. Das verwundert nicht, wissen wir doch, dass die Kinderbuchverlage in erster Linie diese Gruppe im Blick haben.
Wer darf in den aktuellen Kinderbüchern zum Thema zu Weltretter*innen werden? Die Bücher richten sich überwiegend an diejenigen, die sich aus freien Stücken entscheiden können, ob sie Ostern nach Mallorca fliegen oder doch lieber klimaneutral in Mecklenburg-Vorpommern campen. Familien, für die ein wassersparendes Second-Hand-T-Shirt Klimaschutz und nicht Stigmatisierung bedeutet. “Mama, lass uns doch lieber auf dem Wochenmarkt einkaufen!” – eine solche Forderung muss man sich als Familie erst einmal leisten können. Klimaschutz wird so zu einer Klassenfrage, ein Problem, für das die meisten der Kinderbücher keine Antwort haben. Gleichzeitig kann der appellative Charakter der Klimaschutz-Bücher nur dort funktionieren, wo man von Klein auf das Gefühl vermittelt bekommen hat, dass die eigene Stimme zählt, dass einem zugehört wird. Das trifft für viele Kinder (und auch ihre Eltern) aufgrund ihrer Herkunft schlicht nicht zu.
Dieses erste Störgefühl lässt sich damit beruhigen, dass diese vielen Bücher zumindest dazu beitragen, dass hier vermutlich gerade eine gut situierte neue Generation heranwächst, die um den eigenen CO2-Fußabdruck weiß, anstatt ihn wie die gut situierten Generationen vor ihr zu ignorieren. Doch es gibt noch ein zweites Störgefühl beim Lesen der vielen Bücher für kleine Weltretter*innen, das entsteht, wenn man über die gesamte kindliche Zielgruppe nachdenkt und diese als das betrachtet, was sie sind: Kinder.
Durch die Corona-Krise ist deutlicher als je zuvor geworden, welchen Stellenwert Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft haben. Ihre Interessen, Bedürfnisse und Rechte werden systematisch ignoriert. Als Schüler*innen 2018 begannen, freitags für den Klimaschutz und damit für ihre Zukunft zu streiken, gab es einen Aufschrei aufgrund des Schulausfalls. Schlecht ausgestattete Schulen werden im Gegensatz dazu jedoch billigend in Kauf genommen. Das Leben eines Kindes scheint unserer Gesellschaft am schützenswertesten, wenn es noch im Mutterleib ist. Wenn Kinder und Jugendliche jedoch in prekären Verhältnissen aufwachsen, wird erst an sie gedacht, wenn Präsenzunterricht trotz hoher Inzidenzzahlen entschuldigt werden soll.
Wenn ihre Eltern keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, können sie in Abschiebehaft kommen. Wenn Kinder nicht gegen Covid-19 geimpft sind, dürfen sie nicht in den Urlaub fahren. Überhaupt werben immer mehr Restaurants und Hotels gern mit “kinderfreien Zonen”. Während Kinder Schule und Freizeitangebote nach monatelangem Ausfall mit Abstandsregelungen und Masken meisterten, konnten sie live im Fernsehen bei der Fußball-Europameisterschaft der Männer verfolgen, wie weder das eine noch das andere für die Erwachsenen dort eine Rolle spielte. Kinderrechte wurden noch immer nicht ins Grundgesetz aufgenommen, für ihre Eltern sind Kinder weiterhin ein Armutsrisiko. Und wenn die Familienministerin zurücktritt, wird das Ministerium einfach nicht neu besetzt – das bisschen Haushalt macht sich offenbar von allein.
Und diese kleinen Menschen ab drei Jahren bekommen jetzt von Kinderbüchern den Auftrag, nicht nur das Klima, sondern direkt die ganze Welt für uns zu retten, indem man ihnen Held*innenstatus verleiht? Als läge die Zukunft der Erde in ihrer Verantwortung und nicht in der von Regierungen und Großkonzernen? Was für eine irrsinnig große und wahnsinnige Aufgabe! Um nicht zu sagen: Was für eine riesige Last, Ausrufezeichen!
Kinder und Jugendliche sollen lesen und lernen und spielen, sich mit ihren Freund*innen treffen, Quatsch machen, sich ausprobieren, groß werden und dabei ganz selbstverständlich ein Gefühl für ihre Umwelt entwickeln, vom Regenwurm bis zu den Mitmenschen. Doch bei all dem müssen sie Kinder sein dürfen und keine Held*innen. Sie sind zu klein, um die Welt zu verändern. Kinder sollen die Erde retten? How dare you? Das müssen doch wirklich wir Erwachsenen übernehmen!
Photo von Markus Spiske