von Oliver Pöttgen (Twitter + Instagram)
Wir leben in einer Zeit, in der alte Normen zunehmend in die Enge getrieben werden. Das betrifft eigentlich alles, was irgendwie mit cismännlicher Privilegierung und patriarchaler Macht zu tun hat. Tradierte Überzeugungen werden zurückgedrängt und ihre Vertreter*innen schlagen dabei um sich.
Ein traditionelles und für bestimmte gesellschaftliche Machtverhältnisse auch konstitutives Normengebilde, um das es meist erstaunlich still ist, ist die Mononormativität. Mononormativität meint das Erzählen und Bewerten zwischenmenschlicher Beziehungen unter den Vorzeichen der Monogamie. Polyamore Beziehungen etwa, in denen Menschen mehr als eine*n Partner*in haben, werden oft unsichtbar gemacht, teils immer noch pathologisiert und mitunter sozial sanktioniert.
„Nicht-monogame Begehrensformen gelten weithin als Krisensymptome“, schrieb schon vor über zehn Jahren die Soziologin Gesa Mayer. Politisch finden diese Formen der Zwischenmenschlichkeit in Deutschland wenig Beachtung, rechtlich sind Ehen zwischen mehr als zwei Menschen nicht möglich. Das nur zur Veranschaulichung, wie Monogamie systemisch verankert ist. Von der „Norm trauter Zweisamkeit“ könne oder wolle der mehrheitsgesellschaftliche Diskurs bis heute nur wenig abrücken, stellt Mayer fest. Die Autorin Katja Lewina spricht in ihrem Buch Sie hat Bock von dem Konzept „Alles mit einem für immer“ und macht deutlich, dass Mononormativität insbesondere für das Beziehungs- und Sexleben weiblich gelesener Menschen der normierte Maßstab ist.
Monoamore Verhältnisse gelten traditionell, auch, wenn es in der gelebten Praxis oft anders ist, als Hafen beruhigender Stabilität, Verbindlichkeit und Treue, polyamore Verhältnisse hingegen weniger. Konsensuell polyamor oder polygam lebende Menschen sehen das für gewöhnlich nicht so. Nur werden ihre Geschichten nach wie vor viel zu wenig (positiv) erzählt, schaffen es ihre Lebensrealitäten viel zu selten und in komplexen Erzählungen in Kulturprodukte des Mainstreams. [1]
Polyamorie als Gegenerzählung
Beispielhaft für diese mediale Marginalisierung steht die Anthologie-Serie Modern Love, von der bisher zwei Staffeln auf Prime Video erschienen sind. Die Serie widmet sich der Liebe in verschiedenen Facetten des Hier und Heute, stilistisch angelehnt an das Genre der romantischen Komödie. In aktuell 16 Episoden geht es dabei neben romantischer und sexueller Liebe, und teils miteinander verknüpft, um familiäre und freund*innenschaftliche Liebe; auch Selbstliebe ist ein Thema.
Die Serie ist insgesamt eher auf happy getrimmt und hat eine zuversichtliche Grundstimmung, manche mögen es kitschig nennen. Auch Episoden mit einem ernsteren Unterton – wie die über Bipolarität (S1E3), Angst-Attacken (S1E5) oder Brustkrebs (S2E8) – liefern in der Regel doch ein hoffnungsvolles Feel-Good-Ende. Dass Liebe auch zerstörerisch sein kann, kommt bei Modern Love bisher kaum zur Sprache. Erzählt wird meist genretypisch die letztlich gelingende Liebe, nicht die Beziehungshölle, nicht die Liebe als Tatort.
Dabei werden nicht nur verschiedene Formen hetero- und homosexueller Liebe durchgespielt, teilweise geht die Darstellung auch über Liebe allein zwischen Menschen hinaus. In der Episode „On a Serpentine Road, With the Top Down“ (S2E1) geht es um die Beziehung zu einem alten Auto, das vom verstorbenen früheren Ehemann stammt und das die inzwischen wieder verheiratete Ehefrau an die gemeinsame Zeit als Familie erinnert. Ja, das ist anrührend, nur ließe sich angesichts medial kaum repräsentierter konsensueller Nicht-Monogamie zynisch anfügen: Eher wird die Liebe zu einem Auto thematisiert, als dass man zum Beispiel einer polyamoren Vierer-Beziehung ein, zwei Folgen widmet.
Serien oder Filme heute „Modern Love“ zu nennen ist eine Hypothek. Das kann hohe Erwartungen bei Zuschauer*innen schaffen. Man könnte erwarten, die Vielgestaltigkeit des zeitgenössischen Beziehungslebens abgebildet zu bekommen, besonders hinsichtlich bestimmter Kernfragen. Von einer Serie, die mit Modernität in Fragen der Liebe wirbt, darf man Gegenerzählungen zu lange etablierten Normen erwarten. Dazu gehört nicht nur, Heteronormativität weiter aufzubrechen, das macht Modern Love – allerdings ohne dabei auch Bisexualität anzusprechen – in drei Episoden, sondern ebenso auf Konsens basierende Alternativen monogamer Beziehungsführung zu erzählen, also auch Mononormativität aufzubrechen. Cisnormativität ist übrigens, vielleicht erwartbar, bisher auch noch nicht Thema gewesen.
Nicht nur Negativfolie
In Anlehnung an das Buch Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist der Journalistin Şeyda Kurt lassen sich Liebeserzählungen auch als Herrschaftserzählungen lesen. Sie zeigen, wie gesellschaftlich akzeptiert verschiedene Formen von Liebe und Sexualität jeweils sind, wie viel Raum Menschen zur Verwirklichung ihres Lebensentwurfs politisch gewährt wird. Beziehungskritik ist Herrschaftskritik. Für Gender-Studies-Professor*in Lann Hornscheidt heißt zu lieben, politisch zu handeln.
Wenn Erzählungen aller Art nicht nur ein Spiegelbild gesellschaftlicher Realitäten sind, sondern auch in diese eingreifen, indem sie Handlungsmöglichkeiten nahelegen, wie es bei Kurt heißt, dann lassen sich mediale Darstellungen der Liebe als politisches Handeln verstehen. Wichtig beim Darstellen von Nicht-Monogamie wäre, dass sie nicht lediglich als Negativfolie und „Krisensymptom“ dienen sollte, als schmuddelige Zwischenphase oder Experimentierfeld, aus dem sich die Hauptfiguren wieder zurückziehen, um gereift schließlich zur monogamen Zusammenseinsweise überzugehen oder zurückzukehren. Nicht-Monogamie ist mit ähnlich dramaturgischer Klaviatur als eine Form der Beziehungsgestaltung erzählbar, die genauso gut gelingen oder scheitern kann wie Monogamie. Denn auch Nicht-Monogamie ist, wie alles Intime, nicht per se frei von mitunter vielschichtigen Unsicherheiten, Ängsten und Konflikten. Facetten davon zeigt Senami Zodehougan im Text „Ganz sicher poly“ für das Missy Magazine auf.
Ich glaube, dass die stärkere Berücksichtigung polyamorer und polygamer Beziehungswelten dabei helfen könnte, Erzählungen von Liebe, Sexualität und Zwischenmenschlichkeit wieder deutlich interessanter zu machen. Die monogame Liebe zwischen ausschließlich zwei Menschen, vor allem zwischen cis Mann und cis Frau, dürfte eines der auserzähltesten Themen dieses Planeten sein.
Das Grundrauschen der Monogamie
Liebeserzählungen, die sich von mononormativen Prämissen lösen, bieten ebenso viel dramaturgisches Potential wie andere Beziehungsformen. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass Hauptfiguren mal einen „Dreier“ haben oder ihre monoamore Beziehung für gelegentliche One-Night-Stands öffnen. Es geht besonders um das Erzählen konstant polyamorer Beziehungen und Beziehungsnetzwerke, die für ihre Mitglieder ähnlich wie Familien mit zwei Elternteilen funktionieren können, zum Beispiel, und da oft besser, in Fragen der Care-Arbeit.
Dieses Thema liegt nicht nur in Filmen oder Serien wie Modern Love brach. Auch in der (westlichen) Gegenwartsliteratur dürfte ohne den Bezugsrahmen Monogamie, einschließlich Verstößen dagegen, im Großen und Ganzen eher wenig laufen und auch literaturgeschichtlich eher wenig gelaufen sein. Ebenso hat die Musikindustrie dem narrativen Grundrauschen der Monogamie wohl die ein oder andere Milliarde an Einnahmen zu verdanken. Kaum ein Sujet mag global mehr besungen worden sein als die Suche nach und das Halten von „the one“, der einen Liebe.
Kultureller Höhepunkt
Bei fiktionalen Werken habe ich häufig das Gefühl, dass Mononormativität gebraucht wird, um Eifersucht und Verlustängste als Handlungsmotivation der Figuren plausibler zu machen. Das ist gerade bei Modern Love nicht so, es handelt sich in meinen Augen auch nicht um eine schlechte Serie. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die Episoden ohne mononormative Grundierung nicht wirklich funktionieren würden. Könnten die Figuren gleichzeitig und einvernehmlich mit mehr als einer Person parallel laufende, romantisch-sexuelle Beziehungen führen, dann stellten sich manche hier verhandelten Probleme entweder nicht oder auf eine andere, oft weniger gravierende Weise.
Dieser Befund trifft in ähnlicher Weise auch auf viele andere Beiträge des Genres zu, wie auf die Serien Please Like Me, Love, Lovesick oder die ZDFneo-Produktion Loving Her. Die für ihren offenen Umgang mit Sexualität und Liebesthemen gelobte Netflix-Serie Sex Education verhandelt Nicht-Monogamie bisher auch noch nicht explizit. Gleiches gilt für die ähnlich angelegte Animationsserie Big Mouth, ebenfalls von Netflix. Auch die Genre-Perle Crazy Ex-Girlfriend ist – bei aller sonstigen Reflektiertheit – mononormativ geprägt. Sie lässt sich zwar teilweise als Kritik der Monogamie lesen, bleibt dabei jedoch zu implizit.
In ihrer Untersuchung Polyamorie im filmischen Diskurs resümierten die Medienwissenschaftler*innen Eva Maria Schmitt und Ludger Kaczmarek vor wenigen Jahren, dass kaum ein Zweifel daran bestehe, dass Polyamorie „langsam aber sicher aus ihrem Nischendasein heraustritt und einem kulturellen Höhepunkt entgegensteuert.“ Das machen sie an Filmen wie The Dreamers, Drei oder Serien wie You Me Her und She’s Gotta Have It fest.
Langfristig werden Schmitt und Kaczmarek mit der Prognose vom Weg aus der Nische wohl Recht behalten. Mit Blick auf die Mononormativität vieler Mainstream-Serien, die sich explizit mit Liebe, Sexualität und Freund*innenschaft der Gegenwart beschäftigen, dürfte einstweilen allerdings Skepsis angebracht sein. An der medialen Repräsentation von konsensueller Nicht-Monogamie scheint sich seit der Studie wenig geändert zu haben, vom gestiegenen journalistischen Interesse am Thema einmal abgesehen. Hier und da tut sich zwar etwas, wie in der ZDF-Krimiserie Soko Stuttgart, die in der Folge „Viel Liebe“ Polyamorie letzten Endes positiv erzählt, aber ein „kultureller Höhepunkt“ lässt aus meiner Sicht weiter auf sich warten.
Vielleicht kann ja Modern Love dazu in ihrer nächsten Staffel, sollte es eine geben, einen Beitrag leisten: Indem sie an ihrer Mononormativität rüttelt – und so auch ihrem Titel ein ganzes Stück gerechter wird.
[1] In Anlehnung an Sprachgewohnheiten unter nicht-monogam lebenden Menschen wird der Begriff „Polygamie“, im Gegensatz zu anderen, mitunter kolonialistisch geprägten Definitionen, hier nicht als Mehr- oder Vielehe verstanden. Er meint an dieser Stelle eine Beziehungspraxis, bei der sich Menschen, egal ob verheiratet oder nicht, darauf geeinigt haben, dass auch sexuelle Begegnungen mit anderen Menschen möglich sind. In Abgrenzung zum Begriff „Polyamorie“ spielt dabei freund*innenschaftlich und romantisch verstandene Liebe eine weniger wichtige oder keine Rolle. In der Selbstbeschreibung nicht-monogam lebender Menschen, zum Beispiel auf Dating-Apps, findet sich häufig auch das vereinfachte Adjektiv „poly“.
Abbildung: Shaira Dela Peña via Unsplash