von Alex Bachler und Oliver Pöttgen
Kennen Sie „Jidaigeki“? Wenn nicht, verpassen Sie gerade vielleicht einen Trend. In der internationalen Popkultur ist nämlich seit einiger Zeit zu beobachten, dass sich Geschichten, die im vormodernen Japan spielen, vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. In Japan werden u. a. Filme, Serien und Videospiele, die sich diesen Stoffen bedienen, dem Jidaigeki-Genre („historisches Drama“) zugeordnet.
Auch wenn es hier nur hintergründig um sie geht, zeigen zwei Beispiele die aktuelle Relevanz des Genres besonders deutlich: die Anfang 2024 auf Hulu und Disney+ veröffentlichte Serie Shōgun und das diesen November erscheinende Videospiel Assassin’s Creed Shadows. Während der neueste Teil von Ubisofts sehr erfolgreicher Assassin’s-Creed-Reihe wegen einer Schwarzen Hauptfigur zur Zielscheibe von Gamern und rechten Kulturkämpfern geworden ist, gehört Shōgun zu den Serienhits 2024, mit zwei weiteren Staffeln in Planung. Die Serie basiert auf dem gleichnamigen, 1975 erschienenen Roman von James Clavell und erzählt die Geschichte eines Engländers, der um das Jahr 1600 in Japan das Vertrauen eines um Macht ringenden Fürsten gewinnt.
Das Undenkbare denken
Trotz einflussreicher Frauenfiguren zeichnet Shōgun, historisch korrekt, das vormoderne Japan als Patriarchat. Das Sagen in Familie, Clan und Politik hatten am Ende in der Regel Männer, Frauen hatten sich für gewöhnlich unterzuordnen. Der Rang des titelgebenden „Shōgun“, des obersten Militärmachthabers und De-Facto-Regenten, war Frauen verwehrt, wie alle anderen militärischen und politischen Ämter offiziell auch. Zwar gab es kriegerische Frauen, sogenannte „Onna-musha“ und (falls sie nicht bloß Mythos sind) „Kunoichi“, in politische Macht aber übersetzte sich ihr Wirken nicht. Dass eine Frau Shōgun sein könnte, war strukturell ausgeschlossen und dürfte damals, wie es in solchen Fällen oft heißt, „undenkbar“ gewesen sein. Vielleicht nicht nur damals, möchte man mit Blick auf die parlamentarisch legitimierte Erbfolgeregelung des heutigen japanischen Kaiserhauses hinzufügen. Nach wie vor lässt das Gesetz eine Frau auf dem Thron nicht zu.
Dass eine Frau als Shōgun jedoch alles andere als undenkbar ist, zeigt die Netflix-Anime-Serie Ōoku: The Inner Chambers von 2023. Sie basiert auf einem mehrfach ausgezeichneten Manga der Autorin Yoshinaga Fumi und lässt sich neben dem Jidaigeki- noch zwei weiteren Genres zuordnen: dem Josei-Genre, worunter Manga und Anime fallen, die sich an erwachsene Frauen richten, und dem Genre der Alternate History, das ein Sub-Genre der Science-Fiction ist und sich um die Frage des „Was wäre, wenn …?“ dreht.
Wie die Phantastik-Autorin Lena Richter schreibt, geht es dabei im Kern darum, dass „unsere eigene Welt an einem entscheidenden Punkt der Geschichte eine andere Wendung genommen hat.“ Solch eine Wendung wäre etwa der Sieg Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Romane, Filme und Serien, die mit gerade dieser Prämisse arbeiten, wie Fatherland von Robert Harris und The Man in the High Castle von Philip K. Dick, dürften zu den bekanntesten Produkten der Alternate History gehören, wohl nicht zuletzt wegen der Albtraumhaftigkeit ihrer erzählten Welt.
Eine Krankheit, die nur Männer tötet
Ōoku bedient sich gleich zwei Was-Wäre-Wenns. Die Serie fragt nicht nur danach, was eine Frau als Shōgun im Japan des 17. Jahrhunderts mit sich brächte, sondern fragt auch, welche Folgen es gesellschaftlich hätte, wenn der Großteil der männlichen Bevölkerung durch eine Epidemie sterben würde. Die dafür verantwortliche Infektionskrankheit heißt „Rotpocken“ und betrifft nur Männer, vor allem junge. Dieses zweite Was-Wäre-Wenn ist in Ōoku Voraussetzung für das erste. Unter den Opfern dieser Krankheit ist der junge Shōgun Tokugawa Iemitsu, der letzte männliche Vertreter in der Erblinie des herrschenden Tokugawa-Clans. Japan steht plötzlich ohne Shōgun dar, was zu einem Nachfolgekrieg unter seinen Feudalherren führen könnte. Um diesen zu verhindern und die Tokugawa-Herrschaft zu sichern, muss eine List her.
Hier verwebt Ōoku Historie mit Fiktion. Die Rotpocken sind erfunden, Tokugawa Iemitsu aber ist eine reale historische Figur und war dritter Shōgun des von seinem Großvater Tokugawa Ieyasu 1603 gegründeten Tokugawa-Shōgunats, das Japan von Edo aus, dem heutigen Tokio, bis 1868 regierte. Einen in Kyoto gelegenen Kaiserhof gab es damals zwar auch schon, die politische Macht aber lag beim Shōgunat in Edo. Der Trick, um den Tod des Shōgun geheimzuhalten und die männliche Erblinie wiederherzustellen, ist in Ōoku: Eine erwachsene Tochter des verstorbenen Iemitsu wird als Iemitsu ausgegeben und soll schnellstmöglich einen Sohn zeugen, der Shōgun sein kann.
Iemitsu schwängern sollen Männer, die in der „Ōoku“ (wörtlich: das große Innere) der Burg Edo dienen, dem Hauptsitz der Tokugawa. Die Ōoku ist die Schutztruppe der Burg, fungiert nun aber auch als Männer-Harem. Diese militärische Einheit hat tatsächlich ein historisches Vorbild, war jedoch kein Männer-Harem, sondern das Quartier höhergestellter Frauen, bevor sie zum Frauen-Harem des realen Iemitsu wurde. Mastermind hinter all dem, in Fiktion und Historie, ist die Dame Kasuga. Als Amme und Vertraute Iemitsus hatte sie machtpolitischen Einfluss, womit Ōoku erzählerisch spielt.
In der Fiktion hofft Kasuga, mit ihrer List auch das Patriarchat und somit die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes bewahren zu können. Aber es kommt anders. Die Rotpocken wüten über Jahre weiter und der Männer-Anteil an der Gesamtbevölkerung sinkt auf ein Viertel. Das hat zur Folge, dass Frauen die zuvor männlich belegten Funktionen von Bauern, Handwerkern, Händlern und schließlich Feudalherren in großer Zahl übernehmen müssen, um Japans Überleben zu sichern. Eine hoffnungsvolle Szene zeigt, wie Frauen sich verbünden und gemeinsam organisieren: Ältere Frauen übernehmen die Betreuung kleiner Kinder, damit mehr Frauen auf Feldern arbeiten können. Schon bald ist es möglich, Geräte anzuschaffen, die die schwere körperliche Arbeit für Frauen erleichtern.
Aus Patriarchat wird Matriarchat – aber was für eines?
Inwiefern Frauen nun auch Samurai sein können, also dem regulären Kriegerstand angehören und in der Öffentlichkeit Schwerter tragen dürfen, lässt Ōoku leider offen. Ebenso offen bleibt in der Serie, inwiefern sich die neue Frauenherrschaft verstetigt und patriarchale Strukturen völlig verschwinden. Ōoku schließt lediglich damit, dass eine Tochter des weiblichen Shōgun ihr im Amt nachfolgt. Indem auch die Tochter den Namen eines historischen Herrschers trägt (Tokugawa Ietsuna, Regierungszeit 1651 bis 1680), verwischt Ōoku die Grenzen zwischen Fiktion und Realität weiter. Es entsteht der Eindruck, als hätte es nicht viel gebraucht, um wirklich so gewesen zu sein.
Während der Trailer zur Serie noch Euphorie über dieses Gedanken-Experiment zum Rollentausch von Männern und Frauen in Japans Feudalgesellschaft auslöst, verursacht Ōoku beim Ansehen allerdings mit jeder Episode ein größeres Unbehagen. Als „dark and depressing“ bezeichnet die Serie ein YouTuber. Ein wichtiger Aspekt der Serie ist, dass das binäre Geschlechtersystem in diesem Was-Wäre-Wenn-Szenario weder vollständig umgekehrt, noch durch ein völlig anderes ersetzt wird, zumindest in dieser ersten und allem Anschein nach einzigen Staffel nicht.
Die Serie, die lediglich einen kurzen Ausschnitt der 19-bändigen Manga-Reihe adaptiert, geht nur bedingt der Frage nach, ob eine Frau als Shōgun zu regieren vermag. Während die Manga-Reihe durch ihren Umfang noch viel tiefer beleuchten kann, wie unterschiedlich verschiedene Frauen viele Jahre lang nacheinander herrschen, zeigt die Anime-Serie vor allem, dass eine Frau in oberster Machtposition allein keine schnellen und breiten gesellschaftlichen Veränderungen bewirken kann, wenn das gesamte System patriarchal-sexistisch organisiert ist.
Müssen Männer sterben, damit sich Gesellschaften ändern?
Ōoku ist keine Utopie eines perfekten Matriarchats. Vielmehr macht die Erzählung deutlich, wie tief Patriarchat und Misogynie strukturell verwurzelt sind – und wie sehr auch Männer Opfer von patriarchalen Macht- und Ausbeutungssystemen sein können. All dem geht die Manga-Reihe, die derzeit noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, genauer nach, als es die Serie kann. Allerdings schafft es Ōoku schon als Serie, eine pikante Frage zu stellen (und sei es nur implizit): Müssen erst viele Männer sterben, damit eine im feministischen Sinn bessere Gesellschaft möglich wird?
Frauen sind jedoch auch im alternativen Ōoku-Universum nicht automatisch die Lösung, sondern vielseitig Teil des Problems. Ganz besonders trifft das auf die zwei weiblichen Hauptfiguren der Serie zu, die Herrscherin Iemitsu und ihre greise Beraterin Kasuga. Um die männliche Blutlinie des verstorbenen Iemitsu fortzuführen, raubt Kasuga dessen uneheliche Tochter aus ihrer Familie. Das Kind, das bereits mittels sexualisierter Gewalt gezeugt wurde, muss mit ansehen, wie Kasuga die verbleibenden Familienmitglieder hinrichten lässt, um das Geheimnis seiner Herkunft zu schützen.
Während die weibliche Iemitsu einerseits der Hof-Elite als männlicher Shōgun präsentiert wird, bleibt sie andererseits auf ihre Rolle als Gebärende reduziert und hat die Idee der männlichen Blutlinie verinnerlicht. Die Position des Shōgun darf sie zunächst nur im Geheimen und stellvertretend besetzen, bis sie einen männlichen Nachkommen geboren hat. Selbst zum Ende ihres Handlungsstrangs hält sie bei offizieller Bekanntgabe ihres Geschlechts fest, dass ein weiblicher Shōgun lediglich eine Übergangslösung sei, bis die Zahl der Männer im Land wieder gestiegen ist. Es wundert angesichts dessen nicht, dass Iemitsu als traumatisierte Figur gezeichnet ist, die mit internalisiertem Frauenhass zu kämpfen hat. Ihre Politik im Kampf gegen die Rotpocken wirkt hart und rücksichtslos, rettet aber Japan. Die Serie erzählt also auch von einer, nach patriarchalen Maßstäben, erfolgreichen Staatschefin.
Alternate History mit Alltagsrelevanz
Die Manga-Autorin Yoshinaga Fumi hat mit Ōoku nicht nur ein alternatives Historiendrama geschaffen, sie greift zudem aktuelle gesellschaftliche Probleme auf. Die Aktualität dürfte auf den großen Erfolg der Manga-Reihe maßgeblichen Einfluss gehabt haben, sie erschien ganze 16 Jahre lang (von 2004 bis 2020) und gewann etliche Preise. So thematisiert Yoshinaga neben sexualisierter Gewalt und Alltagssexismus auch die rückläufige Geburtenrate. In Japan ist es noch immer üblich, dass Frauen sich nach ihrem Studium eine einfache Stelle in einer Firma suchen und kaum in höhere Positionen gelangen, da sie für gewöhnlich im Alter von etwa 30 Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden, um eine Familie mit Kindern zu gründen. Später arbeiten sie bestenfalls noch in Teilzeit.
Aber auch in Japan sinkt, wie in vielen westlichen Ländern, die Geburtenrate und immer weniger junge Erwachsene entscheiden sich für Heirat und Familiengründung. Hinzu kommt, dass immer mehr Japaner*innen überhaupt keine feste Partnerschaft wollen. Gründe hierfür sind etwa der schlechte Zugang zu Kinderbetreuung, der Gender-Pay-Gap und fehlende Möglichkeiten für Frauen, wieder in frühere Berufe zurückzukehren. Kinderbetreuung und Haushalt bleiben zwar Frauen zugeschriebene Aufgaben, jedoch verunmöglicht die schlechte wirtschaftliche Situation häufig ein Überleben mit nur einem festen Einkommen. Die japanische Politik diskutiert über Verbesserungen, aber auch hier sind vor allem Männer an den Entscheidungen beteiligt, da es kaum Frauen in höheren Positionen und Ämtern gibt – ähnlich wie zu Beginn von Ōoku.
Manga und Anime können ernste Stoffe verhandeln
Selbst wenn Ōoku: The Inner Chambers nicht die Matriarchatserzählung liefert, die man sich vielleicht von der Anlage des Stoffes erhofft, ist die Serie ein spannendes und intellektuell anregendes Sozialdrama über die Verwurzelung von Patriarchat und Misogynie. Sie zeigt auch, dass das im Westen nach wie vor oft belächelte Anime- und Manga-Genre durchaus in der Lage ist, ernste und anspruchsvolle Themen zu verhandeln. Ebenso wird das große Potential von Anime und Manga im Bereich der Alternate History deutlich. In besonderer Weise mag das für die sich an erwachsene Frauen richtende und damit in der Tendenz ernsthaftere Josei-Sparte gelten, für die Ōoku ein prägnantes Beispiel ist.
Und nicht zuletzt zeigt Ōoku, dass Jidaigeki-Stoffe weit mehr zu bieten haben, als Serien wie Shōgun oder Videospiele wie Assassin’s Creed Shadows durch ihre häufig brutalen Samurai- und Ninja-Geschichten suggerieren. Es braucht nicht immer Schwerter für harte Kost. Ginge diese Erkenntnis im Trend unter, wäre das schade.
Beitragsbild: Netflix