von Katharina Walser
Am Anfang steht eine Gruppe von Müttern, die schreiben. Sie beschließen über das Schreiben zu schreiben. Über die Vorurteile, die Hindernisse, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Vereinbarkeit von Pflege und Kunstschaffen. Es entsteht ein Austausch, es entstehen gemeinsame Textstücke, es folgt im Frühjahr 2021 eine Veröffentlichung im Edit Magazin unter dem Titel Fragment I, der erste Kollektivtext der Gründer:innen von Writing with CARE/RAGE. Die Gründer:innen, das sind die Autor:innen Lene Albrecht, Daniela Dröscher, Berit Glanz, Verena Güntner, Sandra Gugić, Elisabeth R. Hager, Kathrin Jira, Svenja Leiber, Caca Savic, Julia Wolf und Maren Wurster. Sie schreiben in ihrem Fragment über das Muttersein und über das Sein als Autor:in. Es spannt sich ein Raum auf zwischen privaten Szenen und struktureller Kritik am misogynen Literaturbetrieb und an der staatlichen Anerkennung von Care-Arbeit. Vergangenes Wochenende findet dann die erste Konferenz statt. Es geht auch hier um „Schreiben und…“.
Denn Schreiben ist für Care-Arbeit leistende Menschen immer gefolgt von diesem „und“, wie es Sharon Dodua Otoo in ihrem Prolog am ersten Konferenztag auf den Punkt bringt. Ich schreibe und pflege, ich schreibe und koche, ich schreibe und fülle Anträge aus, ich schreibe und hebe Marmeladenbrote auf, und, und, und. Doch nicht nur wird das Schreiben in Care stetig von einem Anderen begleitet, unterbrochen, aufgeschoben, es fehlt mit der Zeit zum Schreiben auch der Raum. Ein eigenes Zimmer braucht die Frau, wenn sie schreiben will, so die berühmten Worte von Virginia Woolf. Doch wo sind diese Zimmer? Wer stellt sie zur Verfügung? Wer entscheidet über ihre Verfügbarkeit? Fragen, die besonders in pandemischen Zeiten, in denen sich Writing with CARE/RAGE zusammengefunden hat, an Dringlichkeit gewinnen, wenn deutlich wird, welche prekären Situationen entstehen, wenn die Familie zurückgeworfen wird auf die ständige Koexistenz im heimischen Raum. Wo Homeschooling, Home Office und Care alles gleichzeitig und meist an einem Ort abzulaufen hatte.
Das Nachdenken über Schutzräume, Schreibräume und Freiräume, das diese Zeit mit sich bringt, betrifft jedoch Fragen, die weit über die Pandemien hinaus relevant bleiben, und Problemfelder der Rollenverteilungen, die so alt sind wie die Mutterschaft selbst. Ihren Prolog beendet Otoo mit den Worten „Ich bin dankbar, dass ich (hier) eine Rolle spiele“. Um Sichtbarkeit geht es also, um neue Schutzräume und neue Rollenbesetzungen, wie dieses Kollektiv, das sich der Problematisierung und Versprachlichung von deren Abwesenheit widmet. Und eine Neubesetzung braucht es dringend, denn, das beschreiben die Veranstalter:innen im ersten Panel eindrücklich, in der Schreibenden Mutter vereinen sich drei vollkommen unvereinbare Bilder, die von dominanten gesellschaftlichen Narrativen verzerrt werden. Die Schreibende Mutter steht zwischen der fehlenden Anerkennung der Leistung für Care Arbeit, der überhöhten Hochjubelung der Mutter als unfehlbares Wesen und der völligen Verklärung dessen, was Autor:innenschaft heißen kann. Die Materialsammlung der Autor:innen zeigt, dass diese Zerrbilder der Grund sind, warum die Themen und die Arbeit der Autor:in nicht gewürdigt werden, sobald sie auch noch sichtbar Mutter ist. Diese Nichtwürdigung reicht vom Label der „Frauenliteratur“, das allen Inhalten von schreibenden Frauen, seien sie noch so reich an verschiedenen Motiven, nur einen bestimmten Prozentsatz im Verlagsprogramm einräumt, zu Szenen, die zeigen, womit frau sich auseinanderzusetzen hat, wenn sie mit Baby auf eine Lesung kommt: Ablehnung und aufgeladene Scham.
Alte Rollenbilder und misogyne Stigmata laufen so in der Schreibenden Mutter zusammen, die so oft nur die Wahl bekommt, Rabenmutter oder Heldin zu sein, die sich nicht im Dazwischen bewegen darf. Denn dort wäre sie unberechenbar, unaushaltbar für eine Gesellschaft, die sich darauf verlässt, dass sie sich auf der Arbeit, die auf den Rücken dieser Mütter lastet, gemütlich ausruhen kann. Die Schreibende Mutter ist so für das Patriarchat, wie Daniela Dröscher gleich zu Beginn der Konferenz formuliert, eine Bedrohung höchster Eskalationsstufe.
In der Frage danach, wie man sich diese Rollenbilder zurückholt, wie die Neubesetzung der Schreibenden Mutter zu leisten ist (und damit auch eine Neubesetzung der Schreibenden und der Mutter), kommen die Überlegungen der Autor:innen immer wieder zu einer Figur zurück, sozusagen zum männlichen Pendant des eigenen Zerrbildes: dem patriarchalen Genie. Eine Figur, die uns in der Kulturgeschichte immer wieder begegnet, wie in den Bildern von Friedrich Georg Kersting: der Mann am Sekretär – weit und breit nur er und der Schreibtisch, keine Ruhestörung, keine sichtbare Außenwelt, nur der Schreibende und das Schriftstück vor ihm. Mit diesem Bild hängt viel zusammen, was unter eine Jahrhunderte alte Vorstellung fällt, die in allen Epochen in verschiedenen Kostümen wieder kommt: der Kunstschaffende als von der von der Muse Geküsste, ein Talent, das nur der Ausnahme, dem (männlichen) Genie zugesprochen werden kann; Kreativität, die aus dem Einzelnen fließt, aus einer mystischen Quelle, zu der niemand sonst Zugang hat.
Klar wird, dieses Bild gilt es so schnell wie möglich zu verbannen, um neue Vorstellungen zu etablieren, neue Vorstellungen darüber was Schreiben heißt. Gegen einen patriarchalen Mythos schreibt Writing with CARE/RAGE also an. Das tun sie, wie der Name sagt, nicht nur, indem sie den Prozess des Schreibens während der Care verschriftlichen, oder über Care sprechen, sondern indem sie mit Care schreiben, also vorsichtige Versuche komplexer Begriffsarbeit machen; indem sie Care für sich selbst zurückholen; indem sie sich in ihren Texten damit beschäftigen, wieso sie ihre Wut so oft gegen sich selbst richten statt gegen die einengenden Strukturen. Care für das feministische Kollektiv, das nicht immer so verfügbar scheint wie an den Tagen dieser Konferenz, und Care im Sinne einer Suchbewegung hin zu neuen Denkformaten und Kollaborationsräumen.
Und Rage? Rage, also die Wut, die Emotion, die so oft gegen die Frau gerichtet wird, als etwas das sich nicht gehört, ihr aberzogen wird, – man denke auch an die Geschichte der Hysteriediagnosen –, ist die stetige und ermächtigende Begleiterin in dieser reflexiven Suchbewegung; sie flammt immer wieder auf und wird sichtbar in autobiographischen Szenen, in denen ein misogyner Kritiker einer Autorin über 40 jedes Talent aberkennt oder in Momenten, in denen einer der Autor:innen bewusst wird, wie stark manche Stipendiumsvorgaben ein feindliches Bild zur Mutterschaft formulieren: In die Villa Aurora kommt man nämlich nur ohne Kinder. Rage ist die Wut im Spannungsverhältnis zwischen diesen außenliegenden Strukturen und denen, die sich immer wieder gegen das eigene Selbst richten, die Wut, die leise zurückkommt, weil das Selbstbild von diesen Rollenbildern getrübt ist, von dem Bild der heldenhaften, alleskönnenden Mutter, dem der eigene Alltag nicht stand halten kann.
In ein gemeinsames Gespräch zu kommen und voneinander zu lernen, Trost in der Anerkennung des Schmerzes der Anderen und Hoffnung in der geteilten Erfahrung zu finden, das wollen die Veranstalter:innen und ihre Texte. Das Kollektiv CARE/RAGE entsteht so im absolut ehrlichsten Sinne eines Kollektivs (lat. colligere), also als zusammensuchen, zusammenlesen und: als zusammen schreiben. So findet auch während der Konferenz, im Hintergrund der verschiedenen Panels und Workshops, ein neuer Versuch, eine weitere Suchbewegung statt, die zum Dreh-und Angelpunkt der Gesprächsreihen wird. Ein Versuch das kollektive Schreiben, wie in Fragment I, mit einem etwas größeren Kollektiv der Öffentlichkeit zu erproben. Unter dem Titel Rhizom öffnen die Autor:innen ein Dokument, das für alle Teilnehmenden über die Webseite frei zugänglich ist und in dem sie dazu aufrufen, mit ihnen zu schreiben. Was dort entstanden ist, ist auf kitschfreie Weise anrührend. Anonym schreiben hier, wie im Format des Google-Dokuments Anonymität dargestellt wird, Autor:innen unter Decknamen aus dem Tierreich. „Letzte Änderung von Anonymen Einhorn“ steht auf meinem Bildschirm, als ich mich dazu schalte. So werden hier keine Namen kollektiviert oder gegeneinander ausgespielt und die Konkurrenz zieht sich für ein paar Stunden hinter die Gemeinschaft zurück. Es wird in den Raum gefragt, geantwortet, hinein gedacht, mal monologisch, mal im Fragment:
Hallo anonymer Ameisenbär, hallo anonymer Grizzly, hallo, anonyme Preisträgerin, hallo, anonyme Frau, die immer strahlt, hallo, anonyme Care-Arbeiterin, hallo, anonymes Opfer von häuslicher Gewalt. Hallo. Hallo! Hallo?
Mal deutlicher, mal verschwommen ist zu erkennen, wo hier die eine Stimme aufhört und die andere beginnt; die beschriebenen Erfahrungen und Gedanken der Autor:innen ordnen sich in- und umeinander. Das Private und das Politische zeigen sich als eins, wenn die kleinsten Alltagsszenen neben struktureller Kritik stehen, Einsamkeit mischt sich mit der Dankbarkeit für die sich dort entfaltende Vielstimmigkeit, die sich liest wie ein lyrischer Zauberwürfel der Lebensrealitäten, beweglich und immer neue Muster bildend:
Warum will ich bemerkt werden in meiner Aufopferung? / Der Blick auf Sorge füreinander muss über die Ebene biologischer Kernfamilien geöffnet werden. Wir sorgen in Wahlfamilien füreinander, wir sorgen als Kollektive füreinander / Gebt uns Zeit. Gelt und Zeit. / Ich. Muss. Mit. Meinem. Kind. Heute. Mathe. Machen. Kein Wochenende. Kein Selbstmitleid. Kein Wochenende. Kein Selbsthass. Kein Selbstmitleid. Kein Selbst. / Das Zeitfenster schließt sich, das Schreiben verebbt zuerst im Kopf, in den sich wieder die To Do-Listen schieben, und ein Kuss. / Sehr froh, euch zu hören
In diesem Zusammentragen der Situationen und dem Nebeneinander von Unvergleichbarem entsteht eine Mehrheit der Verschiedenen, in der multiple Problemfelder sichtbar werden und kollektive Erfahrbarkeit erlangen. Es wächst ein Raum der Solidarität: Ja, wir sind hier, wir hören dich, wir sehen dich, auch wir sind unfassbar müde. In dieser Schreibpraxis wird so nicht nur inhaltlich gegen die sozialen Codierungen des (mütterlichen) Schreiballtags und die Diskriminierungsmechanismen des Literaturbetriebs angeschrieben, sie werden performativ unterlaufen.
Wie für das Rhizom nach Deleuze und Guattaris Vorschlag in den Tausend Plateaus, in dem der Text als Wurzelgeflecht gedacht wird, in dem (wie im Fall der Seerose) kein Stamm als Ursprung auszumachen wäre und auch kein Endpunkt als Baumkrone, so gibt es auch in diesem Rhizom keine Hermeneutik, also keinen Deutungsansatz, keine Wirklichkeit, die der anderen vorzuziehen wäre, keine Erfahrung, die wahrer wäre als die anderen. Und wie das Rhizom verzweigt es sich an vielerlei Stellen, die Stimmen schließen aneinander, zitieren einander und formen eine Kreativität der Gemeinschaft. Und das patriarchale Genie? Das hat keine Chance mehr in dieser hierarchielosen und dekonstruktiven Praxis von Co-Autor:innenschaft, im Geflecht von angewandter Kompliz:innenschaft. Während andernorts in großen Feuilletons konzeptlos nach der Rückkehr in den analogen Raum oder nach dem Neudenken des Digitalen geschrien wird, wird hier eine beeindruckende Performance gegeben von der Zukunft des Schreibens und den Gestaltungsmöglichkeiten von Literaturveranstaltungen.
Einfach so, bescheiden unter dem bekannten Wort Konferenz, wurde hier eine Ausstellung über feministisches Schreiben kuratiert, die den digitalen Raum nutzt um neue Wege zu gehen und wie nebenbei auf mediale Grenzen pfeift. So findet man, parallel zu den Panels und dem Rhizom, Pfade zu den sogenannten Care-Paketen, einer Kollaboration mit der queerfeministischen Buchhandlung she said books, die aus zusammengestellten Text-Paaren der CARE/RAGE Redaktion bestehen, ein initiierter Dialog zwischen den Lektüren sozusagen. Der Film von Ella Zwietnig, eine Collage in 50er-Jahre Ästhetik, verbindet deren Rollenbilder mit den Fragen der Veranstalter:innen. Im Zusammenspiel der Tonspur aus eingesprochenen Zitaten von Fragment I und diesen Bildern, in denen die Mütter in Schwarz und Weiß stumm bleiben, entstehen Reibungsstellen, die betroffen machen, da sie die „Trägerfolie“ (Sandra Gugić) abbilden, auf der wir uns (noch) befinden, und die klar machen, dass man sich noch länger als in der eigenen Blase vermutet an ihnen abzuarbeiten haben wird. Und abends, wenn die Panels dann vorbei sind, man aufgehört hat in das Rhizom zu schreiben, dann wartet auf die Teilnehmenden noch die Playlist des Theater Kollektivs Henrike Iglesias, um musikalisch nachzufühlen und noch ein bisschen mehr Rage für den nächsten Tag aufzubauen, angefangen bei Dolly Partons Song 9 to 5.
Zwischen den Zeilen dieser Veranstaltung, mitten in diesen zarten Suchbewegungen, brodeln die Forderungen der praktischen Anwendbarkeit. Nicht nur Raum wird gebraucht, sondern, das wusste Virginia Woolf, auch ein Vermögen. So wird am letzten Abend der Konferenz über Privilegien gesprochen, unter mehrfacher Zitation von Jacinta Nandis Beitragstext, die sich darin an ihrem einstigen Vorbild und deren Forderung nach dem eigenen Zimmer abarbeitet, denn: „Was bringt einem ein writing shed oder ein privates Zimmer, wenn das Leben so voll ist, dass man nie alleine ist?“ Auch an feministischen Vorbildern wird sich also gerieben, während die Frage in den Raum gestellt wird, wohin diese Suchreise von CARE/RAGE nach diesem Auftakt gehen kann: In theoretisches Arbeiten? Aktivistisches? Literarisches? (Miryam Schellbach) Klar ist, das verbindet alle Teilnehmenden des letzten Panels, der Weg muss intersektional beschritten werden. Denn die Stimmen des Rhizoms zeigen ein weiteres mal, dass Care nicht nur von Müttern geleistet wird und weit mehr bedeutet als das deutsche Wort Pflege. Sie zeigen auch, dass die Autor:in immer wieder in kritischen ökonomischen Verhältnissen ausharren muss, bis zur Förderung oder Vertragsabschluss mit ihrem geistigen Eigentum in Vorleistung geht, und dass das dominante Bild in der Literaturszene immer noch zu weiß ist. Um Teilhabe muss es weiter gehen und die Räume zu so einer Teilhabe haben in dieser Konferenz einen unvergleichlichen Entwurf gefunden, denn diese im digitalen Raum geschaffene Spielwiese der Schreibformen schafft zweifelsohne wesentlich niedrigschwelligere Teilhabe und vielfältigere Gestaltungschancen als das berühmte dritte Zimmer nach Woolf. Am Ende steht also ein Anfang – zu einem anhaltenden Gespräch, indem sich Positionen finden und verwerfen lassen und wie Elisa Aseva resümiert: die Kraft und Stärke in der Organisierung, die jetzt schon stattgefunden hat. Die Organisierung eines Chors der Post-Heroinen:
Wie war das noch mit dem Chor? Im alten Griechenland? In der Tragödie? Ich meine: Das hier ist ein Chor; wir sollten noch viel lauter singen / Aber es ist keine Tragödie! Ein nicht-tragischer Chor in einer strukturellen Tragödie / Lalalalalala, Katharsis neu gedacht.
Illustration: Maren Oehling