Was nicht tötet, härtet ab? Funktion von Vergewaltigung in aktuellen Serien

von Isabella Caldart

CN: Sexualisierte Gewalt

 

„Bist du deswegen so stark?“, fragt Ginny ihre Mutter Georgia in der Serie Ginny & Georgia, nachdem diese ihr gesagt hat, dass sie als Kind von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde. „Weil ich missbraucht wurde?“, fragt Georgia zurück. „Nein, ich bin keine Game of Thrones-Figur. Nein, ich wäre noch viel stärker gewesen, wenn mich der Mist nicht so viel Energie gekostet hätte.“

Vergewaltigung als Plot Device

In nahezu jedem Seriengenre gehört sexualisierte Gewalt zu den beliebtesten Hürden, die sich Drehbuchautor*innen für ihre Frauenfiguren ausdenken. Das ist von einem narrativen Standpunkt her nicht nur schade, machen es sich die Filme und Serien damit doch sehr leicht, es ist in zweierlei Hinsicht sogar höchst problematisch: Noch immer werden die Vergewaltigungen zumeist explizit gezeigt, obwohl es außer zu schockieren keinen Grund dafür gibt, schließlich könnten sie szenisch auch nur angedeutet werden. Und noch immer dient die Vergewaltigung einer Frau zumeist einem konkreten Ziel, das nichts mit der sexualisierten Gewalt selbst zu tun hat, sondern eine bestimmte Handlung ermöglichen soll, beispielsweise den Rachefeldzug der vergewaltigten Frau wie in den Kill Bill-Filmen. Manchmal geht es bei der Vergewaltigung nicht einmal um dem Plot der Frauenfigur, sondern um den männlichen Protagonisten, der seine Frau/Schwester/Tochter rächt. Nicht die Vergewaltigung an sich ist relevant, sie ist vielmehr ein Plot Device, das handlungsvorantreibende Mittel.

Auf die Spitze getrieben hat dies Game of Thrones (2011-2019), eine Serie, in der sexualisierte Gewalt gegen Frauen regelmäßig dargestellt wurde. Vor allem die Vergewaltigung von Sansa Stark durch Ramsay Bolton in der fünften Staffel aus dem Jahr 2015 wurde in sämtlichen US-Medien stark kritisiert. Zum einen, weil diese Szene nicht nötig war, um den Zuschauer*innen zu zeigen, dass Ramsay der ultimative Bösewicht ist, das hatte die Serie bereits über mehrere Staffeln und grausame Taten hinweg etabliert. Und zum anderen, weil sich die Szene auf den Schmerz von Theon konzentriert, der gezwungen ist, Sansas Vergewaltigung mitanzusehen. „Aus narrativer Sicht ist die Szene überflüssiger Bullshit“, kommentierte Melissa Leon frustriert in The Daily Beast. „Es käut unnötigerweise alles wieder, was wir bereits über diese Charaktere wissen: Ramsay ist ein Psychopath, Theon/Reek wird gefoltert und die unverwüstliche Sansa erträgt alles, was nötig ist, um zu überleben. Hier wurde nichts Neues etabliert … [Sansas] Handlungsstrang wurde durch diese Szene nicht im Geringsten vorangetrieben.“

Viel geändert hat sich seitdem nicht

Game of Thrones ist zwar ein Extrembeispiel, aber auch viele andere Serien handhaben das Thema Vergewaltigung mehr schlecht als recht. Zunächst sei aber der Sonderfall 13 Reasons Why unter die Lupe genommen. Die erste Staffel des High-School-Dramas, 2017 veröffentlicht, dreht sich um die Vergewaltigung von Hannah, einer der Gründe, aus denen sie sich das Leben nimmt. Die Darstellung der Gewalt selbst ist unnötig lang und peinigend gezeigt. Sehr viel besser funktioniert der erzählerische Zweck: Hannahs Schmerz und ihr Trauma werden ausführlich und in aller Deutlichkeit behandelt (dass die Narrative Vergewaltigung und Trauma in Filmen und Serien immer zwingend miteinander verknüpft sind, kann dabei kritisiert werden, ist aber ein anderer Text). Ihre Vergewaltigung steht hier im Fokus, ist ein narrativer Bestandteil für die Rolle und für die gesamte Staffel, statt als Schockelement zu fungieren, vom Schicksal einer anderen Figur zu erzählen oder Hannah einen interessanteren Charakter verleihen zu wollen.

Die zweite Staffel behandelt ebenfalls sexualisierte Gewalt mit Jessica im Zentrum. Dieses Mal geht es vor allem um die Straflosigkeit der Täter in unserer Rape Culture und darum, wie Jessica ihr Trauma überwindet. Sowohl Hannah als auch Jessica bekommen viele Episoden übergreifende Handlungsbögen, um dieses Thema differenziert zu behandeln. Aber auch 13 Reasons Why benutzt Vergewaltigung als Mittel um zu schocken und um eine andere Handlung zu triggern: Am Ende der zweiten Staffel wird die Vergewaltigung von Tyler explizit und brutal gezeigt und dient lediglich als Begründung seines Kurzschlusses im Finale, ein School Shooting durchführen zu wollen. Das eigentlich wichtige Thema, nämlich die Vergewaltigung von Jungen und Männern, was selten zur Sprache kommt, rückt in den Hintergrund.

Ein anderes High-School-Drama, das teilweise mit 13 Reasons Why vergleichbar ist, ist Grand Army (2020), eine Serie über eine High School in Brooklyn mit einigen sehr starken, anderen sehr schwachen Handlungssträngen. Hier ist die Charaktervertiefung der Figur Joey der Punkt, um den es bei der (ebenfalls explizit dargestellten) sexualisierte Gewalt  geht. Joey macht dadurch einen vollständigen Wandel durch, von einer typisch weißen Feministin, die glaubt, sich ohne BH in die Schulklasse zu setzen wäre ein revolutionäres Statement, zu einem tiefgründigeren, nachdenklichen Teenager. Die erlebte Gewalt ist das Instrument, um die Figur reifen zu lassen. Dass Grand Army diese Storyline nicht in den Sand setzt, ist hauptsächlich der grandiosen Darstellung der Schauspielerin Odessa A’zion zu verdanken, die Joey glaubwürdig mit sehr viel Intensität und Verletzlichkeit spielt.

Deutlich kritikwürdiger sind da zwei neue Serien aus dem Jahr 2021: Firefly Lane und Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Die Dramaserie Firefly Lane, eine eher kitschige, dramaturgisch durchwachsene Serie, erzählt über mehrere Jahrzehnte hinweg von der Freundschaft zweier Frauen. Tully und Kate lernen sich als 14-jährige Teenagerinnen kennen, als Tully mit ihrer Mutter ins Nachbarhaus von Kates Familie zieht. Die Freundschaft der extrovertierten Tully und der nerdigen Kate beginnt, als Tully auf einem Date vergewaltigt wird (erneut eine viel zu lange Szene), Kate davon erfährt und ihr beisteht. Zwar wird im Laufe der ersten Staffel hin und wieder kurz Bezug auf die Vergewaltigung genommen, aber letztlich ist ihre alleinige Funktion, die Freundschaft von Kate und Tully zu etablieren. Wäre das nicht anders möglich gewesen?

Die deutsche Serie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zeigt die Vergewaltigung der 13-jährigen Stella in der Kneipe ihrer Mutter durch einen Stammgast ebenfalls qualvoll lang. Der einzige Grund für diese Szene ist, den sowieso schon schwelenden Konflikt zwischen Stella und ihrer Mutter zu befeuern. Sie verweist den Täter bei seinem nächsten Besuch nicht der Kneipe, weil er regelmäßig Geld da lässt, obwohl sie weiß, was er ihrer Tochter angetan hat. Stellas Bewältigung des schrecklichen Ereignisses wird nicht thematisiert. Auch hier stellt sich die Frage, ob es wirklich eine Vergewaltigung braucht, um zu zeigen, wie angespannt das Verhältnis von Mutter und Tochter ist.

Einfluss auf das echte Leben

„I wanna write a story about a decades-long female friendship where neither gets raped or dies“, twitterte Autorin Jenna Guillaume drei Tage nach der Veröffentlichung von Firefly Lane. Wie diese Beispiele zeigen, ist sexualisierte Gewalt noch immer eines der häufigsten Hindernisse, das Drehbuchautor*innen ihren weiblichen Figuren in den Weg stellen. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine abgedroschene Trope, diese erzählerische Faulheit hat auch konkrete Auswirkungen auf das echte Leben. „Die Bilder, mit denen das Fernsehen Vergewaltigungsgeschichten erzählt, übertrumpfen immer und ohne Ausnahme die Dialoge oder vermeintlich hehren Ziele von uns Autor*innen“, beschreibt Drehbuchautorin Ellen Vanstone in The Globe and Mail die Ästhetisierung von Vergewaltigung in Serien. „Es spielt keine Rolle, wie viel rationale Betrachtungen oder feministische Rhetorik wir unseren Schauspieler*innen in den Mund legen. Wenn Vergewaltigung als etwas poetisiert wird, das attraktiven jungen Frauen widerfährt, wird es mit Sex in Verbindung gebracht, was unsere Rape Culture verstärkt.“

Dass die explizite Darstellung von sexualisierter Gewalt für Zuschauer*innen traumatisierend sein kann, hält die New York Times fest. Und nicht nur das: „Die Studien zeigten, dass die jungen Männer, aber nicht die jungen Frauen, die Vergewaltigungsszenen in kommerziellen Filmen […] gesehen hatten, anschließend Gewalt gegen Frauen eher tolerierten und sich mehr zu sexueller Aggression hingezogen fühlten als diejenigen, die keine Vergewaltigungsszene gesehen hatten.“

Wie viele andere Journalistinnen kritisiert auch Nhi Le in ihrer Kolumne „The Female Gaze“ den „bagatellisierende[n] Einsatz [von Vergewaltigung] in Filmen und Serien“ und fordert andere Motoren für die Entwicklungen weiblicher Figuren, „bedingungslosen Machtwillen, Neid, Rachelust, Arroganz oder eine große humanistische Vision“. Dem schließe ich mich an. Dass sich trotz all der Debatten um Game of Thrones und andere Serien bisher so wenig getan hat, ist frustrierend. Vergewaltigungen sollten nicht als simpler Plot Device instrumentalisiert werden, um dadurch eine ganz andere Geschichte zu erzählen, um die Zuschauer*innen zu schocken oder um der Figur nach dem Motto „Was nicht tötet, härtet ab“ mehr Charakterstärke zu verleihen, damit sie sich weiterentwickeln kann. Wenn sexualisierte Gewalt thematisiert wird, sollte sich die Serie empathisch mit ihren Auswirkungen auseinandersetzen. Und dafür ist in keiner Weise nötig, den Missbrauch auch explizit darzustellen. Das kann triggernd für die einen, abstumpfend für die anderen Zuschauer*innen sein und ist immer geschmacklos.

Doch trotz allem gibt es einen Hoffnungsschimmer.  Mehrere Serien stechen positiv heraus, etwa Veronica Mars (ursprünglich von 2004 bis 2007), Jessica Jones (2015-2019) und Orange Is The New Black (2013-2019), die einfühlsam und realistisch mögliche Konsequenzen von Vergewaltigung behandeln. In Sex Education (seit 2019) führt die erlittene sexualisierter Gewalt in einem Bus dazu, dass die Mädchen ihre Konflikte überwinden und sich gegenseitig empowern. Die Miniserien Unbelievable (2019) und I May Destroy You (2020) haben sexualsierte Gewalt und ihre Auswirkungen als zentrales Element und wurden für die Darstellung von der Kritik gelobt. Oder eben die eingangs zitierte Serie Ginny & Georgia (seit 2021), die die einseitige Funktion von Vergewaltigung thematisiert und problematisiert. Langsam, langsam ändert sich etwas.

 

Photo by Erwan Hesry on Unsplash

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