Politisierte Fakten – Ein philosophischer Blick auf die ‘Culture Wars’

von Kae Schwarz

Die USA sind nach wie vor das Land, in dem kulturelle und gesellschaftliche Phänomene ihren Ausgang nehmen, um von dort aus ihre Reise um den Globus anzutreten. Zwar dauert es für gewöhnlich eine Weile bis ein Trend in Europa ankommt, aber letztlich wird es dann doch schwierig das neue Thema zu ignorieren.

Ein Thema, welches das intellektuelle Klima seit einigen Jahren aufheizt, sind die sogenannten culture wars. Kriege also, in denen angeblich Aufklärung, Vernunft und Wahrheit auf der einen, Postmoderne, Macht und Sozialkonstruktivismus auf der anderen Seite stehen. Es geht um die Darstellungen eines scheinbaren Kampfes zwischen der Seite der liberalen Demokratie, wo der  freie Wettstreit der Ideen und die Durchsetzung einer objektiven Wahrheit herrschen, und denen, die all das als Produkt eines von weißen westlichen Männern geprägten Diskurses und somit als Produkt tendenziell unterdrückerischer Machtstrukturen über Bord werfen wollten. Die begrifflichen Zuschreibungen sind dabei eher Verweise auf Konzepte als dass sie wirklich für das stehen, was sie beschreiben wollen. Soweit das Konstrukt eines Kulturkrieges.

Den Postmodernen wird dabei vorgeworfen, bestimmte theoretische Optionen gar nicht mehr in Betracht zu ziehen, weil sie die strukturelle Gewalt verstärkten. Weil nicht sein könne, was nicht sein darf, dürfe man zum Beispiel nicht mehr die Frage stellen, ob es erblich bedingte Unterschiede im Intelligenzquotienten gebe, die mit der Hautfarbe korrelierten, ja das Konzept des Intelligenzquotienten selbst werde als Instrument der Unterdrückung diskreditiert. Die ideologiegeleiteten “weichen” Gesellschaftswissenschaften würden dabei die von den wahrheitsgeleiteten “harten” Naturwissenschaften entdeckten Fakten leugnen, weil sie nicht in ihre Ideologie passten. Damit wird eine Position aufgegriffen und entwickelt, deren Grundstein in den 2010er Jahren von Ben Shapiro gelegt wurde. Unter dem Slogan “Facts don’t care about your feelings” verteidigte er regelmäßig einen biologisch begründeten Begriff von Geschlecht und wies die Idee von Transgeschlechtlichkeit zurück. Vor allem Geschlechterforschung und Critical Race Studies sehen sich diesem Vorwurf ausgesetzt. Hier würden biologisch unleugbare Fakten zu “Sozialen Konstrukten” erklärt, um die Vorherrschaft des weißen Patriarchats zu durchbrechen.

Diesen Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit sollte der sogenannte grievance studies hoax untermauern: inspiriert durch Alan Sokal schrieben Helen Pluckrose, James Lindsay und Peter Boghossian eine Reihe von Artikeln, in denen sie Thesen über Geschlechterverhältnisse vertraten, die sie selbst für abstrus hielten. Die Artikel  boten sie einschlägigen Plattformen der Geschlechterforschung zur Publikation an. Sieben davon seien zur Veröffentlichung, sieben weitere zur Begutachtung angenommen worden, erzählte Boghossian der NZZ. Damit sei bewiesen, dass in diesem Bereich alles behauptet werden könne, solange es in die Ideologie passe.

Pluckrose und Lindsay erweiterten ihre Kritik zu einem Buch, das im August 2020 unter dem Titel Cynical Theories erschien. Darin verfolgen sie die heutige Kritische Theorie, und ihre Festlegung auf Soziale Gerechtigkeit statt Wahrheit zurück zur sogenannten Postmoderne. (Für eine ausführliche Analyse siehe hier). In einer Reihe theoretischer Phasen sei zuerst die Idee “objektiver Wahrheit” durch die Idee eines von Machtstrukturen bedingten Diskurses ersetzt worden, um dann die Durchbrechung dieser Machtstrukturen zu fordern. Konkret bedeute dies, dass bei der Entscheidung zwischen Fakten und moralisch wünschenswerten Ergebnissen die Fakten immer den Kürzeren ziehen würden. Das Ergebnis seien Cancel Culture, die Forderung nach akademischen safe spaces, in dene keine “unbequemen Wahrheiten” mehr ausgesprochen werden dürften, und allgemeine Wissenschaftsfeindlichkeit.

Die Warnungen der Gralshüter:innen vermeintlich unpolitischer Fakten nehmen dabei zunehmend bizarrere Ausmaße an. So schrieb James Lindsay im Sommer 2020 auf Twitter, dass die Postmodernen sogar soweit gingen, die Gleichung “2+2=4” als Ausdruck patriarchal-weißer Macht zu begreifen, die es zu brechen gelte. Dabei bezog er sich bewusst oder unbewusst auf eine Passage in George Orwells 1984 (der beliebteste Bezugsrahmen im Kulturkampf – siehe die wiederkehrende Verwendung von “Neusprech” und “Gendersprech”), in der es heißt, die Partei würde einen selbst dazu bringen, anzuerkennen, dass zwei und zwei fünf seien. 

Als Kareem Carr, seines Zeichens Doktorand für angewandte Statistik, erwiderte, dass unter bestimmten Bedingungen die Gleichung “2+2=5” sinnvoll sein könnte und Beispiele entwickelte, entstand eine heftig geführte Debatte. Lindsay selbst ließ sich in dieser Auseinandersetzung zu lächerlich anmutenden Manövern hinreißen. So postete er zum Beispiel ein Video, in dem er kommentarlos zwei Tomaten neben zwei andere legte. Was damit gesagt sein sollte, ließ er offen. Bei einer anderen Gelegenheit verstieg er sich zu der Behauptung, die Kritische Philosophie Immanuel Kants sei aufklärungsfeindlich, weil Kant leugne, dass das “Ding an sich” erkennbar sei und die Kategorien der Erkenntnis vom Geist hervorgebracht also “Soziale Konstrukte” seien.

Das ließe sich als Symptom einer überhitzten online-Debatte abtun. Es ist aber so, dass erst vor Kurzem wieder die Angst vor einem postmodernen Angriff auf die Mathematik geschürt wurde, als ein US-Amerikanischer Leitfaden zur Überwindung von strukturellem Rassismus im Mathematikunterricht die Runde machte. Dass es dabei um didaktische und nicht inhaltliche Punkte ging, wurde dabei großzügig übersehen. Der Tenor lautet: dem Gerechtigkeitseifer und Sozialkonstruktivismus der Postmodernen ist nichts mehr heilig.

In deutschsprachigen Medien nimmt dieser Kulturkampf zunehmend Raum ein. Die zweifelhafte Ehre, den selbsternannten Retter:innen der westlichen Kultur ein Sprachrohr zu bieten, kommt dabei vornehmlich der NZZ zu. Dort erschien eine Rezension von Cynical Theories sowie ein Interview mit Boghossian. Als deutschsprachiger Intellektueller erhielt Markus Gabriel mehrfach Gelegenheit, vor dem Schreckens des postmodernen Relativismus zu warnen. Zwei weitere Gastbeiträge kamen von Biologen: Hans Peter Klein, Biologe und Biologiedidaktiker, forderte offen ein Ende der staatlichen Finanzierung der Geschlechterforschung, die er mit dem Kreationismus verglich. Axel Meyer kritisierte den “Genderismus”, der “umerziehen” wolle, empirische Tatsachen leugne, und Carl von Linée diffamiere. 

Ein ganzes Buch darüber, ob das Geschlecht “natürlich” oder “konstruiert” sei, hat der Philosoph Christoph Türcke dem Thema gewidmet. In Natur und Gender kritisiert er den “Machbarkeitswahn” als Resultat eines Denkens, das die Welt als Produkt des Geistes versteht. Was etwas (oder jemand) ist, sei letztlich nur eine Frage der Bezeichnung und wie etwas bezeichnet wird, ist eine Frage der Macht. Das ist die These, auf welche die sogenannte Postmoderne von dieser Kritik festgelegt wird. Dagegen beanspruchen die selbsternannten Verteidiger der Fakten, an der Idee festzuhalten, dass die Wirklichkeit in ihrem Dasein und Sosein unabhängig vom Zugriff des Denkens ist. Die Welt ist nun einmal so, wie sie ist, und entweder ist eine Aussage über sie richtig, oder eben nicht.

Über all das wurde viel gesagt und lässt sich noch mehr sagen. Hier soll es vor allem darum gehen, den vermeintlichen Gegensatz zwischen der objektiven Wirklichkeit und dem radikalen Sozialkonstruktivismus genauer zu beleuchten. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob die Postmodernen tatsächlich in der Weise konstruktivistisch sind, wie es von ihren Gegnern behauptet wird. (Obwohl viel gegen diese Darstellung der Postmodernen spricht.) Denn der Gedanke, dass die Wirklichkeit in einem gewissen Sinne erst durch das begrifflich artikulierte Denken das wird, was sie ist, erscheint durchaus vereinbar damit, dass die Wirklichkeit in einem gewissen Sinne sehr wohl objektiv ist. Um dies zu verstehen, braucht es einen philosophischen Exkurs.

In seinem 1994 erschienenen Buch Mind and World (dt. Geist und Welt, 1998) versucht der südafrikanische Philosoph John McDowell die Frage zu beantworten,  unter welchen Bedingungen unsere Überzeugungen über die Wirklichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmen und von ihr hervorgebracht werden. Das Problem ist folgendes: Nichts und niemand hindert uns zu denken und zu sagen, dass etwas anders sei als es in Wirklichkeit ist.

Wenn Urteile über den Zustand der Welt Produkte des Geistes sind, wie lässt sich dann sicherstellen, dass das Sosein der Wirklichkeit der Grund für unser Urteil über die Wirklichkeit ist? Wie lässt sich sicherstellen, dass unsere Begriffe von der wahrgenommenen Wirklichkeit der “objektiven” Wirklichkeit entsprechen? Wenn ich den Kühlschrank öffne, eine Packung Milch dort sehe und zu der Überzeugung gelange, dass Milch im Kühlschrank ist, dann muss die Tatsache dass Milch im Kühlschrank ist, irgendwie damit zu tun haben, dass ich glaube, dass Milch im Kühlschrank ist, damit von Wissen die Rede sein kann. Andernfalls hätte ich einfach nur gut geraten.

McDowell identifiziert zwei Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen. Die eine besteht darin, das Denken von der Wirklichkeit gewissermaßen abzuschneiden und die Wahrheit von Urteilen nur noch als ihr Passen in ein größeres System anderer Urteile zu verstehen. Man nennt diese Idee auch “Kohärenztheorie”. Die andere Möglichkeit besteht darin, die Wirklichkeit als etwas zu verstehen, das außerhalb des Geistes liegt und auf ihn einwirkt. Sie ist dann schlicht und einfach “gegeben”. 

Die Milchpackung im Kühlschrank reflektiert das Licht auf eine gewisse Weise auf meine Netzhaut. Eine Kaskade komplizierter Kausalketten katapultiert daraufhin einen Nervenimpuls ins visuelle Zentrum des Gehirns. Am Ende habe ich einen Sinneseindruck, eine Art “Bild im Kopf”. Dieses Bild kann ich zwar falsch deuten (vielleicht sehe ich nicht genau genug hin und halte die Milch- für eine Saftpackung), das ändert aber nichts am Inhalt des Bildes. Damit soll sichergestellt sein, dass die Wirklichkeit auf die Wahrnehmung Einfluss nimmt.

Der Gegensatz zwischen den Postmodernen und den Retter:innen des Abendlandes lässt sich als speziellerer Fall dieses allgemeinen Problems verstehen. Die Postmodernen werden so dargestellt, als spiele bei ihnen der genannte Bezug auf eine Wirklichkeit außerhalb des eigenen Denkens keine Rolle mehr. Demgegenüber stehe die Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist und die das Denken und Reden über sie beeinflusst. Dass es richtig ist, zu sagen, zwei und zwei seien vier, liegt dann daran, dass zwei und zwei wirklich vier sind.[1] Dass es richtig ist von binären Geschlechtern auszugehen, liegt daran, dass ein bestimmter Chromosonensatz, bestimmte Reproduktionsorgane und bestimmte Hormonhaushalte entweder Frauen oder Männer hervorbringen. Das könne man bedauern, man könne es aber nicht dadurch ändern, dass man Begriffe wie Geschlecht und Intelligenz anders benutzt als die Wirklichkeit es vorgibt. “Nun scheint der Mond nicht dadurch heller, dass man ihn Sonne nennt.”, heißt es in einer Rezension von Türckes Buch.

McDowell versucht zu zeigen, dass weder die Kohärenztheorie noch die Unterstellung eines Gegebenen erlauben, auf eine Weise von Wirklichkeit zu reden, die sich als Wissen bezeichnen lässt. Warum das für eine Kohärenztheorie bzw. einen Sozialkonstruktivismus nicht möglich ist, ist schnell erkennbar: der Grund dafür, wie wir in Bezug auf eine bestimmte Sache denken, liegt immer darin, wie wir in Bezug auf eine bestimmte andere Sache denken und so weiter. Aber warum hilft es nicht weiter, zu sagen, dass die Wirklichkeit “dort draußen” ist und auf das Denken einwirkt?

Dies ist nicht der Ort, um McDowells Argumente im Detail wiederzugeben. Hier reicht es, folgenden Gedanken festzuhalten: Eine Erklärung, warum ich denke, was ich denke, ist etwas anderes als eine Begründung dafür, warum es richtig ist, zu denken, wie ich denke. Wenn das Denken von etwas beeinflusst wird, das außerhalb des Denkens liegt, kann dieser Einfluss allein die Unterscheidung zwischen richtig und falsch nicht ermöglichen.[2] Unsere Situation wäre die einer Person, die in einem vollen Bus einer anderen Person versehentlich auf den Fuß tritt, weil der Bus anfährt und sie aus dem Gleichgewicht gerät. Man kann nicht wirklich sagen, dass sie etwas falsch gemacht hat, weil sie für das Ereignis nicht verantwortlich war (auch wenn sie sich wahrscheinlich entschuldigen würde). Die Fachsprache spricht hier von einem genetischen Fehlschluss, weil die Entstehung (Genese) einer Behauptung mit ihrer Begründung (Geltung) verwechselt wird.

Es ist immer möglich, zu fragen, ob die Gründe, die man für ein Urteil hat, gute Gründe sind. Diese Frage kann aber nicht dadurch beantwortet werden, dass die Wirklichkeit keine Wahl für ein anderes Urteil zugelassen hat. Genauso wie der wackelnde Bus mir keine Wahl lässt, jemandem auf den Fuß zu treten. Die Frage nach Gründen stellt sich überhaupt nicht. Denn nur, wenn es möglich ist, falsch zu liegen, hat die Unterscheidung zwischen richtig und falsch einen Sinn.

Die Wahl zwischen zwischen Kohärenztheorie und Gegebenem scheint erst dadurch unvermeidbar, dass Geist und Wirklichkeit als Gegensätze verstanden werden. Wenn diese Voraussetzung aufgegeben wird, verschwindet das Problem. Die Wirklichkeit ist dann insofern “sozial (oder. begrifflich) konstruiert”, als sie für Menschen nie anders als begrifflich strukturiert erscheinen kann. 

Die Art, wie uns die Wirklichkeit erscheint, ist selbst Teil der Wirklichkeit, wodurch die Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit “dort draußen” und der Wirklichkeit “wie ich sie sehe” gegenstandslos wird (was nicht heißt, dass man sich nicht irren kann). Anders gesagt, da die Wirklichkeit uns Menschen immer begrifflich strukturiert erscheint, gehören diese Begriffe zur Wirklichkeit. Der Gedanke, dass es eine “objektive” Wirklichkeit gibt, die durch bestimmte Verfahren erkennbar ist, ist bereits von einem begrifflichen Zugang zu ihr abhängig. 

Gerade an der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften lässt sich das zeigen. Galilei, von vielen als Paradebeispiel für das Festhalten an einer objektiven Wahrheit gesehen, glaubte nicht an den Nutzen von Experimenten, welche die modernen Naturwissenschaften zu einem großen Teil ausmachen. Wie die meisten Denker:innen der europäischen Antike und des Mittelalters war auch er noch davon überzeugt, dass alles, was verstanden werden kann, im Prinzip durch gründliches Nachdenken verstanden werden kann.

Die Idee, dass bestimmte Dinge erst durch beobachtbare Experimente verstehbar werden, musste erst einmal aufkommen und sich durchsetzen. Dazu musste eine bestimmte Vorstellung der Wirklichkeit eben “konstruiert” werden. Trivialerweise auch deswegen, weil dieses Verfahren selbst nicht beweisen kann, dass es diese Wirklichkeit gibt und es uns in Kontakt mit ihr bringt. Ebenso wenig wie ich beweisen kann, dass ich immer die Wahrheit sage, indem ich sage, dass ich immer die Wahrheit sage. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass es vom Denken abhängt, welche Wirklichkeit es gibt. Das ist der erste Fehler, der bei der Rekonstruktion der Postmodernen gemacht wird.

In einem gewissen Sinne ist es dann aber doch von den jeweiligen Begriffen abhängig, was zur Wirklichkeit gehört. Wenn die Gegenstände der Erkenntnis begrifflich strukturiert sind, werden bestimmte Dinge als diese Dinge nur erkennbar, wenn wir die entsprechenden Begriffe haben und anwenden. Eine rein physiologische Beschreibung dessen, was mit den Körpern der beiden Personen im Bus passiert, würde uns nichts darüber verraten, ob eine der beiden etwas falsch gemacht hat, weil richtig und falsch keine physiologischen Begriffe sind. Welche Frage man stellt, bestimmt, welche Antworten man erhalten kann. 

Die Beschreibung von etwas ist immer eine Beschreibung als etwas und dieses Als ist eine begriffliche Konstruktion. Unterschiedliche Begriffe bringen also unterschiedliche Phänomene in den Blick. Die Frage ist also nicht, ob ein bestimmtes System von Begriffen die “objektive” Wirklichkeit beschreibt, sondern ob es die Phänomene in den Blick bringt, die wir in den Blick bekommen wollen. Diebstähle gibt es nicht, wenn es keine Rechtsnormen gibt, die benennen, unter welchen Bedingungen ein Ereignis als Diebstahl beschrieben werden kann – mit den entsprechenden sozialen und rechtlichen Konsequenzen.

Die Frage ist dann also, wie wir uns auf diese Weise in der Welt orientieren und unser Leben  gestalten können. Geschlechter, Quanten und Diebstähle sind so konstruiert, wie sie es sind, weil sich das Leben so leichter gestalten lässt. Daraus, dass etwas auch anders gemacht werden könnte, folgt nicht, dass es keine guten Gründe gibt, es gerade so zu tun. Und bei der Beantwortung der Frage, ob die Gründe für eine bestimmte begriffliche Strukturierung der Wirklichkeit gute Gründe sind, müssen auch die Voraussetzungen einfließen, die zu dieser Strukturierung geführt haben. Tatsache ist zum Beispiel, dass IQ-Tests ursprünglich dazu verwendet wurden, Lerndefizite bei Schulkindern zu ermitteln, sodass der Intelligenzquotient gerade nicht unveränderlich durch die Natur vorgegeben ist. Eine solche Voraussetzung muss Teil der Bewertung für diesen Blick auf Wirklichkeit sein.

Wie schon gesagt, kann “die Natur” nicht auf einer Seite einer rationalen Beziehung stehen, wenn sie so verstanden wird, dass sie dem Geist keine andere Wahl lässt, als auf eine bestimmte Weise zu denken. Deswegen ist es kein Argument, wenn auf biologischer Seite darauf beharrt wird, dass der Geschlechterdimorphismus und das darauf basierende (Fortpflanzungs-)Verhalten empirisch festgestellte und unerschütterliche Tatsachen der Biologie seien. Einmal abgesehen davon, dass die belebte Natur eine Vielzahl von Fällen kennt, in denen diese Unterscheidung keine harte Abgrenzung ist, lässt sich unter dem Gesichtspunkt des normativen Charakters von begrifflich-rationalen Beziehungen immer fragen, ob diese bloßen Tatsachen gute Gründe sind, Organismen als männlich oder weiblich zu beschreiben. 

Um ein weniger aufgeladenes Beispiel zu nehmen: Es ist eine bloße Tatsache der biologischen Natur, dass Lebewesen auf Energiezufuhr angewiesen sind, um ihren Stoffwechsel aufrechtzuerhalten. Das Absinken der Energiereserven führt zu Hunger und dem Bedürfnis nach Nahrung. Damit das Hungergefühl aber ein Grund zum Essen sein kann, also etwas, wodurch die Entscheidung, jetzt etwas zu essen, als richtige Entscheidung darstellbar wird, muss es auf eine Weise beschrieben werden, durch die es als guter Grund erkennbar wird.

Angenommen, die Person, die das Hungergefühl verspürt, hat sich entschieden, ihr Leben in Askese und Meditation zu verbringen. In diesem Fall würde sie das Hungergefühl vielleicht als Versuchung der Mächte des Bösen beschreiben, der es zu widerstehen gilt. Dann wäre das Hungergefühl gerade ein guter Grund nicht zu essen. Als vernünftige Lebewesen sind Menschen fähig, die Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Gründen zu machen, und sich an Gründen zu orientieren. 

Das heißt, wann immer ein Urteil als Handlungsgrund ausgegeben wird, lässt sich fragen, ob dieser scheinbare Grund ein guter Grund ist. Die physiologische Konstitution von Menschen wird als Grund angeboten, sie als Männer und als Frauen zu beschreiben. Die Beschreibung von Personen als Männer und als Frauen wird als Grund dafür angeboten, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten sollten. In beiden Fällen lässt sich fragen, ob die jeweils hergestellten rationalen Beziehungen die richtigen Beziehungen im Sinne von guten Gründen sind.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Philosophie sind Ausdruck der Selbstverortung von Menschen als vernünftige Lebewesen in einer Wirklichkeit, die in einem gewissen Sinn erst durch den Zugriff der Vernunft auf sie das wird, was sie ist. Diesem Anspruch wird entgegengehalten, dass es lediglich einer Verhaltensbiologie des Tieres Mensch bedarf, welche die bloßen Tatsachen seiner physiologischen Natur beschreibt. 

Dieser Absorptionsversuch scheitert, weil es nicht darum geht, warum wir urteilen und handeln, wie wir urteilen und handeln, sondern ob wir so urteilen und handeln, wie wir es sollten. Die Vernunft ist nicht einfach eine Fähigkeit, mit der die evolutionäre Fitness des Tieres Mensch in der natürlichen Welt erhöht wird, sie verändert sein gesamtes Verhältnis zur Welt, die für Menschen nicht mehr die nur natürliche ist. 

Jede durch die Vernunft eingenommene Perspektive lässt sich daraufhin befragen, ob sie eine gute Perspektive ist, oder ob man es nicht anders machen sollte. Dies hat nichts mit dem primitiven Sozialkonstruktivismus zu tun, der den Postmodernen zugeschrieben wird. Auf der anderen Seite ist die Figur einer jenseits aller Beschreibung und Wahrnehmung liegenden objektiven Wirklichkeit ungeeignet, dem ungehinderten Zugriff des Denkens so Einhalt zu gebieten, wie es nötig wäre. Eine solche Figur ist aber auch nicht nötig, um von Objektivität zu reden, solange Objektivität im Sinne des Unterschieds zwischen besseren und schlechteren Gründen verstanden wird. Was ein besserer Grund ist, ist dabei einzig und allein abhängig von der Vernunft, die jedoch Teil der Wirklichkeit ist. Das einzige Konstrukt ohne Verankerung in der Wirklichkeit ist die Position, an der die selbsternannten Retter:innen der Aufklärung sich abarbeiten.

[1] ”Ich darf doch nur folgern, was wirklich folgt! – Soll das heißen: nur das, was den Schlußregeln gemäß folgt; oder soll es heißen: nur das, was solchen Schlußregeln gemäß folgt, die irgendwie mit einer Realität übereinstimmen? Hier schwebt uns in vager Weise vor, daß diese Realität etwas sehr abstraktes, sehr allgemeines und sehr hartes ist.” (Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, § 8. Ludwig Wittgenstein Werkausgabe Bd. 6. Herausgegeben von G. E. M. Anscombe, Rhush Rhees, G. H. von Wright. 10 Aufl., Suhrkamp.)

[2] Eine ausführlichere Darstellung dieses Gedankengangs gibt dieser Artikel über Wilfrid Sellars, auf den McDowell sich häufig bezieht.

Photo by davisuko on Unsplash

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