Mütter, schreibt! – Das Problem der Zeitpolitik

von Mareice Kaiser

 

Was für mich als Autorin nie schwierig ist: Ein Thema zu finden, über das ich schreiben möchte. Jeden Tag finde ich mehrere, zu denen ich Texte schreiben könnte. Leider. Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, eine Arbeitsmarktpolitik, die sich an kinderlosen Männern ausrichtet, ein Schulsystem, das Bildungsungerechtigkeit vergrößert, politische Entscheidungen zur Kinderbetreuung, die gut klingen, in der Umsetzung aber nicht viel bringen. An Themen mangelt es mir nie. An Zeit immer.

Bevor ich Mutter wurde, dachte ich nie darüber nach, was es bedeuten würde, als Mutter zu schreiben. Ich bin froh, dass ich die Studien zu Mutterschaft nicht kannte, bevor ich Mutter wurde, schrieb ich in einer Kolumne. Dazu gehört auch, dass ich froh bin, mir früher keine Gedanken über das Thema Zeitpolitik gemacht zu haben. Ein Begriff, den ich erst jetzt kennengelernt habe. Er beschreibt das Problem unserer Zeit: Zeit. Wie viel wir haben, wie wir sie gestalten und wie selbstbestimmt wir das tun.

Als Autorin, die auch Mutter ist, ist genau das die Herausforderung. Zeit finden zum Schreiben, aber noch viel mehr: Zeit zum Denken. Ich schreibe schnell – wenn ich vorher lange nachgedacht habe. Nachdenken kann ich, wenn man mich lässt, wenn ich nicht gestört werde. Die Mütter unter den Leser*innen müssen an dieser Stelle vielleicht lachen, denn genau hier ist das Problem. Nicht, dass Mütter nicht denken könnten (Debatten um vermeintliche Stilldemenz lassen das manchmal vermuten). Das Problem ist: Sie werden zu oft nicht gelassen. Ungestörtheit ist der seltenste mütterliche Aggregatzustand. Nicht von ungefähr gilt das verschlossene Badezimmer als liebster Aufenthaltsort twitternder Eltern.

Das könnte alles lustig sein, ist es aber nicht. Denn die Konsequenzen haben nicht nur persönliche, sondern auch politische Relevanz: Eltern – und vor allem Mütter – fehlen im gesellschaftspolitischen Diskurs. In der Literatur, in der Kunst, in der Musik, in den Medien. Noch immer werden mehr Bücher von Männern verlegt, noch immer schreiben die meisten Meinungsstücke in großen Medien Männer, noch immer werden mehr Männer in Galerien ausgestellt als Frauen, noch immer bestehen die Headliner-Bands bei Festivals vor allem aus Männern. Männer denken, Männer schreiben, Männer machen Musik, Männer sind Fotografen, Männer sind Künstler, Frauen machen Care-Arbeit. Die letzten Tage des Patriarchats werden wohl eher die letzten Wochen, Monate, Jahre sein.

Dabei machen feministische Autorinnen seit Jahrzehnten darauf aufmerksam. So hat der 1929 (!) erschienene berühmte Essay Ein Zimmer für sich allein von Virginia Woolf genau das zum Thema. Mit der Metapher des eigenen Zimmers beschreibt Woolf, was Frauen brauchen, um Protagonistinnen eines kulturellen Kanons zu sein. Das Zimmer steht für einen Rückzugsraum, für geistige Freiheit; dafür, einfach mal in Ruhe gelassen zu werden. Zum Denken – um dann mit den künstlerischen Werken des Denkens Teil der Kulturproduktion zu werden.

Woolfs Thema ist heute aktueller denn je. In einer Zeit, in der Mütter zwischen Lohn- und Care-Arbeit froh sind, Freundinnen nicht nur auf Instagram zu treffen. „Die erkämpften Emanzipations- und Gleichstellungsgewinne gebildeter, weißer Frauen der gehobenen Mittelschicht der letzten zwei Jahrzehnte scheinen sich vor allem auf die Partizipation von Frauen und Müttern an der bezahlten Erwerbsarbeit zu beschränken“, schreibt die Autorin Karin Menke in ihrem Buch „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter?. Zwischen Lohn- und Care-Arbeit reicht die Zeit manchmal nicht mal dafür, sich darüber aufzuregen.

„Zeitpolitik hat nicht nur das Individuum als letzten Bezugspunkt im Blick, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes“, schreibt Zeitforscher Jürgen Rinderspacher. Er beschreibt Zeitpolitik als Konstrukt aus verschiedenen Bereichen: Infrastruktur, Zeitkultur einer Gesellschaft, Zeitordnung eines Landes. Wie wir leben und wie wir leben können, wird von vielen Faktoren beeinflusst. Und damit auch, wie selbstbestimmt wir leben, arbeiten und denken können.

Mütter sind die gesellschaftliche Gruppe, die die Auswirkungen von Zeitpolitik am stärksten spürt. Mütter sind betroffen, wenn es um politische Entscheidungen rund um Kinderbetreuung geht, um die Rückkehr von Teilzeit zu Vollzeit, um die Aufwertung von Sorgearbeit, oder wann der nächste Bus kommt. Mütter sind die, auf deren Schultern die Last der Corona-Krise liegt. Eigentlich müssten Mütter deshalb auch genau die sein, die Zeitpolitik gestalten. Doch sie werden gerade immer unsichtbarer, während sie die unsichtbare und unbezahlte Care-Arbeit leisten und im Privaten verschwinden. Wie soll eine Mutter zwischen Erwerbsarbeit, Homeschooling und Kinderbetreuung dann auch noch die Zeit finden, aktiv Politik zu machen?

Sheila Heti, Autorin des Buchs Motherhood sagt: „Mother is a political category, and it is also a symbolic category; there is a lot of energy and complexity in this category, which can be harnessed to act in the world in much more powerful and creative ways than we have seen up till now.“

Mutter als politische Kategorie, das erscheint mir logisch. Denn an Müttern sehen wir die Auswirkungen von Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und zwar von allen zusammen. Wenn wir Mütter als politische Kategorie sehen, wird klar, wie wichtig ihre Stimmen sind. In der Politik, in der Literatur, in der Musik, in den Medien, von mir aus auch auf Instagram. Deshalb: Mütter, schreibt! Sprecht, macht Kunst, Fotos, Videos, Lyrik, Rap, postet Instagram-Storys, seid verschieden, seid solidarisch und sichtbar.

Dieser Text erschien initial als Teil von Mareice Kaisers Kolumne „Klein und groß“ bei ze.tt.. Wir haben ihn hier mit leichten Änderungen neuveröffentlicht, weil er unseren Schwerpunkt zu Autor*innenschaft und Sorgearbeit mit einer wichtigen Perspektive bereichert. Mareice Kaisers Sachbuch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ erscheint im April 2021 bei Rowohlt.

Photo by Monty Allen

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