von Matthias Warkus
Eine der großen Radiotraditionen, vielleicht sogar die größte überhaupt, sind Sendungen, in denen Gäste eigene Musik mitbringen. Die älteste unter ihnen, »Desert Island Discs«, läuft im BBC-Radio seit über 80 Jahren und ist damit unter den ältesten Radiosendungen überhaupt, die noch regelmäßig ausgestrahlt werden. Im Deutschlandfunk gibt es mindestens zwei solcher Sendungen, und eine davon, »Klassik – Pop – et cetera« (im Folgenden »KP&c.«), ist ebenfalls ein Methusalem, mehr oder minder die älteste Sendung im deutschen Radio überhaupt, ausgestrahlt seit dem 7. Oktober 1974. Bis auf eine An- und Abmoderation wird die gesamte wöchentliche Sendung von dem Gast (manchmal auch: den Gästen) bestritten.
KP&c. hat sich in diesen fast 50 Jahren durchaus verändert, vor allem, was die Auswahl der Gäste angeht; darauf möchte ich nicht detailliert eingehen. Auf dem heutigen Stand ist die Zusammensetzung jedenfalls so, dass 43 % der Sendungen von Musiker*innen aus dem Bereich E-Musik (inklusive Jazz) moderiert werden, 25 % von Schriftsteller*innen, 18 % von Künstler*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen usw., gut 8 % von Musiker*innen aus dem U-Bereich und der Rest von Wissenschaftler*innen bzw. sonstigen Intellektuellen. (Diese Verteilung wird möglicherweise später noch wichtig.)
Das britische Äquivalent »Desert Island Discs« hat eine harte Fangemeinde und ist mit Selbstverständlichkeit ein kulturelles Ereignis ersten Ranges, weswegen z.B. auch die gehobene britische Presse darüber diskutiert, wer die Sendung moderieren darf. KP&c. hat in Deutschland kein vergleichbares Standing, was schade ist, denn angesichts der seit Jahrzehnten unablässig steigenden Hörerzahlen des Deutschlandfunks darf man davon ausgehen, dass die Sendung von Hunderttausenden, wenn nicht Millionen, regelmäßig gehört wird. Vielleicht geht uns in Deutschland die Fähigkeit dazu, sehr Prosaisches zum Ritual zu machen, einfach ein bisschen ab – sonst gäbe es die guten alten Hochwasserdurchsagen (»Lahn – Kalkofen – zwei zwei drei, gestiegen fünf«) im deutschen Hörfunk vielleicht noch heute und sie wären genauso ein Nationalheiligtum wie der legendäre BBC-Seewetterbericht.
So oder so: Ich möchte hier erklären, warum KP&c. so ein Vergnügen ist, und zwar nicht irgendeines, sondern ein gutmütig-diebisches. Das ist, wenn man die Sendung nicht kennt, längst nicht offensichtlich. Warum sollte eine Sendung mit mitgebrachten Musiktiteln ausgerechnet Grund zum Feixen und Lästern sein?
Das liegt, wie ich meine, daran, dass KP&c. eine komplexe Struktur aus Verhältnissen abbildet. Da der Gast die Musik mitbringt, gibt die Sendung natürlich sein Verhältnis zur Musik wieder; da er aber nicht interviewt wird, sondern die ganze Moderation eigenständig macht, zeigt sie auch das Verhältnis des Gastes zu sich selbst und zu diesem Verhältnis. Eine einzelne Sendung von KP&c. macht eine Aussage darüber, wie jemand meint, öffentlich über seine eigene Einstellung zu Musik reden zu sollen.
Durch die fixe Struktur und die wöchentliche Wiederholung, die sich mit dem Sendeplatz samstags um 10 Uhr geradezu dafür aufdrängt, Teil von Ritualen zu werden (wenn Horst Jankowskis Titelmusik ertönt, sollte der Frühstückskaffee durchgelaufen sein), stehen die einzelnen Sendungen aber nicht nur für sich, sondern sie beziehen sich aufeinander. Niemand kann zu KP&c. gehen und erwarten, dass er von den Zuhörenden nicht mit anderen Gästen verglichen wird. Jede Sendung ist also auch immer eine Möglichkeit, Menschen anhand der Art, wie sie meinen, öffentlich über ihre Einstellung zu Musik reden zu sollen, untereinander zu vergleichen und zu ordnen.
Nun ist die Sendung notwendigerweise äußerst selektiv, und die Auswahl der Gäste wird nicht von irgendwem getroffen, sondern von einer Redaktion des reichweitenstärksten deutschen Elitenmediums. Die Gästeauswahl repräsentiert etwas, das darf man wohl unterstellen. Die ganz eindeutig hochkulturell gewichtete Zusammenstellung (allein ca. zwei Drittel der Gäste haben in irgendeiner Form mit darstellender Kunst zu tun) und die weitgehende Abwesenheit von Politik und Journalismus lassen vermuten: Die Gästeauswahl soll »die Kultur« repräsentieren.
Damit sind wir bei der vollständigen Formel angekommen: KP&c. bietet die Möglichkeit, Menschen anhand der Art, wie sie meinen, als repräsentative Angehörige einer kulturellen Elite öffentlich über ihre je eigene Einstellung zu Musik reden zu sollen, untereinander zu vergleichen und zu ordnen. Dies gewinnt dadurch noch an Tiefe, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der der Frage danach, »welche Musik man höre«, nach wie vor große Bedeutung zugesprochen wird – wenn auch vielleicht nicht mehr so sehr wie vor einigen Jahrzehnten. Dies belastet die Gäste mit der Aufgabe, nicht bloß sozusagen offiziös, sondern auch mit einem Anspruch auf Intimität und Einsicht ins Private über Musik zu reden. Der Titel der Sendung sagt zudem aus, dass die Musikauswahl möglichst genreübergreifend sein soll – dies scheint von der Redaktion auch durchgesetzt zu werden oder es wird zumindest von den Gästen antizipiert, sonst gäbe es nicht so viele Ausgaben der Sendung, bei denen »Pop« oder »Klassik« nur mit ein oder zwei »Quotentiteln« vertreten ist.
Man kann sich jetzt schon so allmählich denken, warum KP&c. so ein dankbarer Lästergegenstand ist: weil es letztlich eine Sendung über Strategien der Distinktion und des Umgangs mit äußeren Distinktionserwartungen ist. Aufgrund der sozialen Stellung der eingeladenen Gäste ist KP&c. damit (unter anderem) ein Medium, in dem die deutsche Kulturelite aufgerufen ist, sich zu ihrem eigenen Habitus zu verhalten: ein Ort der Offenbarung.
Dabei haben die Berufsmusiker*innen unter den Gästen in gleich zweifacher Weise eine Art Heimvorteil: Sie können glaubwürdig große Teile der Musikauswahl dadurch abdecken, dass sie letzten Endes einfach für ihre eigene Berufstätigkeit relevante Musik vorstellen; und sie sind aufgrund ihrer schieren Anzahl zwangsläufig die Benchmark, an der die anderen Gäste gemessen werden. Als Musiker*in kann man bei KP&c. eigentlich nur durch Eitelkeit scheitern, nämlich indem man zu viele eigene Aufnahmen spielt. In ganz seltenen Fällen ist die Auswahl der Quoten-Poptitel uninspiriert (Beatles, Michael Jackson). Ansonsten erscheinen eigentlich alle, insbesondere die außerhalb der »Szene« wenig bekannten, Berufsmusiker*innen in der Sendung als sympathisch fachsimpelnde Normalos, die aus einer Laune des Schicksals heraus halt nicht im Maler- und Lackiererhandwerk tätig sind, sondern an der Spitze des Musikbetriebs.
Erst bei den »außermusikalischen« Gästen wird es richtig spannend. Sie müssen mit der enormen Erwartungskulisse umgehen und gleichzeitig vermeiden, Prätention in Bezug auf irgendeines der skizzierten Verhältnisse an den Tag zu legen: Sie dürfen die Musik nicht zu wichtig nehmen, sich selbst nicht zu wichtig nehmen, ihr Verhältnis zur Musik nicht als allzu einzigartig darstellen und auch auf ihrer Stellung als repräsentative Elitenzugehörige nicht herumreiten. Natürlich kann man von diesem Pferd aber auch auf der anderen Seite herunterfallen, wenn man so tut, als wäre es das Normalste der Welt, als einer von fünfzig Kulturmenschen pro Jahr eine Stunde lang vor einer Million Zuhörenden über den eigenen Musikgeschmack reden zu dürfen.
Es gibt daher eine Art Standardlösung für Nicht-Musiker*innen bei KP&c.: große Freude über die Einladung ausdrücken, Musik grob entlang der eigenen Biographie auswählen und mit kleinen, bescheidenen Anekdoten garnieren. Die Musikauswahl enthält dabei in der Regel mindestens einen sehr großen Namen aus dem Jazz, zwei bis drei mittelbekannte Namen aus der E-Musik, irgendetwas sehr Idiosynkratisches (Laurie Anderson, Freddy Quinn, EAV) und verschiedene Songs, die z.B. Bekanntheit mit den im Feuilleton geschätzten Untergenres der U-Musik (d.h. aktueller Pop, Indierock von vor 20 Jahren, Postpunk, Bob Dylan und alles mit »Wave«) demonstrieren. Das etablierte Wertungskriterium für kulturelle Äußerungen in unserer Gesellschaft, nämlich das der zwanglosen, niemals allzu gewollt wirkenden Einzigartigkeit, ist dabei einzuhalten, weswegen eine allzu große schematische Ähnlichkeit mit dieser Musterlösung natürlich auch wieder vermieden werden sollte. (Eine geradezu streberhaft perfekte Implementierung lieferte Sophie Passmann: Philip Glass, gespielt von Twitters zweitliebstem Pianisten Vikingur Ólafsson, Billie Eilish, Talk Talk, Sophie Hunger singt Jacques Brel, das Ganze klingt signalhaft mit den Smiths aus, dazwischen sorgen Musicalnummern für ironische Brechung und Frederic Rzewskis Klaviervariationen über »El pueblo unido« für champagnersozialistischen Glanz.)
Die Moderation muss dabei darauf achten, nicht zu pathetisch daherzukommen. Allzu hoher Ton und Lesebühnendiktion (neulich z.B. bei Monika Rinck) sollte vermieden werden; dann bleibt aber Prätention im eigenen Verhältnis zur Musik immer noch ein Fettnapf. Die KP&c.-Folge mit Carolin Emcke z.B., die ohnehin mit Miles Davis, Thelonious Monk, Alexandr Skrjabin und Richard Strauss schon gefährlich direkt aufs Theaterabonnement-Milieu gezielt daherkam, war zu allem Überfluss mit dem Spruch »Musik ist für mich wie atmen« garniert; Juli Zeh stellte zu Wir sind Helden und einem Pixies-Klaviercover den Kalenderspruch »Wenn man einen Menschen liebt, dann liebt man auch die Musik, die dieser Mensch hört.«
Dilemmatisch wird die ganze Veranstaltung darüber hinaus dadurch, dass der übliche biographische Bezug bei einer banalen Musikauswahl aus Charthits die eigene Biographie banal aussehen lässt, weswegen niemand einfach 4 Non Blondes, Grönemeyer und Tim Bendzko spielt. Umgekehrt wirkt es aber gewagt bis größenwahnsinnig, wenn das eigene kleine Leben in Bezug zu riesenhaften musikalischen Ausnahmeleistungen gestellt wird. Hier haben Gäste mit besonders langem und/oder bewegtem Leben den Vorteil, sich mehr leisten zu können – dem Kölner Kunstpater Friedhelm Mennekes beispielsweise nahm man »Ganz Paris träumt von der Liebe« als tatsächliches Lied aus seiner Jugend problemlos ab.
Der Gratwanderung zwischen Prätention und Banalität weichen manche Gäste dadurch aus, dass sie das Ganze irgendwie auf der Metaebene wegironisieren, wie etwa Lisa Eckhart, die ihren Auftritt schon mit »Als Böhmen noch bei Österreich war« von Peter Alexander einläutete und mehr oder minder misslungen versuchte, den Rest der Sendung dann in der Linie ihres Kabarettprogramms zu gestalten. Ganz aus der Affäre wand sich Wolf Wondratschek, der aus der Sendung eine mit Musik unterlegte Lesung machte und rein gar nichts über seine Person sagte, was letztlich Spielverderberei war.
Ich hoffe, aus diesen Ausführungen ist ein wenig klar geworden, was die Faszination ist, die mich und all die anderen jeden Samstag das Radio einschalten oder die Sendung in den (leider nur wenigen) Tagen darauf im Netz nachhören lässt. Es geht nicht in erster Linie darum, Menschen und Musik kennenzulernen, sondern darum, Menschen, die man zu kennen glaubte, in einer kulturellen Grenzsituation zu sehen, auf einem Drahtseil aus Geschmacksurteilen und über einem Haifischbecken voller Selbstreferentialität. Man könnte behaupten, dass letztlich der ganze Kultur- und Medienbetrieb so ist und KP&c. daher eine Metapher für etwas Größeres. Man kann das alles aber auch bleiben lassen und sich einfach darüber freuen, wenn im Deutschlandfunk mal Journey oder Schließmuskel gespielt wird. Das ist das Schöne daran.
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