von Berit Glanz
Das säkularisierte Weihnachten der modernen Konsumgesellschaft ist ein Fest, das von Paradoxien durchzogen ist. Diese Widersprüchlichkeiten offenbaren sich auch in den Weihnachtsliedern, die im Dezember an vielen Orten rauf und runter gesungen und gespielt werden. Elemente des Festes, die uns als lange etablierte Traditionen erscheinen, sind tatsächlich sehr moderne Angelegenheiten. Besonders zum Weihnachtsfest, einem ritualisierten Jahreshöhepunkt, entwickeln diese imaginierten Traditionen eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Nostalgie ist essentieller Bestandteil der Feiertage. Die Weihnachtsabende einer verklärten Vergangenheit, in der Schnee lag, Glöckchen klingelten, die Menschen fröhlich miteinander tranken und tanzten, werden in vielen Liedern besungen. Weihnachtslieder haben eine kulturelle Funktion und verraten einiges über ihren Entstehungskontext und unsere darüber hinaus weisenden Wertvorstellungen. An ihnen lassen sich exemplarisch drei Bereiche untersuchen, die das Weihnachtsfest entscheidend prägen und die der Anthropologe Daniel Miller in seiner Studie Weihnachten. Das globale Fest als Familie, Globalisierung und Materialismus definiert hat.
Das von dem Hilfspfarrer Joseph Mohr und dem Organisten Franz Xaver Gruber 1818 komponierte christliche Weihnachtslied Stille Nacht, heilige Nacht ist seit 2011 als immaterielles Kulturerbe Österreichs von der UNESCO anerkannt und in sovielen Sprachen und von sovielen Künstler*innen gesungen worden, dass lange Playlists gefüllt werden könnten. Das international beliebte Lied, in dem die Geburt Jesu besungen wird, steht in einer langen Tradition von Liedern, die sich auf das christliche Weihnachtsfest beziehen. Zunächst wurden diese Lieder auf Latein gesungen. Schon früh entstanden jedoch sprachliche Mischformen. Mit der Reformation begann eine verstärkte Produktion deutschsprachiger Weihnachtslieder und die reiche Tradition des evangelischen Kirchenliedes.
Der Aufstieg der bürgerlichen Kleinfamilie im 19. Jahrhundert trug zur Popularisierung zahlreicher Weihnachtstraditionen bei, die heute kaum mehr wegzudenken sind – vom geschmückten Christbaum über den Adventskranz bis zur gemeinsamen Hausmusik am Weihnachtsabend. Der heilige Abend als Familienfest, mit vielen dazugehörigen Ritualen, wie dem Schmücken des Christbaums hinter verschlossenen Türen, wird in dieser Zeit etabliert. Die Weihnachtslieder dieser Zeit zirkulieren in Übersetzungen durch verschiedene Sprachen und verwenden auch regelmäßig Melodien aus verschiedenen Volksliedtraditionen und besetzen diese neu. So werden beispielsweise auf die Melodie des deutschsprachigen Weihnachtsliedes O Tannenbaum in anderen Sprachen verschiedenste Texte gesungen, die überhaupt nichts mit dem Weihnachtsfest zu tun haben.
Das Lied vom Tannenbaum ist auch deshalb interessant, weil es in seiner Variante von 1824 ein frühes Weihnachtslied ohne direkten religiösen Bezug ist. Diese Form säkularisierter Lieder entstehen zunehmend im 19. Jahrhundert, beispielsweise aus pädagogischen Motiven heraus, wie bei dem von der Lehrerin Hedwig Haberkern 1869 veröffentlichten Schneeflöckchen, Weißröckchen. Auch der Verweis auf nur bedingt im religiösen Kontext verankerten Symbolfiguren, wie dem Weihnachtsmann, nimmt in Liedern des 19. Jahrhunderts zu. Manche der heute beliebten Weihnachtslieder, wie das amerikanische Jingle Bells von 1857, entstehen in dieser Zeit als Trinklieder.
Die Säkularisierung des Weihnachtsliedes schreitet in den folgenden Jahrzehnten weiter voran und verzahnt sich mit der Konsumkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Warenhäuser und Firmen entdecken die Durchschlagskraft des Weihnachtsfestes als Konsumanlass und tragen zur Entwicklung vieler heutiger Weihnachtssymbole und -traditionen bei, beispielsweise durch die rote Kostümierung des Weihnachtsmannes in Werbekampagnen von Coca Cola. Diese Verbindung von Konsumkultur und Weihnachtslied wird auch in der Entstehung von Klassikern wie Santa Claus is coming to town deutlich. Der Entertainer Eddie Cantor hatte den frisch komponierten Song eingespielt und in der Vorahnung einen möglichen Hit gefunden zu haben, zur Produktion einer großen Zahl von Schallplatten und Notenblättern gedrängt, denn durch die veränderten technischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts konnten neue Lieder rasant verbreitet werden. Das Warenhaus Macy’s hatte bereits 1924 begonnen die Macy’s Thanksgiving Day Parade in New York durchzuführen, auf der Cantor 1934 seine Version von Santa Claus is coming to town in einer landesweiten Radioübertragung vorstellte – binnen kürzester Zeit wurden Rekordzahlen an Notenblättern und Schallplatten des Weihnachtsliedes verkauft.
Das kommerzielle Interesse daran Weihnachtslieder zu komponieren und einzuspielen wurde 1942 nochmal verstärkt, als Bing Crosby, mit dem von Irving Berlin komponierten Weihnachtslied White Christmas, die bis heute am meisten verkaufte Single veröffentlichte. Der für den Film Holiday Inn komponiert Song erhielt 1943 den Oscar. Das Thema einer nostalgischen Sehnsucht nach einem früheren verschneiten Weihnachten, das in Träumen herbeigesehnt wird, fand rasch Anklang bei vielen Familien, die aufgrund des Krieges das Weihnachtsfest getrennt verbringen mussten. Die Themen für die säkularisierten und massenhaft vermarkteten Weihnachtslieder der Epoche waren gesetzt: nostalgische Erinnerung an ein idealisiertes Familienweihnachten der Vergangenheit, kindliche Vorfreude auf das Fest, verschneite Landschaften und weihnachtliche Romantik, die in manchen Songs gerne auch ein wenig sexy sein darf.
Neben diesen zentralen Themen gibt es aus dieser Zeit noch die Weihnachtslieder mit fiktiven Figuren in einem weihnachtlichen Setting, die mittlerweile fest etablierter Weihnachtskanon sind. Dazu gehören beispielsweise Rudolph das Rentier mit der roten Nase und Frosty der Schneemann. Wie bereits in den Jahrhunderten zuvor, als sich populäres Liedgut rasch über Sprachgrenzen verbreitete, fanden viele der modernen Weihnachtsliederhits aus den USA auch ihren Weg in andere Sprachen, wurden in Übersetzungen eingespielt und erfolgreich vermarktet. Sodass das Repertoire der US-amerikanischen Weihnachtsklassiker auch globalisierte Vorstellungen von Weihnachten entscheidend geprägt hat. Der im Radio in zahlreichen Varianten gespielte Kanon englischsprachiger Weihnachtshits stammt im wesentlichen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts und schafft das Idealbild eines nostalgischen Schneeweihnachtens, das als erfundene Tradition im Sinne der Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger bezeichnet werden kann.
Der globalen Ausbreitung des Weihnachtsfestes, verstärkt durch die Säkularisierung, die das Fest auch außerhalb christlicher Kontexte anschlussfähig gemacht hat, stehen spezifische regionale Bräuche gegenüber, deren Einzigartigkeit stark betont wird. David Miller bezeichnet Weihnachten deswegen als global-lokales Phänomen, seine lokale Ausprägung beruhe “auf der überall anzutreffenden Überzeugung der jeweils Einheimischen, daß Weihnachten in ihrer Region auf eine unvergleichliche und einzigartig authentische Weise gefeiert wird. Weihnachten muß man einfach zu Hause feiern, weil es nur hier richtig gemacht wird.” Diese Vorstellung findet sich in zahlreichen populären Weihnachtsliedern von dem 1943 von Bing Crosby erstmals präsentieren I’ll be home for Christmas bis zu Chris Reas 1988 veröffentlichtem Driving Home for Christmas.
Die Paradoxie eines Festes, das gleichzeitig global anschlussfähig und hyperlokalisiert ist, zeigt sich auch in Bezug auf die weihnachtliche Geschenkeflut: Einerseits soll der Geist der Weihnacht im Dickensschen Sinne von Materialismus und Gier befreit sein, andererseits ist das Fest mit der zentralen Stellung des Kaufens von Geschenken ein kapitalistisches Ereignis par excellence. Die Herkunft vieler unserer Traditionen und besonders beliebter Weihnachtslieder aus dem Kontext der Entstehung von Warenhäusern ist nur ein Beispiel für die Paradoxie eines Festes, das auf einzigartige Weise bürgerliche Ideologie verkörpert. An Weihnachten wird durch den beziehungsstiftenden Austausch von Geschenken, für kurze Zeit der Warencharakter der Konsumgegenstände aufgehoben. Miller analysiert, dass in der rituellen Feier, Untugenden wie Gier, Konsum und Verschwendung, in die richtigen, wahren Werte umgewandelt würden.
Dieses Struktur zeigt sich besonders deutlich in dem Song It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas, das 1951 veröffentlicht wurde. In einer zentralen Strophe des Liedes wird gesungen, dass es nun sehr nach Weihnachten aussähe, weil die Läden voller Spielzeuge seien, aber am schönsten eben nicht diese Spielzeuge, sondern die Stechpalmendekoration an der Tür des eigenen Zuhauses wären. Populäre Weihnachtslieder knüpfen also an das dem Fest inhärente Paradox an, indem sie wie beispielsweise Mariah Carey in ihrem außerordentlich populären Lied All I want for Christmas Is You von 1994 affirmativ betonen, dass die Liebe der einzig wichtige Weihnachtswunsch sei, der alle materiell messbaren Geschenke überträfe. Das zeitweilig kontrovers diskutierte und sogar verbotene Lied Santa Baby von 1954 ironisiert den Konsumcharakter des Festes, indem die singende Figur deutlich kommuniziert, dass sie für ihre Leistungen über das Jahr hinweg eine Reihe teurer Geschenke als Ausgleich bekommen möchte. Für die sexuelle Exklusivität “Think of all the fellas that I haven’t kissed” soll im Austausch mindestens ein Pelz, Schmuck und eine Yacht fällig sein.
Aus dem überspitzten Liedtext wird auch deutlich, dass viele der Leistungen, für die Frauen an Weihnachten mit möglichst teuren Geschenken entlohnt werden sollen, bereits im Laufe des Jahres geleistet wurden. Das Weihnachtsfest ist eine Zeit, die auf unsichtbarer oft von Frauen geleisteter Sorgearbeit aufbaut, also eng mit gesellschaftlichen Idealen von mütterlicher Zuwendung und Hingabe verknüpft ist. Diese Erschöpfung von der Weihnachtsvorbereitung findet in den populären Lieder nur in ironisierter Form statt, beispielsweise in der Zeile “Mom and Dad can hardly wait for school to start again” aus dem Lied It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas; oder indem betont wird, dass die arbeitsreichen Rahmenbedingungen des Festes gar nicht wichtig seien, sondern nur die familiäre Liebe, die im Ritual symbolisiert wird. Dies ist beispielsweise der zentrale Tenor von A Cozy Little Christmas von Katy Perry aus dem Jahr 2018.
Diese auch in zeitgenössischen Songs aktuelle Verknüpfungen von Weihnachtsliedern mit traditionellen Vorstellungen von Familie spiegelt gegenwärtig noch nicht die realen gesellschaftliche Entwicklungen, wie die zunehmende Hinwendung zu sozialen Wunschfamilien oder Patchworksituationen wieder. Stattdessen werden im Weihnachtslied weiterhin ausgesprochen heteronormative Vorstellungen von Liebe und Familie idealisiert. Viele der uns sehr fest und unverrückbar vorkommenden Weihnachtstraditionen sind jedoch moderner als den meisten bewußt ist, passend zu einem insgesamt von Paradoxien durchzogenen Fest. In dieser kulturellen Flexibilität Neues rasch als Überlieferung zu etablieren, Paradoxien auszuhalten oder spielerisch zu umschiffen, liegt auch Hoffnung auf neue Festtagstraditionen und Weihnachtslieder, die veränderte Vorstellungen von Familie, Freundschaft und Liebe besser reflektieren.
Photo by Markus Spiske