Wassermelonenzucker – Über Harry Styles und die Generation Z

Von Jonathan Horstmann

Die Welt der Popmusik ist ein üppiger Garten, in dem schon so manches Obst geerntet wurde. Die Beatles besangen die Mehrdeutigkeit von Erdbeerfeldern, Harry Nilsson erfand einen Song über eine Kokosnuss und die deutsche Band Fool’s Garden ließ in den Neunzigern ihr lyrisches Ich traurig um einen Zitronenbaum tanzen. Alle Früchte, die danach noch übrig waren, hat in den vergangenen Jahren ein junger Sänger namens Harry Styles gepflückt, in eine große Schüssel geworfen und zu einem zuckersüßen Salat vermischt. Popfans laben sich an dieser Musik wie die olympischen Götter an der Wunderspeise Ambrosia, denn Songs wie „Grapejuice“ und „Watermelon Sugar“ sind nicht nur appetit-, sondern auch fantasieanregend. Kiwis, Kirschen, Trauben und Wassermelonen stehen darin als vielseitige Metaphern für Identitätsfragen, Körperteile und Sexpraktiken, können aber auch als ganz unschuldige Erfrischungen verstanden werden. Wer würde da in einer Zeit, in der wir es mit immer schlimmeren Hitzesommern zu tun bekommen, nicht gern die Lautstärke hochdrehen?

Für alle, die keine Ahnung haben, um wen es geht: Harry Styles, Jahrgang 1994, ist so etwas wie die Wiedergeburt Mick Jaggers im 21. Jahrhundert, nur mit einer zeitgemäßeren Haltung und ohne die zweifelhaften Männlichkeitsgesten – dazu später mehr. Mit unvergleichlichem Charisma, Gitarre und Rockstar-Gebärde hat Styles im vergangenen Jahrzehnt von England aus den internationalen Musikmarkt erobert. Der musikalische Inkubator, der bei Mick Jagger die Rolling Stones waren, war für Harry Styles eine Boyband namens One Direction, die während ihres sechsjährigen Bestehens von 2010 bis 2016 vier Welttourneen absolvierte. Alle ehemaligen Mitglieder sind mittlerweile als Solokünstler aktiv, allerdings ist es nur Styles gelungen, seine Karriere in immer noch luftigere Höhen zu schrauben. Die Bilanz: drei sehr gute Soloalben, ein paar Filmrollen sowie eine früh zerbrochene Liaison mit Taylor Swift, über die diese später einen Song mit dem Vers „We never go out of style“ veröffentlichte. Was man sonst noch wissen muss: Er lackiert sich die Nägel, trägt bunte Perlenketten und war mit seinem genderfluiden Look als erster Mann auf dem Cover der Vogue zu sehen.

Im Musikfeuilleton werden aufstrebende Popstars oft von Personen beschrieben, die wesentlich älter sind als die primäre Zielgruppe. In solchen Texten ist es üblich, jemanden wie Harry Styles mit älteren Haudegen seiner Branche zu vergleichen: eben Mick Jagger, aber auch Paul McCartney, Paul Simon, Van Morrison, Fleetwood Mac. Auch die entsprechenden musikgeschichtlichen Bezüge werden hergestellt – dass der aktuelle Styles-Hit „As It Was“ mit seinem Tempo und Synthesizer-Motiv ähnlich klinge wie „Take on Me“ von a-ha, oder dass das Album „Harry’s House“ denselben Namen trage wie ein Track auf einer Joni-Mitchell-LP von 1975. Manchmal nimmt das fröhliche Referenzieren ein bisschen überhand. Dabei kann es dann passieren, dass die musiksoziologische Seite des Starphänomens unter den Tisch fällt: die Dynamik zwischen dem Künstler und seinen Fans, denjenigen, die seine Musik kaufen, seine Konzerte besuchen, Herzchen für seine Fotos auf Instagram verteilen und seine Songs in ihren TikTok-Videos verarbeiten. Fragen wir also: Was fasziniert eigentlich junge Menschen – die sogenannte Generation Z – an Harry Styles?

Tanzbare Identitätsbildung

Gleichberechtigung. Selbstbewusstsein. Mut. Drei Worte, die man häufig zu hören bekommt, wenn man an einem Sommerabend Ende Juni zum ersten Deutschlandkonzert der Harry-Styles-Welttournee in Hamburg gekommen ist und im Publikum fragt. Von den annähernd 50.000 Fans im Volksparkstadion sind die meisten vermutlich gerade erst volljährig, geschätzte 87 Prozent sind weiblich. Auch hier tummelt sich das Obst: Wassermelonen, die als Ohrringe getragen werden, Hosen mit Zitronenprints. Außerdem lila Cowboyhüte, pinke Federboas, glitzernde Jumpsuits mit Schlag, Strasssteine, die in vor Aufregung gerötete Gesichter geklebt sind. Die Fans – eine bonbonfarbene Gemeinschaft, die zwei Stunden lang kreischt und tanzt, regelrecht tobt, wenn Softrocknummern wie „Golden“ und „What Makes You Beautiful“ gespielt werden. 

Das wirke jetzt ziemlich klischeemäßig, kommentiert meine 17-jährige Sitznachbarin: lauter Mädchen, die einem männlichen Sänger zujubeln. Aber das dürfe man nicht falsch verstehen. Viele hier seien lesbisch. Und es gehe auch um etwas anderes: „Harry Styles ist jemand, der Frauen ernst nimmt.“

Ein Lieblingssong vieler Konzertbesucherinnen ist „Matilda“. Die junge Frau im Lied wird von Styles dazu ermutigt, sich von ihrer kaltherzigen Familie zu emanzipieren, um in ihrem Leben mehr Platz für Menschen zu schaffen, die ihr guttun („You can let it go / You can throw a party full of everyone you know / And not invite your family ’cause they never showed you love / You don’t have to be sorry for leavin’ and growin’ up“). Da Musik nicht nur Unterhaltung ist, sondern zur Identitätsbildung beiträgt, wird wohl so manche Hörerin diesen Ratschlag auf sich beziehen: Wenn Matilda für sich und ihre Bedürfnisse einstehen kann, dann kann ich es auch. Es gibt eine Reihe von TikTok-Videos, in denen sich Teenager dabei filmen, wie der Song sie zum Weinen bringt. Eine 18-jährige Konzertbesucherin, die ich darauf anspreche, sagt, dass es eben Mut mache, Botschaften, die Frauen den Rücken stärkten, auch mal von einem männlichen Künstler zu hören. Auf Twitter wiederum lassen viele kein gutes Haar an dem Frauenversteher Styles: Sei ja klar, heißt es dann zynisch, dass der Feminismus am Ende wieder von einem privilegierten Mann vereinnahmt werde.

In jedem Fall bekommt dieses Publikum von seinem Idol viel Aufmerksamkeit geschenkt. Praktisch alle Songtexte aus dem Styles-Repertoire sind Du-Texte, die ein (weibliches) Gegenüber ansprechen. Bald nimmt das lyrische Ich darin die Rolle des Liebhabers ein, bald die eines Freundes oder allwissenden Beobachters. Der Tenor ist weniger sexuell als eher einfühlsam, manchmal tröstend („If you’re feelin’ down / I just wanna make you happier, baby“). Seit den One-Direction-Tagen, in denen die Musik noch relativ seicht war, ist der Sänger und mittlerweile auch Songwriter Styles hörbar gereift. In dem sanften Liedchen „Boyfriends“ kritisiert er Beziehungsdynamiken, in denen Männer ihre Freundinnen ausnutzen, und verzichtet zugleich darauf, sich selbst als Problemlöser oder Retter ins Spiel zu bringen. Man vergleiche dies einmal mit den lyrischen Ichs anderer männlicher Popstars, die sich entweder im permanenten Baggermodus befinden (Ed Sheeran) oder in einer neurotischen Selbstbespiegelung gefangen sind (Robbie Williams).

Glücklicherweise kein Mick Jagger

Und an genau dieser Stelle greift eben auch der Mick-Jagger-Vergleich zu kurz. Zwar hat sich Styles vielleicht die Frisur und das Bühnengehopse von ihm abgeguckt, man erkennt ähnliche androgyne Codes der Körpersprache. Aber ohne das gockelhafte Verhalten, mit dem sich Jagger immer am Rand des Obszönen bewegte. Die Sexyness der alten Rockstars war eine männliche Machtgeste, bei der immer klar war, wer hier wen verführen wollte, um wessen „Satisfaction“ es letztlich ging. Harry Styles ist viel spielerischer, befreiter – eine fast geschlechtslos wirkende Figur, die keine Ansprüche an irgendjemanden stellt, außer dass man sich in ihrer Gegenwart möglichst wohlfühlen soll. In den Kostümen und Accessoires, die dazu auf der Bühne und im Publikum flattern, ist ein halbes Jahrhundert aus Christopher-Street-Day-Symbolik, Ballroom Culture und Gender Studies  aufgegangen. Wer sich wie definiert und mit wem ins Bett geht – komplett egal, niemand soll hier dominiert werden oder sich bevormundet fühlen. Eine schöne Utopie, die gelegentlich ins Kitschige kippt und natürlich auch etwas Kalkuliertes hat. Queerness ist im Jahr 2022 auch ein kommerzielles Konzept, das fast überall anschlussfähig ist und den Verkauf von puscheligem Merch antreibt.

Richard Dyer hat in seinem Buch „Stars“ von 1979 die Frage erörtert, ob bestimmte Stars deshalb so erfolgreich seien, weil sie dem Publikum von der Kulturindustrie so angeboten würden oder weil das Publikum gewissermaßen nach ihnen verlangt habe. Gibt es eine kollektive psychische Struktur der Gen Z, an die der Künstler Harry Styles besonders gut andockt? Einerseits, so zeigen aktuelle Jugendstudien, haben Personen, die in den späten Neunziger- bis Nullerjahren geboren wurden, eine grundsätzlich solide Lebenszufriedenheit. Andererseits leiden viele unter psychischen Belastungen, artikulieren mehrheitlich Ängste, die sich auf Umweltverschmutzung, Terroranschläge und den Klimawandel beziehen – ein Zustand, der sich auch in ihrem gestiegenen politischen Interesse und ihrer Mobilisierbarkeit für Demos wie die von Fridays for Future zeigt.

Musikalischer Ausweg aus der Apokalypse

Harry Styles’ Musik bringt beides zum Ausdruck. Da ist zum einen das unbeschwerte Lebensgefühl der Jugend, ein gefühlt ewiger Sommer mit allen Früchten der Chiquita-Palette („Tastes like strawberries on a summer evenin’ / And it sounds just like a song“). Zum anderen eine Melancholie, die sich – neben den Herausforderungen des eigenen Beziehungslebens – auf einen dauerhaften Krisenzustand der äußeren Welt zu beziehen scheint. Das Ohnmachtsgefühl angesichts der aktuellen Nachrichtenlage in „Love of My Life“ („We don’t really like what’s on the news, but it’s on all the time“), das Zurückgeworfensein auf sich selbst in „As It Was“ („In this world, it’s just us / You know it’s not the same as it was“), die blanke Verzweiflung und Endzeitstimmung in „Sign of the Times“ („Just stop your crying, it’s a sign of the times … They told me that the end is near / We gotta get away from here“). Anders als bei Billie Eilish, einem anderen Idol der Gen Z, die ihre Depressionen zu düsterem Elektropop verarbeitet, klingt im Harry-Styles-Songkatalog auch ein Ausweg aus der Apokalypse an. In einem seiner besten und interessantesten Hits, „Treat People with Kindness“, singt ein lustiger Hippie-Chor: „Maybe we can / Find a place to feel good …“

Ob es eine bessere Welt gibt als diese? Gegen Ende des Konzerts in Hamburg hält der Sänger plötzlich ein Pappschild hoch. „My body, my choice“ ist darauf zu lesen, eine Frau aus dem Publikum hat es Styles auf die Bühne gereicht. Zwei Tage zuvor hat der oberste Gerichtshof der USA das bundesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt – ein zivilisatorischer Rückschritt unheimlichen Ausmaßes, der der amerikanischen Jugend die Trümmer eines jahrzehntelangen Kulturkampfs ihrer Eltern und Großeltern vor die Füße wirft. Und wenn man sich nun in dem riesigen Stadion umschaut und die Ergriffenheit der jungen Fans auf sich wirken lässt, die vielen Handys, die jetzt gezückt werden, um das Bild von dem Sänger mit der Botschaft sofort um die Welt zu schicken, dann ahnt man, welche Bedeutung diese winzige Geste der Solidarität für diejenigen hat, die mit dem Chaos von morgen werden leben müssen.

Beitragsbild: IMAGO / PA Images

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