Wir sind hier, und ihr seid es auch – Ein Jahr nach Hanau

von Isabella Caldart

 

Hanau war kein Einzelfall. Wie rassistisch ist die deutsche Gesellschaft? Wie kann Schreiben nach Hanau aussehen? Was kann die Literatur für den antirassistischen Diskurs tun? Diesen und weiteren Fragen widmet sich das dreitägige „Wir sind hier“-Festival für kulturelle Diversität vom Literaturhaus Frankfurt in Kooperation mit der Bildungsstätte Anne Frank, das am Wochendende aus dem Literaturhaus Frankfurt und dem Kulturforum Hanau live gestreamt wird. Ein Bericht.

 

„Rassismus und Gesellschaft“ mit Ferda Ataman, Mohamed Amjahid und Seda Başay-Yıldız, moderiert von Idil Baydar

Die erste Veranstaltung verhandelt das Thema „Rassismus und Gesellschaft“. Mit dem Hinweis, dass man eine gemeinsame Geschichte habe, stellt Kabarettistin Idil Baydar, die durch den Abend führt, zunächst die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız vor, die schon beim NSU-Prozess eine Familie und drei von den  Morden in Hanau betroffene Familien vertritt. Die zweite in der Runde ist die Journalistin und Autorin Ferda Ataman, die gemeinsam mit den Neuen Deutschen Medienmacher*innen dafür verantwortlich war, dass 14 Tiefs und Hochs keine „typisch deutschen“ Namen trugen, sondern Ahmed oder Dragica hießen („Antirassismus kann auch Spaß machen“). Außerdem auf dem Podium ist Mohamed Amjahid, der erstmals aus seinem Buch „Der weiße Fleck“ vorliest, das im März erscheinen wird.

Eindringlich berichtet Başay-Yıldız von der Arbeit mit den Angehörigen, die sie wegen des NSU-Prozesses frustriert als „Déjà-vu-Erlebnis“ bezeichnet. „Ich besuche die Familien oft zu Hause und brauche danach zwei Tage Zeit, um wieder zu mir zu kommen“, schildert sie, und von der Verzweiflung, Wut und Sinnlosigkeit, dass eine Person, die seit Jahren auffällig war, eine Waffenbesitzkarte haben durfte. „Was haben die bei der Waffenbehörde gemacht? Wer hat das entschieden?“ Und der nächste große Fehler in Hanau: „Die Polizeistation war unterbesetzt. Was heißt das überhaupt? Ich habe es nie im Leben für möglich gehalten, dass man die 110 anruft, eine Notrufnummer, und dort niemanden erreicht.“ Ebenso unverständlich: Die Angehörigen mussten die ganze Nacht warten, bis sie vom Tod ihrer Kinder und Geschwister erfuhren – und danach wurden sie mit diesem Schlag ohne psychologische Betreuung alleine gelassen. Seda Başay-Yıldız fordert Aufklärung. „Ich muss den Menschen Antworten geben. Was soll ich erklären? Was tut man dafür, dass sich das nicht wiederholt? Beim NSU wurde schon so viel versprochen.“

Während Başay-Yıldız mit den Opferfamilien arbeitet, beschäftigt sich Journalist und Anthropologe Mohamed Amjahid mit dem Selbstbild des Täters. „Wir, die wir auf der Bühne sitzen, und unsere Eltern wurden so oft analysiert“. „Deswegen habe ich das Verlangen, die Almans zu analysieren.“ Überrascht von Halle und Hanau sei er nicht, so Amjahid. „Die rassistischen und rechtsextremen Bilder speisen sich aus Medienbeiträgen, Pro-und-contra-Debatten und der mangelnden Aufarbeitung der deutschen Geschichte.“ Bekannt ist inzwischen, dass einer der in Hanau Ermordeten, Vili-Viorel Păun, dem Täter im Auto folgte und versuchte, ihn aufzuhalten. „Ich kann es nur vermuten“, sagt Mohamed Amjahid über die Motivation des jungen Mannes. „Aber viele von Rassismus betroffenen Menschen sind so sozialisiert, dass wir uns gegenseitig beschützen, weil wir kein Vertrauen in die Sicherheitsbehörden haben.“

Den Blick von Hanau weg auf die breitere Gesellschaft hebt Ferda Ataman, die den kürzlich viral gegangenen CDU-Werbespot, der von „Clankriminalität“ spricht und damit wieder rassistische Stereotype bedient, thematisiert. Das Problem ist aber nicht nur die CDU: „Es gibt in Deutschland keine Partei, die progressiv nach vorne geht und Migration positiv besetzt“, sagt sie, im Gegenteil: Der Migrations- und Integrationsdiskurs sei „verkorkst, angstbehaftet und nur ums Negative kreisend“. Besonders schockiert habe sie die Kontinuität, die Hanau bewiesen hat: Der Großvater von Filip Goman wurde von Nazis in Auschwitz ermordet, seine Tochter Mercedes Kierpacz in Hanau von einem Nazi. „Und dann wird sich in der WDR-Sendung lächerlich gemacht“, sagt sie mit Bezug auf die Diskussionsrunde „Die letzte Instanz“. „Wir haben in Deutschland nicht gelernt, Migration als Normalität zu betrachten.“

Auch der Begriff „Integration“ kommt zur Sprache. „Ich kann das Wort nicht mehr hören“, sagt Seda Başay-Yıldız. „Was soll man denn noch tun, um ein Teil dieser Gesellschaft zu sein? Ich habe alles getan. Und trotzdem bleibt man Migrant.“ Die Diskussion im WDR, geführt von fünf Menschen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, bezeichnet sie als „absurd“ und „an der Realität vorbei“. „Das macht mich sprachlos.“ Ebenfalls eine Kontinuität: Ferda Ataman erinnert an die Debatte um Sarrazin vor zehn Jahren. „Seine Aussagen als ‚rassistisch‘ zu bezeichnen war damals umstritten.“ Welche Relevanz Sprache hat, zeichnet Mohamed Amjahid eindringlich nach. Es fängt bei der Z*-Soße an und endet bei mordenden Nazis. „Das müssen die Menschen verstehen.“ Die Demonstrationen des vergangenen Sommers rund um Black Lives Matter haben in Deutschland vielleicht was bewegt. Er fragt aber: „Wo wart ihr nach Lübcke, nach Halle, nach Hanau?“

Moderatorin Idil Baydar bezeichnet Hanau als „Zäsur“. Sie könne bei der Mehrheitsbevölkerung nicht einschätzen, ob sie sich aus Ablehnung, Unbeholfenheit oder Angst nicht mit dem Rassismusdiskurs auseinandersetze. Wie sehr die deutsche Mehrheit Einfluss auf sie selbst hat, bringt Ferda Ataman auf den Punkt. „Wir haben diese Meldungen internalisiert. Auch ich habe, als ich von der Schießerei hörte, zunächst nicht mit einem rechtsextremen Anschlag gerechnet, sondern mit einer Auseinandersetzung in einem ‚problematischen Milieu‘.“

Mohamed Amjahid erzählt schließlich eine Anekdote aus seiner eigenen Familiengeschichte. Seine Mutter wurde in den achtziger Jahren in einer Frankfurter S-Bahn von einem Nazi ins Gesicht geschlagen. Als sie daraufhin zur Polizei ging, lachte man sie dort nur aus. „Das sind Geschichten, mit denen viele migrantisierte Menschen aufwachsen.“ Auch er verweist auf die Rolle der CDU: „Ich wünschte, unser einziges Problem wäre die AfD. Aber die Pushbacks im Mittelmeer, das ist Angela Merkel.“

Was also tun? Seda Başay-Yıldız sagt, dass sie sich persönlich damals über Zuschriften und aufmunternde Worte gefreut habe. „Man kann schon einiges machen, aber man muss dazu bereit sein und erkennen, dass die Leute das brauchen.“ Und aus der Sicht der Opfer und ihrer Angehörigen erinnert sie, dass diese traumatisiert sind, potentiell nicht mehr arbeiten können und nicht genug oder gar keine Hilfe von Entscheidungsträgern bekommen und die Hilfe nur mit viel Aufwand und Bürokratie beantragen können, die unbedingt vereinfacht werden müsse. Fern des Festivals: Es gibt eine Petition, die genau das fordert, und die wir alle unterschreiben können: „Hessen braucht jetzt einen Rechtsterrorismus-Opferfonds!

 

„Sichtbarkeiten“ mit Alice Hasters und Michel Abdollahi, moderiert von Hadija Haruna-Oelker

Der Abend des 19. Februars dreht sich um die Frage, welche Bedeutung Sichtbarkeit hat. Im Gespräch mit Hadija Haruna-Oelker hat die Journalistin und Podcasterin Alice Hasters ihr Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ und Künstler und Autor Michel Abdollahi sein Buch „Deutschland schafft mich“ dabei. Er liest eine Auswahl an Angriffen mit islamfeindlichen Motiven aus dem Jahr 2019 vor, und sagt das Gleiche wie Mohamed Amjahid am Vorabend. Überrascht habe ihn Hanau nicht. „Ich kann nicht mehr“, sagt er. „Wann soll sich etwas verändern?“

Alice Hasters stimmt ihm zu. „Man weiß genug, um Dinge verändern zu können.“ Die Ausrede Unwissenheit zieht nicht mehr. Sie spricht den Angehörigen der Ermordeten von Hanau ihren  Dank aus, weil durch ihre Arbeit und Leistung Sichtbarkeit erzeugt wird, obwohl sie sehr gut verstehen könne, wenn Menschen nicht die Kraft hätten, mit den Medien zu sprechen. Stichwort Medien: Michel Abdollahi setzt Hoffnung in die jüngere Generation, das Problem aber sei, dass die ältere Generation immer noch am Hebel sitze. Der Anschlag auf den Breitscheidplatz sei eingehend analysiert worden, aber wie stehe es um Hanau? Wie viele Leitartikel von Weißen habe es da gegeben?. Abdollahi erinnert daran: „Seehofers allererste Amtshandlung war zu sagen, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Das macht etwas mit den Menschen, die aussehen wie er.“

Mit Blick auf die Medien kritisiert Alice Hasters, dass  Meinungsfreiheit oft falsch verstanden werde und man „alle Seiten“ abbilden wolle. „Wenn jemand sagt, Rassismus sei ein Problem, ‚muss‘ auch jemand sagen, dass Rassismus kein Problem darstelle. Das degradiert Rassismus zu einer Meinung und tut so, als sei das Interpretationssache.“ Leute hätten das Gefühl, sie wären schon links, wenn sie anerkennen, dass Rassismus ein Problem ist. Trotzdem findet sie auch positive Worte, was die Berichterstattung nach Hanau angeht. „Ich glaube, einen Unterschied zu sehen, viele Angehörige sind viel zu Wort gekommen, wie ich es vorher nie wahrgenommen habe. Das liegt aber hauptsächlich an der Initiative 19. Februar.“ 

Beide, Michel Abdollahi und Alice Hasters, finden die Vorstellung absurd, migrantisierte Menschen müssten dankbar sein, weil Weiße die Deutungshoheit für sich beanspruchen. Abdollahi spricht über das Label „Vorzeigemigrant“: „Ich müsste auch das Recht haben, als Migrant ein Arschloch sein zu dürfen, weil das die anderen auch haben. Aber wenn ich mich danebenbenehme, benehmen sich 1,5 Milliarde Muslime daneben.“

Danach geht es um Terminologie, über die sich Alice Hasters nach Hanau viel Gedanken gemacht hat, insbesondere um den Unterschied zwischen Rassifizierung und Migrantisierung. „Nach Hanau war oft von einem ‚antimuslimischen Rassismus‘ die Rede, aber das passte nicht ganz, weil nicht alle Muslim:innen waren.“ Mit Bezug auf Idil Baydar, bei der sie den Begriff „migrantisiert“ hörte, sagt Hasters: „Migrantisierung macht das, was Rassismus auch macht, es ist ein Herabsetzen, Ausschließen und Andersmachen, funktioniert aber mit anderen Kriterien, über den Namen, die Herkunft.“ Sie nennt ihre eigene Biografie als Beispiel. „Ich bin nur teilweise betroffen, weil meine Mutter US-Amerikanerin ist. Die Reaktion, die ich darauf bekomme, lautet oft: ach so!“ Hasters erfährt Rassismus, fällt aber aus der Migrantisierung raus.

Zum Abschluss dieses Abends fragt Hadija Haruna-Oelker, was für Tipps sie für Weißdeutsche hätten. Sichtbar machen, rät Abdollahi, Beiträge liken, teilen. Und Hasters betont, dass man sich mit dem Diskurs nicht nur beschäftigen, sondern auch dranbleiben müsse, und Leute aktiv unterstützen könne, die darin schon besser sind. „Initiativen finanziell zu unterstützen, ist nicht banal, sondern ein effizienter Weg, um zu helfen und antirassistisch zu sein. Geld verändert etwas.“ Und da wir uns im Wahljahr befinden: wählen gehen!

 

„Schreiben im Hier – Hanau“ mit Deniz Utlu und Hengameh Yaghoobifarah, moderiert von Miryam Schellbach

Für die erste Veranstaltung am Festivalsamstag ist das Literaturhaus zu Gast im Kulturforum Hanau. Deniz Utlu, Autor der Romane „Die Ungehaltenen” und „Gegen Morgen”, und Hengameh Yaghoobifarah, Kolumnist*in und Autor*in eines frisch veröffentlichten Debütromans, sprechen mit der Journalistin Miryam Schellbach über die Frage, was „Schreiben im Hier“, so das Motto der Veranstaltung, bedeutet. Während Yaghoobifarah das „Wir“ als flexibel und nicht so leicht greifbar empfindet, sei das „Hier“ in Deutschland „post-nationalsozialistisch, post-kolonial und post Hanau.“ Hanau habe Yaghoobifarah während des Schreibens an „Ministerium der Träume“ erlebt, außerdem habe Yaghoobifarah schon vor der taz-Kolumne „All cops are berufsunfähig“, die einen Skandal ausgelöst hatte, Morddrohungen erhalten. „Da ist es schwierig, meine Realität von der meiner Figuren abzugrenzen.“ 

Es wird aus den Romanen vorgelesen, dann diskutiert die Runde an diesem Nachmittag über den Begriff „politische Literatur“. Ist dies ein Widerspruch zu „ästhetischen“ Romanen? „Eine Trennung würde bedeuten, Wirklichkeiten auszublenden“, sagt Hengameh Yaghoobifarah. „Inwiefern ist es im Interesse einer Literaturwelt, die Welt nicht so, wie sie ist, darzustellen, sondern in ihrer Komplexität herunterzubrechen und auf unnötige Art zu verfremden?“ Yaghoobifarah bedient sich zwecks Veranschaulichung des Arguments einer Metapher: „Das ist, als würde man einen Körper aufmachen und essentielle Dinge wie das Herz herausnehmen und dann erwarten, dass er genauso weiterfunktioniert.“ Auch Deniz Utlu plädiert für politische Themen in Literatur: „Immer da, wo man das Gefühl hat, wegsehen zu müssen, weil es zu sehr schmerzt, muss man noch mehr hinschauen und den Blick noch schärfer darauf richten.“

Während die Protagonistin in Yaghoobifarahs Roman klar markiert ist (sie flieht in den achtziger Jahren während des Ersten Golfkriegs und lebt zunächst in Lübeck in einem Asylheim, erfährt Ausgrenzung in Form von Klasse und Herkunft), sind Zuschreibungen bei Utlus Figuren offener. Ihn habe interessiert, sagt der Autor, sich weg von exemplarischen Begriffen und hin zu konkreten Alltagserfahrungen zu bewegen. Seiner eigenen Lebensrealität entspräche es nicht, permanent über die eigene Marginalisierung nachzudenken. Gerade bei Protagonist Kara lasse er den  Background bewusst offen. „Ich möchte den Leser:innen die Fähigkeit zumuten, sich mit ihm zu identifizieren, auch wenn der Hintergrund nicht bekannt ist.“ Auch wenn das in „Ministerium der Träume” anders sei, hält Yaghoobifarah fest, dass das Identifikation auch in ihrem Roman möglich ist, denn: „Verlust und Liebe sind universell und nicht mit Identität verknüpft.“

Zum Abschluss fragt Miryam Schellbach nach den Schilderungen rassistischer Gewalt in beiden Büchern. Hengameh Yaghoobifarah verrät, dass viele der Beleidigungen im Roman aus Kommentarspalten stammen und teilweise gegen Yaghoobifarah gerichtet waren. Körperliche Gewalt wird aber nicht beschrieben, um die Lektüre nicht retraumatisierend zu gestalten. Auch Deniz Utlu hat sich Gedanken darüber gemacht, wie er die Gewalt darstellen soll. „Ich habe beim Schreibprozess geschaut, ob es möglich ist ohne, aber festgestellt, dass Gewalt in der DNA des Texts ist. Deswegen durfte ich diese Bilder nicht weglassen.“

 

„Schreiben im Hier“ mit Fatma Aydemir, Max Czollek und Ronya Othmann, moderiert von Miryam Schellbach und Deniz Utlu

Von Hanau nach Frankfurt: Miryam Schellbach und Deniz Utlu springen bei der Abschlussveranstaltung im Literaturhaus spontan für den eigentlich vorgesehenen Moderator Senthuran Varatharajah ein, der kurzfristig verhindert ist. Sie sprechen mit den beiden Autorinnen Fatma Aydemir („Ellbogen“, „Eure Heimat ist unser Albtraum“) und Ronya Othmann („Die Sommer“) und dem Lyriker und Essayist Max Czollek („Desintegriert euch!“, „Gegenwartsbewältigung“) über das Thema dieses Samstags, „Schreiben im Hier“.

Czollek denkt zu Beginn über den Begriff „Solidarität“ nach. Ein im politischen Raum nicht per se guter Begriff, wie er erinnert: „schließlich kann das auch als völkische Solidarität funktionieren“. Die Frage sei immer, wer zu diesem „Wir“ gehöre. In dieser sich ändernden Gesellschaft sei außerdem wichtig, die „radikale Vielfalt“ nicht immer nur als Bewegung der Minderheiten zur Dominanzkultur zu begreifen, sondern auch als eine Geschichte dessen, wie Minderheiten anders blieben, auf dieser Andersheit beharrten und dafür Literatur verwendeten.

Danach bekommen wir einen ersten Einblick in den neuen Roman von Fatma Aydemir, von dem sie hofft, ihn im Somme beenden zu können. Er erzählt von den Angehörigen Hüseyins, der zu Beginn des Textes stirbt und auf dessen Beerdigung sie aufeinandertreffen und jede Figur jeweils ein eigenes Kapitel bekommt. „Die Frage, die mich beschäftigt, ist, wie wir unsere Herkunftsgeschichten konstruieren und dekonstruieren“, sagt Aydemir. „Wo tun sich Lücken auf?“ Das fragt auch Miryam Schellbach, die eine Schieflage in der öffentlichen Beschreibung von Geschichten konstatiert, die als „Gastarbeiter-“ oder „Betroffenheitsliteratur“ bezeichnet und somit auf einen Erzählstrang, ein Motiv reduziert wurden. 

Max Czollek, der das mit Blick auf den literarischen Kanon und das kulturelle Archiv ähnlich sieht, erkennt darin ein Kulturverständnis, das der Realität hinterherhinkt, weil die Kultur selbst schon sehr viel weiter sei – schließlich wäre diese nicht denkbar ohne den Einfluss von Migration. Er benennt ein Beispiel: Berlins Bürgermeister Michael Müller bezeichnete das Gorki-Theater als „Migrantenstadl“, womit er es als ein Theater der Nische einordnete. „Dabei liefert das Theater wichtige Impulse“, so Czollek. Gegen diesen Blick gelte es anzuarbeiten. Aber was bedeutet es, dazuzugehören? „Ich will gar nicht Teil des Mainstreams sein, zu dem gehören, was unter Kultur verstanden ist“, sagt Fatma Aydemir. „Ich will Widerstand praktizieren mit dem, was ich schreibe.“

„Wir sind in großen Verlagen und somit Teil des Mainstreams“, gibt Ronya Othmann zu bedenken. Aber sie merkt an: „Es gibt trotzdem einen Gap.“ Diesen Gap in der kulturellen Öffentlichkeit  illustriert Fatma Aydemir durch eine Anekdote: Sie und Ronya Othmann waren für das gleiche Podium angefragt, Othmann wurde aber wieder ausgeladen, als Aydemir zustimmte – dadurch sei diese Perspektive ja bereits vertreten. „Wir müssen darauf achten, dass wir nicht gegeneinander ausgespielt werden“, mahnt Aydemir. „Das passiert immer wieder, dass wir als Token gelten und dadurch der Weg versperrt wird für andere Leute. Dabei sind unsere Perspektiven nicht identisch.“ Man müsse solidarisch sein; es sei allerdings gar nicht so leicht, das Spiel um Aufmerksamkeitsökonomie zu durchschauen. „Nach Identitäten aufteilen ist gefährlich“, stimmt Othmann zu, die sich andere Kriterien wünscht: Sprache, Stil, Form. „Die Literatur soll beurteilt werden.“

Abgerundet wird der Abend und somit das Festival mit einem Zusammenschnitt der besten Performances des Comedian Benaissa Lamroubal. Vier unterschiedliche Veranstaltungen und viele ganz unterschiedliche Autor:innen und Publizist:innen hat „Wir sind hier“ vereint und damit die große Vielfalt an Stimmen, die es im deutschsprachigen Raum gibt, gezeigt. Ein wichtiges Festival anlässlich eines erschütternden Jahrestags. Das letzte Wort dieses Berichts soll Idil Baydar gebühren, die die erste Veranstaltung mit den Worten beendete, die für das gesamte Festival und alle solidarischen Menschen gilt: „Wir sind hier – und ihr seid es auch.“

 

Photo by Nicola Fioravanti on Unsplash

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