Hype und Enttäuschung – Über die Unfähigkeit, Widerspruch auszuhalten

von Matthias Kreienbrink

 

Neben allem war 2020 auch das Jahr des Videospiel-Hypes. Neue Konsolen erschienen und ebenso Blockbuster, die kaum lauter, schriller und umkämpfter hätten veröffentlicht werden können. The Last of Us 2, Playstation 5, Cyberpunk 2077. All das sind Schlagworte in einem Diskurs um Hype, Gamer, Presse, PR und schlussendlich auch Hass.

Was war geschehen? Zum Beispiel Cyberpunk 2077. Bereits 2012 wurde das Spiel angekündigt, 2013 gab es einen ersten kurzen Trailer. Richtig los ging es auf der E3 2018. Der Electronic Entertainment Expo, die wichtigste Gaming-Messe der Welt. Hier wurde das Spiel erneut auf großer Bühne gezeigt. Diese Bühne hat das Spiel bis zum Dezember 2020 nicht mehr verlassen. PR-Dauerregen; wöchentlich mehrere Meldungen zu Kuriositäten wie Penisgrößen, die verändert werden können, zu noch nie dagewesener Lebendigkeit der Spielwelt – jedes kleine Detail eine eigene Pressemitteilung. Und natürlich Keanu Reeves, den darf man  nicht vergessen. Schauspielern kann er zwar immer noch nicht so richtig, dafür ist er als Schauspieler einer Figur aber wichtiger Teil von Cyberpunk 2077. Hier der Trailer.

Spiele pressen

Am anderen Ende dieser stetig gefüllten PR-Kanäle saß zu großen Teilen eine Spiele-Presse, die das ganze sehr bereitwillig aufgenommen und weiterverbreitet hat. Jede noch so kleine Meldung ein Grund, um nochmal Cyberpunk 2077 in einer Headline schreiben zu können.

„Exklusiv: Neue Screenshots von Cyberpunk 2077 verraten erstaunlich viel“

Natürlich verrieten sie nicht erstaunlich viel, sondern nur das, was die PR eines Videospiel-Studios zeigen wollte. Im Dauerrauschen dieser Verlautbarungen entstehen Erwartungen. In Fan-Foren wird jeder Fetzen dieser Meldungen weiter seziert. Jeder Trailer millionenfach geschaut.

Cyberpunk 2077 war ja nicht irgendein Spiel, es war das neue Spiel von CD Projekt Red. Dem Studio, das schon The Witcher 3 herausbrachte und damit allen Gamern etwas Gutes tat – so der Fan-Diskurs. Eine nahezu uneigennützige Firma, ein Freund aller Gamer, die uns nun endlich ihr neues Spiel schenken. Ein Heiland der Videospiel-Firmen mit über 100 Millionen Euro Umsatz im Jahr.

Und als das Spiel am 10. Dezember erschien, stellte sich heraus: Nun, es gibt Probleme. Neben schalen Stereotypen und wenig originären Beiträgen zum Cyberpunk-Sujet. Neben transphoben Inhalten und Sequenzen, die Anfälle bei Menschen mit Epilepsie auslösen können. Neben unendlich vielen Bugs, Glitches und Versionen für Playstation 4 und Xbox One, die eigentlich niemals hätten verkauft werden dürfen. Neben dem Crunch, den nicht tolerierbaren Arbeitsbedingungen bei CD Projekt Red für viele Monate. Neben all dem ist Cyberpunk 2077 ein ziemlich gutes Spiel.

Hier, Hype

Hype entsteht in der Gruppe. Da, wo PR-Infos um ein Spiel – und in vielen Fällen braucht es die nicht einmal – auf ein Forum, auf Soziale Medien, auf Youtube, Reddit oder Twitch treffen, entstehen Hype-Diskurse und multiplizieren sich gegenseitig. User analysieren kleinste Details aus Screenshots und Videos, setzen sie zu Erzählungen zusammen, die zu Versprechen werden. Ideen davon, wie ein Spiel sein wird, werden zu Ideen, wie ein Spiel zu sein hat. Aus der Erwartungshaltung wird schnell Anspruchshaltung: Nicht nur wollen wir, dass das Spiel so wird, wie wir uns das vorstellen. Es wird auch Konsequenzen geben, wenn das nicht eintritt. Jede kritische Distanz, jede Reflektion geht verloren.

The Last of Us 2 erschien am 19. Juni 2020 und rief so viel Hass hervor, wie kaum ein Spiel zuvor. Die Gamer hatten einen bestimmten Plot erwartet, diesen haben sie nicht bekommen. Charaktere verhielten sich anders als erwartet. Menschen wurden zu Protagonist*innen, die keine sein sollten. Helden des Spiels wurden geopfert. Unter den Gamern brach sich Hass Bahn und überschwemmte Entwickler*innen mit Morddrohungen. Überschwemmte Wertungs-Websites mit negativen Meinungen. Überschwemmte eine Diskussion, die nun nie mehr nuanciert sein konnte. All aboard the Hype train!

Die Wertungen

Bevor Cyberpunk 2077 erschien, erschienen die Wertungen. Die waren kompliziert, denn sie kamen nur von den Medien, die vorab Zugang zum Spiel bekommen hatten. Der Großteil davon bekamen diesen exklusiven Zugang am Freitag vor dem Montag, an dem die Wertungen veröffentlicht werden durften (so auch der Autor dieses Artikels). An einem Wochenende durften diese Menschen also ein Spiel durchspielen, bewerten und einen Text verfassen – bis auf wenige Medien, die, aus sicher sehr guten Gründen, das Spiel schon eine Woche vorher bekamen.

„Cyberpunk 2077 wird das Spiel sein, das für lange Zeit dieses Genre definieren wird. Das in seinem Medium das ist, was Neuromancer oder Blade Runner in anderen sind. Ein bleibender Meilenstein.“

Sie liebten das Spiel. Überschlugen sich in ihren Höchstwertungen und Superlativen, feuerten den Hype um das Spiel noch weiter an, übersahen scheinbar die vielen Fehler, die Cyberpunk 2077 zierten (zumal sie die Konsolenversionen ja auch noch nicht spielen konnten, nur PC-Codes wurden versandt). Sorgten dafür, dass die Wucht noch stärker wurde, als das Spiel schließlich erschien und der Hype in großen Teilen der Gamer direkt in Hate umschlug. Denn Cyberpunk hatte die Gamer an der Stelle getroffen, die sie nicht tolerieren konnten: Der Performance.

Mitte, welche Mitte?

Jetzt noch, gut einen Monat nach dem Release, scheint es schier unmöglich, nuanciert über Cyberpunk 2077 zu sprechen. Es ist ein unverschämtes, verabscheuungswürdiges Spiel. Wer es mag, ist verblendet, der PR aufgesessen, gekauft, Teil des Problems, Teil des Hypes. Wer es nicht mag ist undankbar, ahnungslos, Social Justice Warrior, Snowflake, kein Gamer.

Noch immer wird in Artikeln postuliert, das einzige Problem dieses Spiels sei seine Technik gewesen, der Hass um die Veröffentlichung zeuge nur von einer lauten Minderheit, die auf Grafik giert, der sonst alles egal sei und die nun dafür sorge, dass solche phantastischen und innovativen Spiele nicht mehr produziert würden.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aushalten zu können, diesen Widerspruch, dass ein Spiel gleichzeitig gut, neu, grandios, veraltet, schlecht und problematisch sein kann. Das alles und vieles mehr ist gleichzeitig möglich, geht aber im Hype unter: Dass die Kritik an einem Spiel ebenso wie die Freude an einem Spiel übertrieben und gleichzeitig auch angebracht sein kann. Dass die wöchentlich hinausgeschleuderte  PR eines Studios das Spiel nicht schlechter machen muss – diese PR aber gleichzeitig auch Redakteur*innen beeinflussen kann. Dass die Mitarbeiter*innen eines Studios nur das Beste wollen und am Schluss doch die kommerziellsten Entscheidungen getroffen werden.

Es lohnt nicht

Schlussendlich leiden alle unter Hype. Die Studios unter den viel zu großen Erwartungen, die sie zu großen Teilen selbst aufgebaut haben. Die Mitarbeiter*innen, die, um den Launch so erfolgreich wie möglich zu machen, unanständig viel arbeiten müssen. Den Menschen, die gerne Videospiele spielen und unter dem dauerbetriebenen Rasensprenger der Games-PR kaum trocken bleiben können. Den Gamern, die an ihren eigenen Vorstellungen, wie ein Spiel sein wird, scheitern. Auch denen, die Videospiele kritisch einordnen sollten und vor lauter Hype anscheinend nicht mehr wissen, wo ihre eigenen Gedanken beginnen und die Werbesprüche enden. Und schließlich denen, die jeder freudigen Regung bezüglich eines Spiels zynisch mit performativer Abgeklärtheit begegnen.

Im Hype verlieren alle. Und doch scheint es der Motor zu sein, der die Games-Branche – von Messe zu Messe, von Trailer zu Trailer, von Release zu Release – anzutreiben scheint. Es wird Zeit, diesem Motor den Treibstoff zu nehmen.

 

Photo by Verena Yunita Yapi on Unsplash

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