Der schlafende Raum träumt von der Wüste

von Rudi Nuss

 

The meaning of life doesn’t seem to shine like that screen
– Weyes Blood

 

I know that many of you are lethargic and suffer from apathy, but is anyone else hyper?
– @WWWtxt Archiv, Foreneintrag Oktober ’94

 

Katzen in kleinen Latzhosen. Jemand verspeist CPUs wie After Eight-Plättchen. Jemand in einem Moomintroll-Ganzkörperanzug und einer Handfeuerwaffe in verschneiten Wäldern. Screencaps diverser 90er-Jahre-Cartoons. Remix von Mark Zuckerberg, wie er »baby rips« sagt, als sei er ein normaler Mensch, der grillt. Bild eines Fearsome Critter Cryptids, ein Elch mit gelenklosen Beinen namens Hugag, der wie auf Stelzen durch dunkle Wälder wankt. Jon Bois twittert: went to the store. @weedhitter twittert: i will eat dog food for money. Burger King veröffentlicht neues Logo. Bild von Joe Biden, wie er an dem Finger seiner Frau lutscht. Der Liminal Space Bot postet einen menschenleeren Swimmingpool, auf den die Sonne scheint. Die Coca-Cola Company veröffentlicht ein Statement zum Capitol Coup am 06.01.2021. John Maus postet einen Tag danach die Rede Papst Pius’ XI. vom 14. März 1937, MIT BRENNENDER SORGE. Furry Fan Art von Frodo und Sam, wie sie unter Tränen miteinander knutschen. Bild von Duchamps Fountain mit der Caption »Pogchamp«. Nancy Pelosis wikiFeet-Seite.

Und irgendwo in diesem Postgestrüpp probiert in Warschau ein User DMT und wird paranoid, twittert darüber, dass alle Liebe wie ein giftiger Pilz sei und er niemandem vertrauen könne. Er redet mit seiner eigenen Hand auf der Toilette, I have no control. Nach einigen Stunden twittert er: Say hi. Ich schreibe: hello. Er liked die Reply.

Die Reply muss geliked werden, sonst bohrt das weiter. Sonst bohrt das weiter. Eine nicht gelikte Reply ist ein klaffendes Loch im sozialen Dämmmaterial unserer Twitter-Herzen.

In unserer tiefsten Heimat, der Vorstellung eines Hauses, eines Dachs, den Wänden, der Küche, des Bettes, des Kinderzimmers, entspringt die Träumerei einer eigenen Welt, die alles in sich einschließt. Der positive Raum, der Raum der Harmonie, so Gaston Bachelard, »konzentriert Sein im Inneren der Grenzen, die beschützen.« Der Raum ist immer ein gefühlter, eine erlebte Ausdehnung. Der Raum ist immer Träumerei, Träume von Räumen, Räume von Träumen.

Die größte Träumerei ist die des Cyberspaces, eine immens in sich gefaltete Landschaft unmöglicher Geographien. Eine Träumerei, sitzen wir doch alle nur mit unseren Hintern auf Stühlen und starren auf schöne Screens mit schönen Bildern von schönen Tieren. Der Low-Poly-Wald in der VRChat-Welt existiert nicht, das ist eine Träumerei. Den grünen Datenhighway, auf dem sich Twipsy bewegte, das längst vergessene KiKA-Daten-Maskottchen der EXPO 2000 in Hannover, gibt es nicht, da ist nur Licht in Kabeln, Tonnen aus Platinen, Kupfer, Gallium, Wolfram, Serverfarmen, die mit ihrem Atem die Luft zum Flimmern bringen. Der Cyperspace ist selbst ein nostalgischer Begriff, vereinfacht er doch all die Faltungen, entlang denen die telematischen Technologien unseres Lebens verlaufen, zu einer bloßen, fantastischen Parallelrealität, in die wir eintauchen können wie durch den Kleiderschrank nach Narnia oder durch eine kleine Bürotür in John Malkovichs Kopf oder hinter eine Badezimmerfliese zu einem gut versteckten Geheimnis wie die fabelhafte Amelie.

Viele Gedanken über die Hyperrealität der frühen 00er- und 10er-Jahre lesen sich heute genauso überholt wie der Begriff des Cyberspaces selbst: Das gesamte Musikgenre des Vaporwaves zum Beispiel und seinen Schwestergenres wie Mall Soft, Hypnagogic Pop, Future Funk, Simpsonwave etc. erscheinen längst völlig ausgelutscht, Genres, die mit verschiedensten Retroästhetiken Werbejingles, Fahrstuhlmusik und Samples alter Pophits zu einer eigenen konsumistischen Satirerealität verzerren. Musik, die gleich einem Parasiten die gesampelte Musik langsam zu einem unheimlichen Brei zersetzt, wie Oneohtrix Point Never mit Nobody Here, welches einzig alleine die Line »Nobody here« aus Chris de Burghs The Lady in Red in einer gähnenden Leere aus Reverb immerzu wiederholt. Userx kaijuno postet auf der selbst schon längst untergegangenen Plattform tumblr: vaporwave sounds like what drowning in a mall fountain would feel like.

James Ferraro, dessen Far Side Virtual als eines der ersten Vaporwave-Alben gilt, sagt zu jenem Album: »If you really want to understand Far Side (…), listen to Debussy, (…), go to Starbucks and get a gift card. They have a book there on the history of Starbucks – buy this book and go home.« Klingt immens langweilig. Und doch: In all diesen Microgenres, wie sie den Konsumismus überhöhen, aushöhlen und parodieren, haust ein schrecklicher Schatten, schrecklicher als das bloße Hyper Hyper der medialen Realität; da haust die Wahrheit, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, da entfaltet sich eine wesentlich aggressivere Macht, die jeden gesellschaftlichen Wandel noch vorm Keimen erstickt, die Lost Futures von Mark Fisher, »the slow cancellation of the future« durch die neoliberale Weltordnung.

In dieser zerfallenden Zukunft verfallen die Userx den Liminal Spaces: Twitter Accounts, die nur Bilder von leeren Hotelgängen, von Parkhäusern, Messehallen und Shoppingsmalls posten,alle irgendwie eerie; Stunden aus Videoessays, die dem Gefühl dieser Räume nachgehen, als wäre da etwas Magisches, eine Tiefe. Es ist das Einzige, was wir haben: die Räume des Konsums, seltsam entleert. Mitternachts durch einen Aldi wandeln, eine Tankstelle in der Wüste, der blaue Retroteppich einer vergessenen Arcade, Windräder hinter Autobahnen, die überbelichtete Erinnerung an eine Tapete. Das ist die Träumerei nach einem Raum im Raum. Das ist der Wunsch nach einem Zwischenraum, fernab der alles verwertenden Maschinen. Es ist die Leere, die auf sich selbst blickt.

In dieser Leere gibt es nichts Weiteres zu romantisieren. Keine Subkultur, die nicht schon im Begriff ist, verwertet zu werden. Kein verstecktes Geheimnis hinter der Badezimmerfliese. Durch diese Leere zu wandern und zu sammeln, das ist mein Life.

Ich kann nicht aufhören, in die Leere zu starren: Hinter jedem Post wartet eine weitere phantastische Kreatur auf mich, eine Aufnahme kochenden Wassers und scharfer Nudeln in Busan, ein zufällig schöner Himmel, purpur und golden, ein Meltdown, ein Nude, ein sweeter Moment … Salvagepunk nennen China Miéville und Evan Calder Williams das Genre all jener postapokalyptischen Fiktionen, in denen sich die Figuren durch den Schrott der Vergangenheit wühlen, um noch etwas Nützliches zu ›bergen‹ (›to salvage‹). Und genauso fühlt es sich an, durch den täglichen Content zu wühlen; das Ende der Zivilisation wirft seinen Schatten schon wie ein einziges, lang gezogenes Ende auf jeden meiner Blicke; jede x-beliebige YA-Dystopie legt sich gleich einer Schicht radioaktiv verstrahlten Schnees über diese Landschaft.

All die vergessenen Plattformen des Cyberspaces sind eine Faszination des digitalen Salvagepunks wie my_local_entropy (eine Plattform, deren Algorithmen auf purer Zufälligkeit beruhten und die dir wahllose Posts von random Userx in deine Timeline speiste), Nullify (ein nebliger Wald, in dem Userx kleine Nachrichten für andere Userx in Astlöcher stecken konnten) oder The Space Is Sleeping (eine Plattform, auf der sich Userx einloggten, bloß um einander Gute Nacht zu wünschen). Halbgare Memes und Liebesbekundungen von 2007, unangebrachte horny Replys in Astlöchern, zehnstündige Aufnahmen von Regen als Gute-Nacht-Wunsch. Den Müll sammeln, bis die Welt untergeht, und aus einem Schrottkokon schlüpfen, wenn’s vorüber ist. Ein neues Zeitalter frei von aller Scheiße.

Im Salvagepunk löst sich die Dualität von Produkt / Müll auf. Das, was geborgen wird, ist weder Müll noch Produkt. Es ist Artefakt.

Auf einer Biegung von my_local_entropy finde ich die Seite einer verstorbenen Userx, auf der andere Userx Kommentare posten, ganz so als sei sie noch am Leben. Die Verstorbenen sind auf den Plattformen eerie Existenzen, etwas das uns in Zukunft, wenn die Daten der Verstorbenen die der Lebenden überstiegen haben, noch beschäftigen wird: Die Anwesenheit der Abwesenden, die eigentlich schon jetzt in Form all des Datenmülls – der Dark Data – stetig die Vergangenheit konserviert. Für Vilém Flusser verläuft die menschliche Geschichte wider dem zweiten Gesetz der Thermodynamik, welches besagt, dass die Entropie eines Systems immer steigt, alles zerfällt und so stetig Informationen verloren gehen mit dem Voranschreiten der Zeit. Die menschliche Geschichte aber häuft Informationen an und die telematischen Netze erzeugen heute mehr Informationen, als wir sie je auswerten könnten: So erweitern etwa die Amazon Web Services – und damit prahlen sie mit einer durchdringenden Leidenschaft –  die Infrastruktur ihres Netzwerks jeden Tag um ein solches Volumen, wie es ihnen vor sieben Jahren noch als Gesamtes zur Verfügung stand.

Auf einer anderen Biegung sehe ich, wie ein User nicht aufhören kann, den Toten des ›Capitol Hill Coups‹ nachzutrauern. Er gerät in Twitter-Tiraden darüber, wie die Linke sich hämisch über den Trump-Anhäger lustig mache, der sich seine eigenen Hoden getasert haben und angeblich in Folge dessen an einem Herzinfarkt verstorben sein soll. Er trauert um die dämlichen Toten des dämlichen Coups dieser dämlichen Ideologie, alles sei so dämlich, dämlich, dämlich. Dem zu folgen, ist wie bei einem Autounfall zuzusehen: wie die ersten Callout Posts reingeschneit kommen, wie jemand auf Twitter downmelted. Ich kann nicht wegsehen. Ich habe die Vorhänge seit Tagen nicht geöffnet. Irgendwann bilde ich Vitamin D mit dem Licht aus meinen Screens.

Ich öffne The Space Is Sleeping und schreibe: good nighty.

Ich öffne Nullify und drapiere hastig aufgenommene Nudes in Astlöcher.

Ich öffne Twitter und scrolle bis ich müde werde. User @piss_coyote twittert: I need some love from my e-family. Ich schreibe: I am sending u around 561 bytes of love with this tweet.

@piss_coyote liked das.

 

Dieser Text entstand im Rahmen des Festivals „Und seitab liegt die Stadt“ 2021: Landschaft im LCB. Kuration und Moderation: Juan S. Guse und Kerstin Preiwuß mit Daniela Danz, Dorothee Elmiger, Ines Geipel, Esther Kinsky, Tanja Maljartschuk, Rudi Nuss, Kathrin Passig, Martin Pollack, Judith Schalansky und Levin Westermann mit Bilschirmtexten von Vera Sebert und Videoperformances vom Balik_Balik Kollektiv (Dagmara Kraus, Anne Munka, Kinga Tóth)
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