Ende der 1990er Jahre, als ich das Gymnasium verließ und meine erste eigene Wohnung in Berlin-Schöneberg bezog, nahm ich einen Kanon deutschsprachiger Literatur mit, der vor allem Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller als Höhepunkte der deutschsprachigen Literatur ausstellte. Matte Schwarz-Weiß-Fotografien mit hellen Gipsbüsten dieser Schriftsteller wurden damals in die Gehirne von tausenden Abiturient:innen gebrannt. Die Behandlung selbst von hochkanonisierten Autoren wie Bertolt Brecht oder den Mitgliedern der Gruppe 47 im Unterricht lagen beinah im Bereich des Verbotenen. Mein erstes Semester an einer Universität in Berlin war ein Streiksemester und so streifte ich wissensdurstig durch sämtliche Antiquariate und Bibliotheken der Stadt, um dieses Defizit auszugleichen.
Wie letzten Endes „Das Brandmal. Ein Tagebuch.“ von Emmy Hennings in meine Hände gelangte, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Aber ich war fasziniert, dass eine Schriftstellerin ein Abenteuer sein wollte. “Das Brandmal. Ein Tagebuch.” wurde 1920 im Erich Reiß Verlag erstveröffentlicht und war bereits die dritte Publikation von Emmy Hennings. Wie schon der Titel nahelegt, handelt es sich um einen Roman in tagebuchartiger Form. Die Protagonistin Dagny, eine Wanderschauspielerin, fährt von Münster nach Köln, in der Hoffnung Arbeit zu finden. Die Kleidung, die sie trägt und ein paar Pfennige sind ihr einziges Hab und Gut. Dagny hangelt sich von Gelegenheitsarbeit zu Gelegenheitsarbeit und geht der Prostitution nach, bis sie nach ein paar Monaten ein Engagement in einem Kabarett findet.
Emmy Hennings war eine zentrale Figur der Berliner und Münchner Bohème vor und während der Zeit des Ersten Weltkrieges. Gemeinsam mit ihrem Mann Hugo Ball gründete sie 1916 das Cabaret Voltaire in Zürich, dem auch Tristan Tzara, Marcel Janco und Hans Arp angehörten. In ihren letzten Lebensjahren wandte sie sich verstärkt dem Katholizismus zu, der sie Zeit ihres Lebens begleitete und in Kontrast zu ihrem ausschweifendem Leben stand.
„Ich liebe das große Abenteuer und die Überwindung des Abenteuers. Ja, ich gestehe, ich selbst möchte ein Abenteuer werden und sein, daß man nie vergißt. Man lebt nur einmal und das ist immer …“ [1]
Eine Identifikation mit der Protagonistin Dagny fiel mir leicht, weil ich mich damals ebenfalls kleineren Theatergruppen anschloss und allmählich dahinter kam, wie hart und fragil dieses Leben auf Dauer sein würde. Es war, als wäre ich auf ein Geheimnis gestoßen, eine fast vergessene Autorin erzählte mir persönlich etwas über ihr Leben, was mich zu dem damaligen Zeitpunkt sehr berührte. „Das Brandmal. Ein Tagebuch.“ beschönigt an diesem fragwürdigen Dasein als Vagabundin nichts und Dagny, eine Schauspielerin ohne Engagement, überlebt in Köln als Hausiererin von „Desinfektionsapparaten“, Bedienung in einer Animierkneipe (die Hauptaufgabe war, die Gäste zum Trinken zu animieren, also unter den Tisch zu trinken) und Gelegenheitsprostituierte. „Machen Sie sich unempfindlich. Das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann. Das können Sie auf jeden Beruf anwenden, so ungefähr wenigstens.“, rät ihr die Bekanntschaft Djemma.
Die Literaturkritik ist beim Erscheinen des Buches 1920 begeistert. Hennings wird neben Else Lasker-Schüler gestellt, mit der sie bereits zu diesem Zeitpunkt eine solide Feindschaft verband. Kritische Stimmen merken an, dass der Ton nicht wechselt und das Buch „undramatisch bis zur Langeweile“ sei. Selbst mit Rückblick auf meinen Wissensstand von 1999 und der damals kaum verfügbaren Literatur über Emmy Hennings, würde ich nach wie vor „Das Brandmal. Ein Tagebuch.“ als zentrales Hauptwerk der Autorin sehen. Die vermeintliche Naivität, die ihr häufig zugeschrieben wird, steht neben tiefgehenden Reflexionen, die die Klassenunterschiede und die Umstände von jungen ungebundenen arbeitslosen Frauen zu jener Zeit sehr differenziert darstellen. Die reale Emmy Hennings ist 1908 nach dem Auseinanderbrechen ihrer Theatertruppe in Münster spontan in einen Zug nach Köln gestiegen und sah sich dort mit den sozialen Problemen ihres Berufsalltags konfrontiert. Sie prostituiert sich, um Miete, Kleidung und Essen bezahlen zu können.
Hennings hat für ihre Beobachtungen in „Das Brandmal. Ein Tagebuch.“ die Form eines Tagebuchs gewählt, weil sie auf diese Weise unsichtbare Schicksale, wie ihr eigenes, sichtbar machen konnte. Die Sprache ist einfach und zugänglich. Jeder Kalauer und jedes gesungene Lied ermöglichte jungen Frauen, sich mit Dagny zu identifizieren. Dass dies mit Absicht geschah, weiß die eingeschworene Fangemeinde von Emmy Hennings, da sie in „Gefängnis“, einer autofiktionalen Aufarbeitung ihres Gefängnisaufenthaltes von 1914, einen kühleren und streng analytischen Ton anschlägt, der eine Identifikation mit der Protagonistin nicht verunmöglicht, aber erschwert. Im August 1914 wird Emmy Hennings wegen ‘Beischlafdiebstahl’ verhaftet. Erika Süllwold, die für die Suhrkamp Auflage von “Das Brandmal. Ein Tagebuch” von 1999 das Nachwort schrieb, vermutet, dass Hennings sich die Bezahlung für den Beischlaf genommen hat und wortlos verschwunden ist.
Emmy Hennings hat sich unentwegt mit der widersprüchlichen Moral ihrer Zeit auseinandergesetzt und die herrschenden Rollenbilder aktiv hinterfragt. Exemplarisch stehen dafür nicht nur „Das Brandmal. Ein Tagebuch“ und „Gefängnis“ sondern auch ihre Kurzprosa, die in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften erschienen ist. Hennings spielt auf der Bühne und in der Literatur mit den Projektionsflächen der weiblichen Rollen, die zu ihrer Zeit möglich waren, erweitert sie, spitzt sie zu, um sich so neue Freiräume zu schaffen. Sie gibt dem Zweifel, dem Verlassensein und der Orientierungslosigkeit in ihren Texten ebenso einen Raum, wie sie daraus Erkenntnisse für sich zieht, die darauf abzielen, „die geschminkte Not“ und das „übertünchte Elend“ in ihrer plastischen Drastik auszustellen und in einen Gesamtzusammenhang zu überführen, bei dem es sich nur um ein grundsätzlich falsches Leben handeln kann. Das hat großes emanzipatorisches Potential.
Ihre Gedichte, die häufig spätromantische Züge tragen und später ihre Hinwendung zur Religion durch mittelalterliche Mystik andeuten, sind geprägt von einer immerwährenden Sehnsucht nach Gott und dem Verloren sein bis hin zur Selbstauflösung.
An den Tod
Wie sollte ich mich nicht verführen lassen? / Verführen mich selbst, verführen mich Tod und Leben / Wie verlockend bist du, magischer Freund! / […] / Vor deiner Pforte streifen mich die Schwingen des Irrseins. // Noch ist mein Unglaube gleich einem schwarzen Vogel. / Allnächtlich umkreist er mein Lager. / Einst wird er seine Fittiche ausbreiten / Über meinem sonneerhellten Blumengrab / […] / Und golden, oh golden glänzt die Verheissung: / Ihr werdet sein wie Gott … //. [2]
Wie hat es Emmy Hennings, die als Emmy Cordsen 1885 in Flensburg geboren wurde und aus einfachen, der Kunst fernen Verhältnissen stammte, geschafft, sich eine eigene künstlerische Identität aufzubauen? Hennings war eine vielseitige Künstlerin, die spielte, tanzte, sang, schrieb und im Cabaret Voltaire mit selbst genähten Puppen auftrat. Die Dadaist:innen kämpften mit allen Mitteln gegen die Agonie und den Todestaumel des ersten Weltkrieges an. Masken und Puppen boten ein Refugium, um laut das Leben zu behaupten und sich der Vereinnahmung durch die Kriegspropaganda zu entziehen.
Emmy Hennings stand während der rauschenden Abende im Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse Nr.1 in Zürich stets im Mittelpunkt. Aber als gestandene Künstlerin, die schon auf unzähligen Bühnen aufgetreten war, bedeutete ihr diese Zeit, die Geburtsstunde des Dadaismus, recht wenig.
“Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zuviele Leute entzückt davon. Es war nichts Rares und nichts Bares, weder Fisch, noch Fleisch und die Dadaisten haben ja selbst zuerst nicht gewusst, was es ist. Das ist ein Kompliment. Hätte man nur nicht so früh mit der Interpretierung begonnen …” [3]
Ihr Freiheitsdrang und ihre Abenteuerlust, die ihr von ihrem Vater, einem ehemaligen Seefahrer, mitgegeben wurde, führten sie auf einen Weg, den sie autonom gewählt hatte. Im späteren Zusammentreffen mit egomanen Schriftstellern wie Johannes R. Becher oder auch Erich Mühsam gerät sie in eine emotionale Schieflage, die auch ihr künstlerisches Fortkommen behindert. Hennings Beziehungen zu Hermann Hesse und Hugo Ball hingegen waren geprägt von gegenseitigem Respekt und aufrichtiger Liebe. Die Biographie über Emmy Ball-Hennings von Bärbel Reetz, „Leben im Vielleicht“, gibt im Detail Aufschluss, wen Emmy Hennings als Bohemienne in Berlin noch vor Ausbruch des ersten Weltkrieges kennengelernt hat. Sie ist umgeben von Künstler:innen und Intellektuellen, mit denen sie in einem lebhaften Austausch steht. Man verleiht sich gegenseitig Kontur und Hennings Kunst wird eindeutiger und zugleich vielschichtiger.
Emmy Hennings hat sich immer wieder gegen ein kleinbürgerliches Leben entschieden. Sie war Dichterin, Diseuse, Kabarettistin, und sie war auch Mutter. Zunächst wuchs ihre Tochter Annemarie Schütt-Hennings bei der Großmutter auf und auch wenn Hennings sich in Phasen des Zweifels, der Geldnot und des Hungers, ausgemalt hat, wie dieses Leben wäre, folgte sie unbeirrt ihrem eingeschlagenen Weg. Nach dem Tod der Großmutter 1916 zog die zehnjährige Annemarie nach Zürich, wo sie im Kreis der aufbrechenden Avantgarde in den kommenden Jahre aufwuchs und den Berichten nach dort sehr geborgen war.
In die Zeit meiner Entdeckung von Emmy Hennings fielen damals zeitgenössische Autor:innen ein, die unter dem zweifelhaften Begriff “Fräuleinwunder” firmierten und die auch für mich lesbar waren. Ich erinnere mich da an Judith Hermann, Zoë Jenny oder auch Karen Duve. Inzwischen gibt es viel Literatur über Hennings und sie ist längst keine vergessene Autorin mehr. So gibt es etwa eine Graphic Novel „Alles ist Dada“ und zahlreiche Autor:innen der Gegenwart folgen ihrem Weg, indem sie schonungslos über ihr Dasein als Künstler:innen schreiben. Ob nun Ruth Herzberg mit ihrem Roman „Wie man mit einem Mann unglücklich wird“ oder Sarah Berger mit ihren Social-Media-Collagen „Lesen und Schreien“.
[1] Emmy Ball-Hennings, Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten (1929).
[2] An den Tod. In: Helle Nacht. Berlin, E.Reiß, 1922, S.25.
[3] Emmy Hennings, “Rebellen und Bekenner” (1929).
Photo by Sam Moqadam on Unsplash