Schlagwort: Rezension

Der Weg aus dem Labyrinth: die interaktiven Hörspiele der ARD

von Alexander Matzkeit

Diese Geschichte beginnt mit Smart Speakern. Die kleinen Geräte, die per Sprachbefehl nicht nur Musik abspielen und das Wetter durchgeben, sondern große Teile unserer Wohnungen und des dort vorhandenen “Internet of Things” steuern, beschäftigen Medienmacher*innen seit Jahren. Sollte man sie nur als Eingabegerät für herkömmliche Mediennutzung behandeln, wie eine Fernseh-Fernbedienung? Oder eröffnen sie auch ganz neue Möglichkeiten, Medien zu gestalten?

Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten haben für solche Fragen Innovationsabteilungen eingerichtet. Sie sollen sich neue Technologien anschauen und Pilotprojekte entwickeln, die ihre Möglichkeiten ausloten. 2019 griff der BR mit seinem Innovationsteam BR Next erstmals auf eine eigentlich recht alte Idee zurück, um die Möglichkeiten von Smart Speakern für die Audio-Unterhaltung der Zukunft auszutesten. BR Next produzierte ein interaktives Hörspiel namens Tag X, in dem die hörende Person alle vier Minuten eine Entscheidung über den Fortgang der Handlung treffen muss.

Das Prinzip ist seitdem bis heute mehrfach variiert worden, von mehreren öffentlich-rechtlichen Sendern der ARD. Entstanden ist ein kleiner Pool an interaktiven Hörspielen, die interessierten Beobachtenden viel über die Möglichkeiten und Grenzen der Gattung verraten, neue Optionen und vor allem alte Probleme offenbaren. Im Kern steht dabei die Frage: Wie sehr wollen wir wirklich mit unserer Fiktion interagieren?

An den interaktiven ARD-Hörspielen Tag X, Tatort: Höllenfeuer und Schloss Einsteins Mission to Mars lässt sich diese Frage gut erkunden und zugleich zeigen, dass es verschiedene Arten gibt, interaktive Fiktion zu gestalten, die bei demjenigen, der sie hört und nutzt, auch unterschiedliche Erlebnisse hervorrufen. Der Begriff “interaktive Fiktion” jedoch bedarf zunächst etwas historischer Einordnung.

Was ist interaktive Fiktion?

In der Literaturwissenschaft ist er eigentlich relativ streng besetzt. Er bezieht sich auf die seit den 1970er Jahren existierenden Computeranwendungen, die landläufig als “Textadventures” bezeichnet werden. Sie gehen zurück auf den Prototypen Adventure (1975) und wurden vor allem durch Zork (1977) und seine Nachfolger bekannt. In diesen Anwendungen interagiert die Nutzerin oder der Nutzer über einfache Befehle (“Gehe nach Westen”, “Nimm Schwert”) mit einer Geschichte, die sich – auch wenn spätere Varianten sich an deutlich komplexeren Erzählungen versucht haben – vor allem in einer Abfolge von Räumen und dort zu lösenden Rätseln entfaltet. Der Autor des Interactive-Fiction-Standardwerks Twisty Little Passages (2005), Nick Montfort, sieht daher auch das literarische Rätsel als Urahn des Textadventures.

Vielleicht ist es daher besser, wie Espen Aarseth, der norwegische Grandseigneur der Game Studies, von “ergodischer Literatur” zu sprechen. Der aus der Naturwissenschaft entlehnte Begriff der “Ergodizität” bezeichnet, stark vereinfacht, einen dynamischen Prozess, in dem verschiedene physikalische Zustände gleichzeitig existieren. Aarseth überträgt dieses Prinzip auf eine Literatur, die in ihrem Urzustand noch keine Erzählung besitzt, sondern diese erst entwickelt, wenn mit ihr interagiert wird.

Aarseth führt dieses Prinzip zurück bis auf das I Ching bzw. I Ging, ein aus der chinesischen Antike stammendes Zeichensystem, das seine Erzählungen orakelhaft entfaltet. Spätere Beispiele finden sich in ähnlich bruchstückhaften experimentellen Texten wie Raymond Queneaus Zehntausend Milliarden Gedichte (Cent mille milliard de poèmes, 1961), das die 14 Zeilen eines Sonnets frei kombinierbar macht, und Marc Saportas Composition no. 1 (1961), das aus 150 losen Seiten besteht, welche die Nutzer*innen erst mischen, dann lesen sollen. Montford bezeichnet diese Werke auch als “literarische Maschinen”.

Du kannst die Heldin sein!

Deutlich populärer, und auch viel stärker als Vorgänger der hier besprochenen Hörspiele zu begreifen, wurde ergodische Literatur durch “Spielbücher”, die sich ab 1979 an ein junges und jugendliches Publikum richteten. Hier ist das Buch in eine meist dreistellige Zahl kurzer Leseabschnitte unterteilt, an deren Ende jeweils eine Entscheidung steht. Möchtest du links abbiegen, dann blättere zu Abschnitt 132, möchtest du rechts abbiegen, dann blättere zu Abschnitt 212. 

In den USA wurde das Prinzip vor allem durch die Serie Choose Your Own Adventure berühmt, ein Markenname, der irgendwann so in aller Munde war, dass er zum Sammelbegriff für jede Art von interaktiver Erzählung wurde. Aus Großbritannien stammen hingegen die Fighting Fantasy-Bücher. Sie ergänzen das Abschnittsystem um Begegnungen mit Monstern, mit denen sich die Lesenden wie in Dungeons & Dragons und anderen Rollenspielsystemen per Würfelwurf duellieren müssen.

Beiden Systemen war gemein, dass sie in den 1980er Jahren einen gigantischen Boom erfuhren. Viele Jugendfranchises sprangen auf den Zug auf und veröffentlichten eigene Spielbücher, die immer das gleiche versprachen: “Du kannst der Held/die Heldin sein! Du entscheidest, was passiert.” Entsprechend etablierte sich auch die Konvention, Spielbücher grundsätzlich in der zweiten Person Singular zu schreiben, mit der die lesende Person direkt angesprochen wird.

Der Tod der Spielbücher war Ende der 90er schließlich die Entwicklung immer aufwändigerer Computerspiele, die im Grunde das gleiche versprachen und auch halten konnten. Gerade Adventures wie The Secret of Monkey Island (1990) boten den Spielenden ähnlich wie ihre Vorgänger einen durch Rätsel unterbrochenen Plot, der Entscheidung und Interaktion enthielt. Spätere, nach dem “Open World” Prinzip gestaltete Spiele erhöhten die Möglichkeit für die Nutzenden noch weiter, sich notfalls auch völlig außerhalb des vorgesehenen Plots zu bewegen. Die meiste Forschung rund um interaktive Fiktion dreht sich heute um Computerspiele.

Der zentrale Konflikt der ergodischen Literatur

Die interaktiven Hörspiele der ARD sind insofern ein Rückgriff auf eine etwas primitivere Form der ergodischen Literatur, damit aber gleichzeitig auch etwas literarischer als moderne Spiele. Sie besitzen keine grafische Komponente, sondern bestehen aus einer Abfolge aus Erzählungs- und Dialogszenen, deren Reihenfolge durch regelmäßige Entscheidungen der oder des Hörenden bestimmt wird. Die Häufigkeit der Entscheidungen – spätestens alle vier Minuten – ist durch die Entwickler der Smart Speaker vorgegeben.

Ähnlich wie bei Spielbüchern lässt sich die Gesamtheit eines interaktiven Hörspiels am ehesten als eine Art Flussdiagramm darstellen, in dem jede Szene eine Wabe bildet und jede Entscheidung am Ende der Szene mit einer Linie zu einer neuen Wabe führt. Würde man sich vorstellen, dass man sich am Ende jeder Szene zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden kann und jede Entscheidung zu einer völlig neuen Szene führt, wäre man mit exponentiellem Wachstum sehr schnell bei einer unübersichtlichen Menge an Szenen und Handlungssträngen. Da Produktionsbudgets aber begrenzt sind und nur für eine endliche Zahl an Szenen reichen, müssen viele Entscheidungen entweder in einem Ende münden oder auf eine Szene zurückführen, die die Nutzenden auch durch andere Entscheidungen hätten erreichen können.

Darin liegt der zentrale Konflikt ergodischer Literatur dieser Spielart. Sie muss den Nutzenden gerade genug Interaktion überlassen, damit diese das Gefühl haben, ihre Entscheidungen bedeuten etwas. Dabei darf die Erzählung jedoch nicht so ausfransen, dass sie das befriedigende Gefühl eines echten Plots verliert und ohne erheblichen Ressourcenaufwand auch nicht mehr umgesetzt werden kann.

Es ist daher kein Zufall, dass das zentrale Bild, das für diese Art von interaktiver Literatur immer wieder genutzt wird, das eines Labyrinths ist. Schon in Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte “Der Garten der Pfade, die sich verzweigen” von 1941 dient das Labyrinth als Sinnbild für ein Buch, das viele verschiedene Ausgänge einer Geschichte enthält. Ein großer Teil der “Fighting Fantasy”-Bücher spielt in labyrinthartigen Verliesen, in denen hinter jeder Wegbiegung entweder ein Gegner oder ein Schatz warten könnte. Für die Lesenden, Hörenden, Nutzenden hingegen bedeutet jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas anderes. Wie Espen Aarseth in Cybertext (1997) schreibt: “Jede Entscheidung macht einige Teile des Textes mehr, andere weniger zugänglich. Die genauen Folgen deiner Entscheidungen, was du genau verpasst hast, wirst du vielleicht nie erfahren.” (Meine Übersetzung)

Tag X: Flucht aus der verseuchten Stadt

Tag X, das erste, 2019 entstandene interaktive Hörspiel von BR Next, geschrieben von Daniel Wild (mit dem ich für diesen Artikel ein Hintergrundgespräch geführt habe) und inszeniert von Martin Heindel, folgt am ehesten dieser labyrinthinen Struktur. Es spielt während des unmittelbaren Fallouts eines Anschlags auf Berlin, in Anlehnung an die realen, von der “taz” enthüllten Pläne einer rechtsextremen Gruppe in der Bundeswehr, die sich auf einen solchen Tag vorbereitete. Die Stadt ist eine verseuchte Zone. Die aus dem Zoo entflohenen Tiere laufen auf den Straßen herum. Das Militär patrouilliert.

Der in der zweiten Person angesprochene Protagonist bzw. die Protagonistin wacht auf und hat Gedächtnis und Augenlicht verloren. Das verstärkt einerseits den Hörspiel-Faktor mit Ohren als primärem Sinnesorgan und erlaubt andererseits, dass die Hauptfigur keine Vorgeschichte und keine Persönlichkeit über die Projektion der Nutzenden hinaus haben muss. Sie versucht im Laufe des Spiels aus der verseuchten Zone zu entkommen und kann dafür im Wesentlichen zwei verschiedenen Wegen folgen. Einer führt in die Altbauwohnung von Erna, die sich der Evakuierung entzogen hat. Bei geschickten Entscheidungen erfährt man von ihr, was zuvor geschehen ist, bevor man am Ufer des Kanals vom Militär aufgegriffen wird. Beim anderen nimmt man sich eines Kindes namens Toni an, kämpft sich mit ihm durch einen von einem Eisbär bewohnten Spätkauf und ein Parkhaus, wird dort ebenfalls von Soldaten in Gewahrsam genommen und schließlich einem Verhör unterzogen, in dessen Verlauf man dafür sorgen kann, dass Toni in gute Hände kommt.

Tag X besitzt 13 verschiedene Enden, doch nur zwei davon enden nicht mit dem Tod der Spielenden und nur eins – das, in dem man die Toni-Mission erfolgreich zu Ende bringt – hat wirklich das befriedigende Gefühl eines abgeschlossenen Plots. Die meisten Enden töten die Nutzenden, zermalmt von herumlaufenden Tieren oder von Soldaten erschossen. Sie sind Enden nur in dem Sinn, dass die Handlung danach nicht mehr weitergeht, aber nicht, indem sie einen Spannungsbogen abschließen. Daher fühlt sich Tag X oft an wie ein Labyrinth mit vielen Sackgassen, von denen manche zwar hübscher sind als andere, aber nur ein oder maximal zwei Wege durch “korrekte” Entscheidungen wirklich aus dem Irrgarten herausführen. Es ist damit von allen hier beschriebenen Hörspielen am stärksten so strukturiert wie die erwähnten Spielbücher. Das Problem mit den Sackgassen-Enden ist, dass sie sich nicht wie alternative Ausgänge einer Geschichte anfühlen, sondern nur wir ein Scheitern an der vom Autor vorgesehenen Handlung. Wie von Aarseth beschrieben also keine Entscheidung für etwas, sondern gegen alles andere.

Höllenfeuer: Welche Polizistin willst du sein?

Das Nachfolgeprojekt des gleichen Teams, Tatort: Höllenfeuer von 2021, wählte, vielleicht auch aus diesen Gründen, einen völlig anderen Ansatz. Es verabschiedet sich zunächst von der direkten Ansprache der Nutzenden und hat eine klar umrissene Hauptfigur, die Kommissarin Mavi “Mav” Fuchs, die als neue Figur in das bereits etablierte Story-Universum des Münchner Tatort rund um die Kommissare Batic und Leitmayr eingeführt wird. An Entscheidungspunkten ringt Mav in Selbstgesprächen mit den Handlungsmöglichkeiten der Situation und überlässt dann jeweils den Nutzenden die Auswahl. Diese können somit auch entscheiden, welche Handlungen ihrer Meinung nach gut zur Figur passen. Die Konsequenzen der Entscheidungen entfalten sich dann innerhalb der Figurenmotivation – ein großer Unterschied zum reinen Platzhalter-Protagonisten in Tag X oder in klassischen Spielbüchern.

Der zweite wichtige Unterschied ergibt sich aus der Dramaturgie eines Kriminalfalls. In Höllenfeuer dreht sich alles um einen drohenden Terroranschlag auf das Oktoberfest, mit dem auch die Leiche eines Obdachlosen verknüpft ist, der von Jugendlichen angezündet wurde. Anders als in Tag X, wo die Handlung des Hörspiels auf klassisch ergodische Art oft durch die Aktionen der Hauptfigur überhaupt erst entsteht und Untätigkeit oder Entscheidungen “gegen” den vorgesehenen Plot in der tödlichen Sackgasse enden, wird Mav von dem Fall, den sie gemeinsam mit Kriminalassistent Kalli Hammermann lösen muss, einfach mitgerissen. Einmal deswegen, weil die Anschlagsbedrohung eine tickende Uhr ist, die abläuft, ganz egal, was sie tut, aber auch, weil die Ermittlungen in einem Mordfall eine klare Abfolge von Ereignissen (Leichenfund, Obduktion, Befragung von Verdächtigen) besitzen, denen man sich als Kommissarin nur schwer entziehen kann.

Autor Daniel Wild setzt daher in Höllenfeuer auf eine andere Entscheidungsmatrix, die nur noch wenig von einem Labyrinth hat. Er macht sich dafür die Technologie zunutze, welche die interaktiven Hörspiele des digitalen Zeitalters von früheren Inkarnationen (in denen man etwa auf einer CD von Track zu Track springen musste) und von Spielbüchern unterscheidet. Jede Entscheidung erlaubt es nicht nur, die Nutzenden anschließend zu einer von mehreren Szenen weiterzuschicken, sondern auch begleitende Zähler (“Variablen”) im Hintergrund mitlaufen zu lassen. Das Programm, das die Szenen ausspielt, kann sich also vergangene Entscheidungen merken und so an späteren Punkten auf der Basis von Variablenwerten nur bestimmte Entscheidungen anbieten. Der klassische Weg, diese Technologie zu nutzen, der auch vereinzelt in Tag X genutzt wird, ist der eines Inventars. Die Spielenden müssen sich an bestimmten Punkten entscheiden, ob sie einen Gegenstand mitnehmen oder nicht. Später benötigen sie diesen Gegenstand, etwa um eine Tür zu öffnen. Haben sie ihn nicht, können sie nicht durch die Tür gehen und müssen einen anderen Weg wählen oder zurückgehen.

Höllenfeuer nutzt die Variablen auf andere, soziale Art. Es merkt sich, wie die Hauptfigur, gesteuert durch die Entscheidung der Nutzenden, mit ihren Kolleginnen und Kollegen umspringt. Entscheidet man sich zu oft dafür, diese vor den Kopf zu stoßen oder anzulügen, kann Mavi Fuchs noch vor Ende der Ermittlungen gefeuert werden. Doch anders als in einem klassischen Erzählungs-Labyrinth fühlt sich dies weniger an, als hätte man einfach den falschen Weg genommen, sondern wie eine psychologisch folgerichtige Konsequenz aus vorhandenen Handlungen. Höllenfeuer dreht sich über einen großen Teil seiner Laufzeit weniger darum, wie man den Plot der Geschichte beeinflusst, sondern eher, welche Rolle man darin spielen möchte, welche Art von Polizistin man sein möchte. Fair oder unfair? Geduldig oder ungeduldig? Erst Fragen stellen und dann zuschlagen oder umgekehrt?

Erst zum Schluss, am dritten der drei Handlungstage, als die Konfrontation mit den antikapitalistischen Terroristen unausweichlich wird, teilt sich der Entscheidungsbaum wirklich auf und eröffnet den Spielenden mehrere mögliche Enden. Da diese aber nun bereits einige Zeit mit der Protagonistin verbracht haben und sich wahrscheinlich entschieden haben, welche Persönlichkeitsmerkmale sie stärker durch Handlungen ausdrücken wollen, fühlen sich diese Enden tatsächlich wie Alternativen zueinander an. In einem der Enden gelingt es Mav nicht, einen Münchner Komplett-Blackout zu verhindern, doch das wirkt nicht wie ein Scheitern am Spiel, sondern schlicht wie das Ende, das man durch seine Entscheidungen herbeigeführt hat. Ein deutlich befriedigenderes Gefühl als ein Tod im Kugelhagel, weil man sich bei der Wahl zwischen Pest und Cholera falsch entschieden hat.

Mission to Mars: Tanz der Variablen

Schloss Einsteins Mission to Mars (2022), bei dem Daniel Wild als Ko-Autor noch beteiligt war, das aber nicht mehr für den BR, sondern für MDR Next entstand, erscheint wie eine unbewusste Synthese und Weiterentwicklung seiner beiden Vorgänger. (Der WDR hatte dazwischen mit Wild noch ein weiteres interaktives Tatort-Hörspiel namens Lücken produziert, das ich in dieser Analyse allerdings ausklammere.) Ähnlich wie in Höllenfeuer liegt auch in Mission to Mars der Plot nur bedingt in der Hand der Spielenden, die an Bord eines Raumschiffs auf dem Weg zum Mars aufwachen, auf dem roten Planeten bruchlanden und sich gemeinsam mit ihrer restlichen Crew, allesamt ehemalige Protagonist*innen der MDR-Kinderserie Schloss Einstein, zur Mars-Basis durchschlagen. Da die Zielgruppe des Hörspiels Kinder sind und das Hörspiel in mehrere Episoden aufgeteilt ist, die anschlussfähig sein müssen, kann man nicht sterben. Mit anderen Worten: Die wichtigen Plotpunkte passieren, egal wie man sich verhält. Man kann nicht durch “falsches” Verhalten scheitern, weil man nicht korrekt vorhersieht, was die Autor*innen von ihren Spielenden erwarten.

Anders als in Höllenfeuer ist Mission to Mars aber erneut in der Du-Perspektive geschrieben, das heißt die Hauptfigur – ein*e “Weltraumtourist*in”, welche*r die Reise zum Mars gewonnen hat – ist erneut eine Leerstelle, um die sich der Rest des Hörspiels fügen muss. Um den damit verbundenen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, nutzt das Autor*innen-Team (neben Daniel Wild waren Dana Bechtle-Bechtinger und Jörg Benne beteiligt) aber verstärkt Variablen, um aus den getätigten Entscheidungen der Spielenden passende Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.

Dies beginnt schon vor Beginn der Handlung, wenn die Spielenden in einer Art Charakter-Generierung entscheiden dürfen, ob sie eher sportlich oder intellektuell geprägt sein wollen. Auf der Basis dieser anfänglichen Auswahl bekommen sie später unterschiedliche Optionen angeboten. Andere Konsequenzen ergeben sich in Form von alternativen oder “Bonus”-Szenen am Ende von Handlungsabschnitten. Hat man sich dafür eingesetzt, dass sich das zerstrittene Pärchen, mit dem man unterwegs ist, wieder verträgt, darf man auch Zeuge ihrer Versöhnung werden. Hat man sich in den zwischendurch eingestreuten Wissenstests als besonders verlässlich erwiesen, zollen einem die anderen Charaktere dafür Respekt. Mission to Mars hat wenige alternative Enden. Seine Handlung kann sich aber je nach Entscheidungen dennoch völlig anders anfühlen.

Mitglieder des Redaktionsteams von Mission to Mars haben in Gesprächen mit mir formuliert, dass sie dies als “nutzerzentrierte” Handlungsgestaltung empfanden, ein Begriff, der sonst vor allem aus der Software- und Interface-Entwicklung bekannt ist. Sie geben ihrem Publikum, was es will und kennt (einige der redaktionellen Entscheidungen, etwa welche Figuren zurückkehren sollten, wurden mit Hilfe der Instagram-Community der Serie getroffen), so dass es instinktiv die “richtigen” Entscheidungen trifft und das Ergebnis in jeden Fall interessant und relevant bleibt. Mission to Mars ist, von wenigen Szenen abgesehen, weniger ein interaktiver Text in dem oft begriffenen Sinn eines Irrgartens voller sich verzweigender Pfade. Es begreift vielmehr Handlung selbst als eine Art konstruktivistisches Gebilde, in dem verschiedene Personen die gleichen Momente unterschiedlich wahrnehmen und – als Erweiterung des Ansatzes von Filmen wie Rashomon (1950) – ihren Ausgang auf subtile Weise beeinflussen.

Die Angebote der Interaktion

Wenn wir uns also, wie am Anfang postuliert, tatsächlich fragen, wie wir mit unseren Fiktionen interagieren wollen, machen die interaktiven Hörspiele der ARD verschiedene Angebote. Wir können die eigenschaftslosen Schatten im Zentrum einer Handlung sein, durch die wir uns tasten müssen, bis wir aus dem Labyrinth herausgefunden haben (das erfolgreiche Konzept, das auch Escape Games prägt). Oder wir können die Protagonist*innen durch unsere Entscheidungen überhaupt erst mit Eigenschaften ausstatten und sehen, wie sich die Handlung im Spiegel dieser Eigenschaften entfaltet. (Oder beides.)

Obwohl wir im ersten Fall deutlich stärker an den Kontrollen stehen sollten, schließlich sind es unsere Entscheidungen, die den Fortgang der Erzählung steuern, befinden wir uns aufgrund der begrenzten Handlungsmöglichkeiten eigentlich sehr in der Hand der Autor*innen und ihrer Absichten. Im zweiten Fall haben wir weniger Freiheit, das Ruder unseres Handlungsschiffes wild herumzureißen, doch unsere Entscheidungen fühlen sich wichtiger dafür an, wie wir das Erzählte wahrnehmen. Die Ergodizität ist geringer aber signifikanter. Der Plot, das Syuzhet, bleibt von Nutzer*in zu Nutzer*in ähnlich, die Story, die Fabula aber, ist formbar, ist interaktiv.

Wie auch immer man sich entscheidet, die Smart Speaker, obwohl Ursprung der Projekte und Treiber ihrer Entwicklung, sind nicht das beste Medium dafür. Nicht nur beschreibt etwa Projektleiter Christoph Rieth von MDR Next, dass die junge Zielgruppe von Schloss Einstein sich von Hörspielen am liebsten beim Legobauen berieseln lässt. Deswegen findet sie es eher störend, das Spielen alle paar Minuten zu unterbrechen, um eine Anweisung zu geben, die manchmal vielleicht auch nicht sofort verstanden wird. Wer sich hingegen durch die Browserversionen der Werke klickt, hat auch eine größere Klarheit über seine Entscheidungen, mehr Übersicht über die Szenen sowie mehr Autonomie im Vor- und Zurückspringen während einer Szene. Diese Art von Interaktion ist dann doch irgendwie ganz angenehm.

Beitragsbild von Markus Winkler

„Everything Everywhere All at Once“ – Der Film, der das Internet versteht

von Titus Blome

Ohne es zu erwähnen, zeichnet Everything Everywhere All At Once ein buntes doch pessimistisches Bild des Internets – und ist glorreich darin. Der SciFi-Film des Regieduos »Daniels« (Daniel Kwan und Daniel Scheinert) gibt sich als Kaleidoskop unterschiedlichster Szenerien, Charaktere und Emotionen. In rasanter Abfolge ist der Film tragisch, lustig, eklig, flach und tiefgründig. Um die halsbrecherische Geschwindigkeit und absurde Ästhetik des Films zu genießen, darf man sich nicht dagegenstemmen: Es heißt zurücklehnen und mitreißen lassen.

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Here we are now, entertain us – Wem gehören die 90er Jahre?

von Isabella Caldart

Vor einigen Jahren ist den Millennials (zu denen ich auch gehöre) – wie auch der Öffentlichkeit generell – aufgegangen, dass sie nicht mehr die „junge Generation“ sind. Diese Erkenntnis fällt in etwa mit Beginn der Pandemie zusammen, als alle Welt aus Langeweile oder Einsamkeit TikTok installierte und die wahre junge Generation entdeckte, die dort bereits sehr aktiv war: Gen Z. Wenn man ehrlich ist, hatten Millennials (in etwa die zwischen 1980 und 1995 Geborenen) eine sehr lange Zeit, rund zwanzig Jahre, in der sie als die Jungen, die Trendsetter, die Zukunftsgewandten, diejenigen, die die Kultur und Gesellschaft bald prägen würden oder schon prägten, angesehen wurden. Dass wir, die wir schon lange fest im Erwachsenenleben verankert waren, plötzlich abgelöst wurden, kam für viele dennoch als Schock oder zumindest unbehagliche Wahrheit.

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Die wilden Siebziger – Helmut Böttiger erzählt von der „Blütezeit der deutschen Literatur“

Von Fabienne Steeger

Die siebziger Jahre. Es heißt, sie seien bunt, schrill, verrückt, sogar sexy gewesen. Vor allem seien sie aber eins gewesen: wild. Bei den Siebziger als ‚wildem‘ Jahrzehnt handelt es sich um eine gängige Zuschreibung. Auch Helmut Böttigers kürzlich im Wallstein Verlag erschienene Literaturgeschichte Die Jahre der wahren Empfindung greift das Attribut auf und kennzeichnet die Dekade im Untertitel als „eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“. Ob es sich hierbei um einen Anschluss an das vor allem in der Populärkultur verankerte Narrativ dieses Jahrzehnts handelt oder nicht: Das auch rhetorisch attraktive Adjektiv vermag die literarische Landschaft dieser Zeit, wie sich nach der Lektüre des über 400 Seiten umfassenden Buches zeigt, überzeugend zu beschreiben. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive macht die Dekade Böttiger zufolge ihrem Ruf alle Ehre. Was genau ist in diesem Zusammenhang nun aber unter ‚wild‘ zu verstehen?

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Gesundheit! – Über Juli Zeh und über Juli Zeh über Juli Zeh

von Matthias Warkus

Die Pandemie ist irgendwie von Amts wegen beendet, und allmählich weicht auch das große Kopfschütteln und Händeringen über die Reaktionen der Intellektuellen einer Art Rückschau. Vielleicht nicht der schlechteste Zeitpunkt, um auf etwas zurückzuschauen, was selbst eine Rückschau ist. Im Juli 2020 veröffentlichte die Brandenburger Landesverfassungsrichterin Juli Zeh ein enorm ungewöhnliches Buch namens »Fragen zu Corpus Delicti« (btb, München; im Folgenden zitiert unter F). Cover des Buchs »Fragen zu Corpus Delicti«Ungewöhnlich ist nicht nur die Form – es handelt sich um ein Selbstinterview mit buchfüllender Länge. Ungewöhnlich ist zudem der Gegenstand, das Buch bietet nämlich erschöpfende Erläuterungen zu Zehs Roman Corpus Delicti von 2009, gerichtet »an Schüler und Studenten« (F10). Die Autorin liefert Lehrenden und Lernenden direkt die Sekundärliteratur für ihr eigenes fantastisch erfolgreiches, bis 2019 allein 380.000-mal verkauftes und vielerorts zur Schullektüre gewordenes (F188) Werk. Der Rückentext spricht unbescheiden von einem »unverzichtbare[n] Begleitbuch«. Weiterlesen

Blinde Justitia? Blinde Flecken in einem Buch über das Justizsystem

von Martha Routen

Justitia ist blind, die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt und bestraft werden nur die, die Unrecht getan haben. So zumindest das Ideal. 

Letztes Jahr wurde ich im Zuge meines Rechtsreferendariats eingeteilt die Staatsanwaltschaft in einem Drogenfall zu vertreten. Laut Akte war kurz hinter der Schweizer Grenze ein Mann im Zug mit einer geringen Menge Morphin erwischt worden, die er auf dem Schwarzmarkt erworben hatte. In der Verhandlung sollte ich aufgrund seiner Vorstrafen statt einer Geld- eine Freiheitsstrafe beantragen, ob diese auch zur Bewährung ausgesetzt werden konnte, sollte ich “nach Eindruck in der Verhandlung” entscheiden.

Drogentransport über die Grenze, Opiate, unerfahren wie ich war, hatte ich einen zwielichtigen Dealer erwartet. Ich betrat den Gerichtssaal und fand stattdessen einen 50-jährigen Mann vor, der einen schlecht sitzenden Cordanzug trug und dessen Gesicht verunsichert und verlebt aussah. Er gestand die Tat sofort und erzählte, wie er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland gekommen war und nach vielen Jahren Arbeitslosigkeit schließlich der Drogensucht verfallen sei, der er – trotz mehrfacher Entzugstherapien – nicht entkomme. Der Arzt verschreibe ihm zwar Methadon, die Menge reiche aber nicht aus, weswegen er geringe Dosen illegal kaufe. Nur so könne er für seine Frau und Tochter zuhause erträglich sein. Wenn ich den Blick des vorsitzenden Richters richtig gedeutet habe, war für ihn ebenso wie für mich in diesem Moment eindeutig, dass dieser Mann nicht bestraft werden sollte. Und trotzdem war eine Straftat begangen worden und die Umstände so, dass eine Freiheitsstrafe kaum zu vermeiden war. Dem Angeklagten wurde das letzte Wort gewährt, er stand auf, es blieb ihm im Hals stecken, er setzte sich wieder. Er wurde zu einer kurzen Bewährungsstrafe verurteilt, der Richter wünschte ihm alles Gute, und so war die erste von fünf solcher Verhandlungen für den Tag zu Ende.

Hinter den Kulissen eines (teilweise) dysfunktionalen Systems

Ein ähnlich deprimierendes und dysfunktionales Bild des deutschen Justizsystems zeigt Ronen Steinke in seinem Buch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – die neue Klassenjustiz, das im Berlin Verlag erschienen ist. Steinke, selbst ein Jurist, der unter anderem eine Biografie von Fritz Bauer geschrieben hat, lässt diejenigen, die nicht im Bereich der Strafverfolgung tätig sind, hinter die Kulissen blicken. Er gibt dabei zum einen Beispiele aus der Praxis, aber nicht auf eine Art und Weise, an der man eine durch True Crime geprägte Schaulust befriedigen könnte. Zum anderen behandelt er Eigenheiten des Systems, die nicht zum Allgemeinwissen gehören, etwa Strafbefehle oder die Strafvollstreckung, und erklärt für Laien verständlich, wie diese geregelt sind und sich auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft systematisch diskriminierend auswirken und, im krassen Gegensatz dazu, wie viel weniger furchterregend die Justiz erscheint, wenn man nur genug Geld hat. 

So konnte beispielsweise der ehemalige FC-Bayern-Präsident Uli Hoeneß gegen eine Sicherheitsleistung von fünf Millionen Euro die Untersuchungshaft abwenden, als er wegen Steuerhinterziehung im Umfang mehrerer Millionen Euro beschuldigt wurde, während Menschen ohne festen Wohnsitz gerade wegen ihrer Obdachlosigkeit bei wesentlich geringfügigeren Taten schnell in Untersuchungshaft geraten. Ein signifikanter Teil der Gesellschaft lebt zwischen diesen beiden Extremen des Reichtums und der Obdachlosigkeit und hält die Gefahr, wegen einer Straftat vor Gericht oder in Untersuchungshaft zu landen, vor allem für eine abstrakte Möglichkeit. Das kann aber schneller Realität werden, als es einem lieb ist: Zu müde Auto gefahren, durch Alkohol gesteigerte Aggressivität, das falsche Foto auf Whatsapp weitergeleitet – die Wahrscheinlichkeit selbst einmal in das Strafsystem zu geraten, ist größer als viele bereit sind sich einzugestehen. 

Steinke thematisiert elementare Bestandteile des deutschen Justizsystems, von denen man annehmen würde, sie wären schon längst verändert worden, zu offensichtlich erscheint ihre Dysfunktionalität. Denn was könnte schon wichtiger sein, als das Ineinandergreifen der Rädchen im Getriebe, das dazu führt, dass der Staat einer Person die Freiheit entziehen kann? Nehmen wir als Beispiel die bereits erwähnte Untersuchungshaft, der Steinke ein eigenes Kapitel widmet. Die Untersuchungshaft, die rein juristisch betrachtet keine Strafe darstellt, dient dazu sicherzustellen, dass Beschuldigte zur Hauptverhandlung erscheinen, sobald – oder falls – gegen sie Anklage erhoben wird und dass in der Zwischenzeit keine Beweise vernichtet oder Zeug*innen eingeschüchtert werden. 

Wer kommt in Untersuchungshaft, wer nicht?

Auch wenn am Ende ein Freispruch steht, kann die Untersuchungshaft weitreichende und einschneidende Folgen haben. Abgesehen von der grundsätzlichen Belastung einer solchen Situation, können Probleme mit dem Arbeitgeber oder mit dem sozialen Umfeld entstehen. Der Hauptgrund, weshalb Beschuldigte trotz Unschuldsvermutung vorläufig eingesperrt werden, ist die Fluchtgefahr. Steinke stellt dar, mit welchen “fluchthemmenden” und “fluchtbegünstigenden” Faktoren das Gericht anhand von Erfahrungswerten in der Rechtsprechung Prognosen stellt. Ein Schulabschluss wird beispielsweise regelmäßig als fluchthemmend gewertet, eine intakte Familie ebenso – dass Familien häufig nur scheinbar intakt sind und dann eben kein stabiles Lebensumfeld bieten, bleibt außen vor.

Als fluchtbegünstigend dagegen wirken zum Beispiel Drogen- oder Spielsucht, oder wie bereits erwähnt das Fehlen einer festen Wohnung oder eines festen Aufenthaltsortes. Dass diese Kriterien seltener auf empirischem Wissen als auf Annahmen und Vorurteilen beruhen, liegt nahe – zur Veranschaulichung verweist Steinke an dieser Stelle darauf, dass die Rechtsprechung in den 1980er Jahren noch eine homosexuelle Beziehung nur ausnahmsweise als fluchthemmende “soziale Bindung” sah, da diese generell weniger verbindlich sei als eine heterosexuelle. Die Rechtsprechung gibt damit oft indirekt die gegenwärtige gesellschaftliche Haltung in Bezug auf politisch-relevante Themen wieder. Haltungen, deren diskriminatorische Auswirkungen häufig erst Jahrzehnte später kritisch reflektiert werden. Es ist demnach zu erwarten, dass zukünftige Jurist*innen auf unsere Rechtsprechung der Gegenwart zurückblicken und mit Entsetzen feststellen, mit welcher Sorglosigkeit mit dem Schicksal von Menschen ohne festen Wohnsitz, Drogenproblemen oder ungesichertem Aufenthaltsstatus umgegangen wurde – als seien solche Probleme allesamt auf das Versagen der Betroffenen zurückzuführen, statt auf das der Gesellschaft und des Staates, sich hinreichend um vulnerable Gruppen zu sorgen. 

Grundlegend richtig, im Detail einseitig

Die grundlegende Prämisse des Buches ist also ohne Zweifel richtig und ich teile Steinkes Frust. Insbesondere aufgrund der Positionierung des Buches für ein fachfremdes Publikum, ist es aber eminent wichtig, dass bei den Leser*innen das Gefühl entsteht, sich eine eigene, gut informierte Meinung gebildet zu haben, sodass Einwände der Gegenposition weniger Eindruck machen können, da diesen schließlich schon argumentativ begegnet wurde. Gerade in einem hochkomplexen Konstrukt wie dem Justizsystem ist diese Kontextualisierung entsprechend relevant. Sie kommt aber in Steinkes Buch zum Teil zu kurz. 

Das betrifft vor allem die einseitige Darstellung mancher Aspekte, wie zum Beispiel des Strafbefehlsverfahren. Strafbefehle stellen eine Art vereinfachte und zügigere Art der Verurteilung dar, die ohne Hauptverhandlung erledigt werden kann. Bei hinreichendem Tatverdacht erläutert die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung des Tathergangs in einem Strafbefehl, in dem auch eine Geldstrafe oder geringe Freiheitsstrafe zur Bewährung verhängt wird. Hält das Gericht die Ausführungen in der Form für stimmig und bestätigt den hinreichenden Tatverdacht, wird der Strafbefehl per Post an den Angeklagten oder die Angeklagte geschickt. Wenn diese*r nicht innerhalb einer kurzen Frist Einspruch erhebt, was zu einer regulären Hauptverhandlung führen würde, wird der Strafbefehl rechtskräftig und steht einem Strafurteil gleich. 

Steinke bemängelt an dieser Verfahrensart, sie sei “unpersönlich, automatisiert, effizient” und kritisiert zurecht, dass es gravierende Folgen haben kann, wenn Angeklagte die Strafbefehle aus verschiedenen Gründen nicht erhalten oder nicht verstehen – etwa aufgrund sprachlicher Hürden oder mentaler Einschränkungen. So staffeln sich Geldstrafen, die nicht bezahlt werden, und schließlich ergeht ein Haftbefehl für Menschen, die nicht einmal mitbekommen haben, dass sie einer Straftat beschuldigt waren. Soweit prinzipiell richtig. 

Die simple Kritik am Strafbefehlsverfahren greift allerdings zu kurz, da Hauptverhandlungen häufig eine große Belastung darstellen und ein persönliches Erscheinen nicht für alle die vorteilhaftere Variante darstellt. Die meisten Strafverfahren sind öffentlich. So müssen sich Angeklagte nicht nur gegenüber den Richter*innen und der Staatsanwält*innen behaupten, es könnten auch Zuschauer*innen im Sitzungssaal sein – manchmal ganze Schulklassen, manchmal auch die Presse. In den meisten Fällen werden Angeklagte über ihre persönlichen Verhältnisse aussagen – eine sehr private Angelegenheit. Auch die Inszenierung eines Strafverfahrens mit den Roben und der Positionierung der Richter*innen kann und soll imponierend wirken. Gerade unter Berücksichtigung dieser Umstände ist es durchaus denkbar, dass manche einen Brief dieser sehr vulnerablen Situation vorziehen würden, in der unter anderem das Gefühl von Überforderung, Scham, Angst und Wut keine Seltenheit darstellt. 

Debattenbuch mit blinden Flecken

Steinkes Buch hat ein eindeutiges Ziel, eine klare Agenda. Wer wenig Geld hat, wird in der Justiz stark benachteiligt, wer Geld hat, kann das System manipulieren. Es ist dementsprechend ein mit Recht wütendes Buch und will die Leser*innen dabei mitreißen, um Aufmerksamkeit für strukturell diskriminierende Verurteilungspraxis und Strafvollzug zu generieren: Ein Thema, das in Gesellschaft und Politik regelmäßig zu kurz kommt. Zu sehr ist das kollektive Verständnis von Justiz und Gefängnis von Moralvorstellungen und Vorurteilen geprägt, die den Blick für soziale Fragen in dieser Hinsicht trüben. 

Dass das Gefängnissystem in seiner jetzigen Form nicht funktioniert, ist schon länger bekannt, aber ohne gesellschaftlichen und politischen Willen wird sich an diesem System nichts verändern. Insofern ist Steinkes aktivistische, teils polemische Schreibweise nachvollziehbar – es handelt sich um ein Debattenbuch, mit allen Stärken und Schwächen dieses Genres. Dabei entsteht neben der teilweise überspitzten Einseitigkeit des Textes der Eindruck, dass manche Aspekte links liegen geblieben sind, die das Buch differenzierter, aber auch weniger kompromisslos in seiner nicht unberechtigten Wut gemacht hätten. 

Zu Beginn heißt es beispielsweise: “Worüber man heute aber [in Bezug auf die Justiz] sprechen muss, das sind Mentalitäten, Vorverständnisse. Die Art, wie Menschen, die die Justiz prägen, auf die Welt blicken.” An dieser Stelle wäre erwartbar gewesen, dass der Autor neben Klassenunterschieden auf strukturellen Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung eingeht, auch wenn die soziale Frage im Mittelpunkt des Buches stehen soll. Im aktuellen Diskurs und nach dem Stand der Wissenschaft können diese Phänomene kaum als getrennte Probleme behandelt werden. Ihre beinahe vollständige Vernachlässigung im Verlaufe des Buches fällt negativ ins Gewicht, auch wenn am Ende der Einleitung die Problematik des Ausdrucks “Klasse” erwähnt wird, da dieser ein komplexes Thema unkompliziert erscheinen lasse und Steinke en passant anmerkt, dass viele der im Buch thematisierten Mechanismen überproportional auf “Menschen mit Migrationshintergrund” zutreffen. Eine stärker intersektionale Perspektive wäre hier durchaus sinnvoll gewesen. 

Besonders unglücklich mit Blick auf die Thematik ist, dass die Autor*innen des von Steinke in der Einleitung zitierten Essays “Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis” gerade die Bezeichnung “mit Migrationshintergrund” in diesem Bereich als problematisch betrachten, da damit suggeriert würde, dass nur Menschen mit Migrationshintergrund strukturellem Rassismus ausgesetzt seien. In derselben Fußnote gewinnt man zudem den Eindruck, der Autor spiele die Bedeutung des Merkmals People of Colour für den Gegenstand des Buches herunter, mit Verweis auf zum Teil zwanzig Jahre alte Sozialforschung. Dieser Eindruck erhärtet sich im Verlauf des Buches, wenn – erneut in einer Fußnote – die Ergebnisse einer entsprechenden Studie zu Untersuchungshaft und Aufenthaltsstatus angezweifelt werden, oder Praxisfälle unter expliziter Erwähnung der Herkunftsländer der Angeklagten erläutert werden, ohne jedoch strukturelle Diskriminierung zu erwähnen. 

Intersektionale Perspektiven

Wie eng verschiedene Arten struktureller Diskriminierung mit der Frage der Gleichheit vor Gericht zusammenhängen, wird beispielsweise im britischen Diskurs immer häufiger thematisiert. Unabhängig von der Frage der konkreten Vergleichbarkeit der Justizsysteme, kann angenommen werden, dass grundlegende Probleme in ähnlicher Form auftreten. So erzählt Alexandra Wilson in ihrem Buch In Black and White von ihren Erfahrungen als nicht-weiße Anwältin in einem Justizsystem, das auf einer Klassengesellschaft beruht und setzt sich dezidiert mit den Verstrickungen von Race and Class in a Broken Justice System auseinander. Die Juristin und Autorin Shon Faye wiederum zeigt in ihrem Buch The Transgender Issue den engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, dysfunktionaler Justiz und der Diskriminierung von trans Personen auf. Auch in The Secret Barrister – Stories of the Law and How it’s Broken werden gerade in Bezug auf die Besetzung des Schöffenamtes intersektionale Aspekte aufgegriffen. 

Nicht zuletzt wird in Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich ganz überwiegend der Eindruck vermittelt, Richter*innen und Staatsanwält*innen seien stets desinteressiert an den sozialen Implikationen ihrer beruflichen Entscheidungen und dass sich daraus zwei diametral gegenüberstehende Lager ergeben würden: diejenigen, die innerhalb des Justizsystems arbeiten und es uneingeschränkt befürworten, und diejenigen, die außerhalb des Justizsystems stehen und es grundsätzlich verneinen. Ohne Frage leidet das Justizsystem an beträchtlichen Problemen und sicherlich gibt es auch Justizbeamt*innen, deren Empathie zu wünschen übrig lässt. Eine Simplifikation sowohl des Systems, als auch der darin arbeitenden Personen, ist jedoch in dieser Form verfehlt und wenig konstruktiv. 

Trotz diskutabler Unzulänglichkeiten in der Umsetzung handelt Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich von überaus wichtigen Themen, die zu selten im Rampenlicht stehen oder überhaupt bekannt sind. Steinke leistet damit einen Beitrag zur gegenwärtigen Tendenz lange etablierte Strukturen auf ihre diskriminierende Auswirkungen zu untersuchen, statt sich mit dem status quo zufrieden zu geben und bietet in diesem Sinne am Ende des Buches auch konkrete Verbesserungsvorschläge. Denn, so wie Steinke und viele andere in diesem Kontext bereits zitiert haben: den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse.  

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Refresh – Über ‚Digitale Literatur II‘

von Nina Tolksdorf

Jeder Medienwandel steht in einem engen Zusammenhang mit neuen Formen von Literatur, die sich gegenüber den tradierten meist erst beweisen müssen. Dafür bedarf es nicht einmal eines großen Umbruchs. In Deutschland genügt etwa die Einführung des Taschenbuches, die ab den 1950er Jahren zu ausgiebigen Debatten führte. Auf dem Spiel steht mit der Einführung eines neuen Mediums regelmäßig nichts Geringeres als der Geist. So wurde noch 2006 von einem deutschen Literaturwissenschaftler befürchtet, dass das Schreiben auf Tastatur und Co. dazu führe, dass der Daumen seine oppositionelle Stellung zu den restlichen Fingern verlieren werde, dieses evolutionäre Wunder aber das Greifen und damit das Begreifen ermögliche.[1]  

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Finanzbetrug mit Geistern – Emily St. John Mandels ‚Das Glashotel‘

von Cordula Kehr

Hochstapler sind prädestiniert für Literatur. Davon zeugen das ganze Genre des Schelmenromans oder kanonische Figuren wie Tom Ripley und Felix Krull. Die großen Betrüger der Gegenwart sind aber weniger Dandys als Broker, sie arbeiten nicht im Luxushotel, sondern im Büro und machen Anlageberatung. Ein solcher Finanzbetrüger und seine Betrugsmasche stehen im Zentrum von Emily St. John Mandels gerade erschienenem Roman Das Glashotel, dessen Handlung vom Fall Bernie Madoff inspiriert wurde. Madoff führte jahrzehntelang ein gigantisches Ponzi Scheme, mit dem er an die 5.000 Menschen schädigte und für das er 2009 zu 150 Jahren Haft verurteilt wurde. Mandel erzählt die Geschichte eines globalen Finanzskandals und einer jungen Frau, die an einen Betrüger gerät.

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Die Belange der Liebe. Über Anne Webers „Tal der Herrlichkeiten“

von Samuel Hamen

In ihrem „Tal der Herrlichkeiten“ braucht Anne Weber nicht viel, um ihre Hauptfigur in ihrer ganzen Erbarmungswürdigkeit zu porträtieren: einen Strand, ein Meerestier und einen vom Leben gezeichneten Mann, der sich kraftlos zu Boden fallen lässt. „In kaum einer Handbreit Entfernung, aber von Sperber ungesehen, lief ein Einsiedlerkrebs an ihm vorüber, mit einem Teil seiner Beine sein schützendes Gehäuse festhaltend, mit vier weiteren Haus und Leib vorwärtsbewegend, scheinbar unbekümmert, als wäre der Liegende kein ungleich größeres und somit bedrohliches Lebewesen, sondern eine angeschwemmte tote Robbe oder ein Stein.“

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