von Barbara Peveling
Die Coronakrise ist, so Angela Merkel, die größte Herausforderung für Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg. Mittlerweile dauert die Pandemie über ein Jahr und es ist deutlich geworden, dass durch ihre Auswirkungen ein sozialer Backlash ausgelöst wurde. Frauen sehen sich, vor allem durch die Schließung von Schulen und Betreuungseinrichtungen, wieder in alte Rollenmuster gezwungen, und damit auf gesellschaftliche Plätze zurückversetzt, die sie eigentlich schon längst hinter sich lassen wollten. Der soziale Druck ist hoch und lastet unvermittelt wieder auf den Schultern der Frauen.
Wie haben Frauen die von ihnen erwartete Balance zwischen Kinder und Karriere in früheren Krisenzeiten gemeistert? Wie ist es zum Beispiel Schriftstellerinnen ergangen? Anna Seghers (1900-1983) hatte zwei Kinder. Sie musste in den 1930er Jahren mit ihrer Familie aus Deutschland emigrieren, alles hinter sich lassen, ein neues Leben aufbauen und hat trotzdem weitergeschrieben. Ihre Romane gehören zu den wichtigsten literarischen Zeitzeugen des zweiten Weltkriegs.
In Frankreich hatte Anna Seghers mit ihrer Familie vorübergehend eine neue Heimat gefunden. In dieser Zeit des Transits, der Unsicherheit, des Krieges, begann sie ihren Roman Das siebte Kreuz zu schreiben. Es war der erste Roman, der Konzentrationslager thematisierte, mit ihm wurde sie weltberühmt. Wie hat sie in der ihr von der Gesellschaft zugedachten Rolle als Hausfrau und Mutter überhaupt Zeit zum Schreiben gefunden? Anna Seghers notierte zur Aufgabe der Frau in krisenhaften Zeiten:
Die Frau… wird vor den ungewöhnlichsten Augenblick gestellt…. Sie reißt das Fenster auf. Sie hat Nähzeug zur Hand und näht rasch einen Knopf fest. Sie beschnuppert das Bettzeug. Der Mann schimpft wohl über all das Gehabe, doch ist er plötzlich erleichtert. Der furchtbarste Augenblick des gemeinsamen Lebens wird dadurch gezähmt und gebändigt. Geht diese Kraft der Frau ab, dann ist es schwerer für die Familie…
Mit ihren Worten beschwört Anna Seghers den Engel im Haus, diese weibliche Rollenzuschreibung für Sorgearbeit, gegen die sich Feministinnen seit Virginia Woolf zur Wehr setzen. Sorge- und Pflegearbeit hat auch Anna Seghers sehr wohl gekannt und doch Zeit gefunden, um zu schreiben. Anna Seghers verbrachte viel Zeit in Cafés, dort schrieb sie und traf andere SchriftstellerInnen in Paris. Ihre Kinder wurden derweil von einer anderen Frau betreut, einer Kinderfrau.
Eine Kinderfrau bedeutet ausgelagerte Sorgearbeit. Während die Wahrnehmung der Sorgetätigkeit als Arbeit im öffentlichen Bewusstsein relativ neu ist, sind es die Strategien, um mit dieser umzugehen, nicht. Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun erzählt in ihrer persönlichen und politischen Geschichte Geschlecht, wie sehr sie unter dem Blick der Gesellschaft gelitten hat, als sie aus Frankreich in den 1980er Jahren nach Deutschland zurückkam und ihre Kinder weiter von einer Kinderfrau betreuen lies.
„Ich weiß nicht“, schreibt Christina von Braun, „ob diese Beziehung die Bezeichnung Ausbeutung verdient. Genau damit wurde ich aber nach unserem Umzug nach Deutschland konfrontiert. Anders als in Frankreich wurde unsere Familienkonstruktion mit ihren „zwei Müttern“ heftigen Anfeindungen ausgesetzt.“ Der Vorwurf, eine andere Frau auszubeuten, wurde ihr gemacht, moniert sie, nicht dem Mann. Als würde die Kinderbeziehung nur sie, und nicht den Vater betreffen. Als müsste allein sie sich dafür rechtfertigen, sich mit zwei Kindern Zeit für ihren Beruf als Wissenschaftlerin und Autorin zu verschaffen, nicht aber ihr Mann.
Damit Mütter Karriere machen können, wird die Care-Arbeit oft an Frauen aus anderen Klassen oder geographischen Regionen, weitergegeben. In vielen Fällen müssen Frauen für bezahlte Sorgearbeit ihre eigene Familie zurückstellen, um sich um die anderer zu kümmern. Die rumänische Autorin Lavinia Braniste hat in ihrem Roman Null Komma Irgendwas von der emotionalen Zerreißprobe in Familien erzählt, deren Mitglieder zum wirtschaftlichen Überleben geographisch weit voneinander entfernt leben müssen.
Katharina Schulz war die Frau, die sich um Anna Seghers Kinder kümmerte, sie ist keine Unbekannte geblieben, nicht namenlos im Lauf der Zeit verschwunden. In Zeitungsartikeln und Biographien über Anna Seghers wird auch ihr Name immer wieder erwähnt. Bis die Familie von Frankreich nach Mexiko auswanderte, blieb sie, hütete die Kinder und stütze Anna Seghers, als ihr Mann interniert wurde. Mit ihrer Hilfe schaffte die Autorin den Spagat zwischen Sorgen und Schreiben. Katharina Schulz war der Engel im Haus.
Bis heute scheint sich nicht viel geändert zu haben. Care-Arbeit wird weiter zum größten Teil von Frauen gestemmt. Unter dem Hashtag #CoronaElternRechnenAb machten Frauen auf ihre schwierige Situation während des Lockdowns aufmerksam. Während Unternehmen von der Regierung unterstützt werden, müssen Eltern ohne Hilfe zwischen Homeschooling und Homeoffice jonglieren. Die Autorin Patricia Cammatara hat in der Coronakrise eine Rechnung von über 22 296 € an das Familienministerium gestellt.
Es geht um das Wohl der Kinder, aber genauso um das der Frau. Über „das Unwohlsein der modernen Mutter“ schreibt Mareice Kaiser und fordert, dass die Zuständigkeit für Care-Arbeit nicht weiter am Geschlecht festgemacht werden darf. Bemuttern, ist eine empathische Handlung, für die es ein neues, geschlechterunabhängiges Wort braucht. Das sogenannte Attachement Parenting – die Sorge, die mit körperlicher Nähe einhergeht – sollte nicht mehr abhängig davon sein, dass die Mutter allein für das Wohlergehen des Kindes zuständig ist.
Die französische Feministin Titiou Lecoq wurde wegen Kindesmissbrauch angezeigt, als sie öffentlich machte, dass ihr Kind einen Trommelfellriss erlitt, weil es zu spät zum Kinderarzt kam. Sie wurde angeprangert, nicht der Kindsvater. Lecoq rechtfertigt sich damit, dass sie nicht an der Reihe war. Sie blieb hart. Hart gegenüber ihrem Partner, dem Kind und vor allem sich selbst. Solange es in der Mehrheit Frauen sind, die die Wischlappen schwingen, den Familienalltag organisieren, durchplanen, mentalload tragen, wird es keine Gleichberechtigung geben. Folglich kann ausgelagerte Care- und Hausarbeit auch keine Lösung sein, solange diese zum Großteil an Frauen weitergegeben wird. Dabei ist nicht das Auslagern an sich das Problem, sondern, dass diese Aufgaben an eine von Geburt bestimmte Geschlechterzugehörigkeit, Herkunft, ein geringes Gehalt, einen schlechten Sozialstatus gebunden sind. Titiou Lecoq rät Frauen dazu, den Kampf um Teilhabe im Haushalt als etwas Befreiendes zu erleben, nicht aufzugeben und weiter, um jede Socke zu kämpfen, die vom Boden aufgehoben werden muss.
„Der Kampf ist ohne Ende. Aber warum nicht? Es ist immerhin der Kampf.“ So Annie Ernaux. In Deutschland gibt es historisch mit manchen Begriffen Schwierigkeiten. Kampf ist einer davon. Ausganssperre eine andere. Sperrstunde war ein politisches Mittel der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Auch in Frankreich ist diese Maßnahme im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung mit einer traumatischen Erfahrung verknüpft: Die deutschen Besatzer setzten dort 1941 eine Ausgangssperre ein, um die Zusammenkünfte von Widerstandskämpfern zu verhindern. Trotzdem wählte die französische Regierung mit der zweiten Welle eine strenge nationale Ausgangssperre ab 18 Uhr als politische Strategie, um erneute Schließungen von Schulen und Betreuungseinrichtungen zu verhindern.
Solange die Kindererziehung Domäne der Mütter bleibt, werden Frauen zu Zaungästen im Karrierespiel, so Barbara Vinken in ihrem Buch Die deutsche Mutter. Wenn auf der einen Seite der Waagschale das Wohl der Frau auf der anderen Seite das Wohl des Kindes liegt, dann kann es kein Gleichgewicht, keine Gleichstellung und keine nachhaltige soziale Lösung geben.
Der Staat hat einen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Indem Kitas, Kindergärten und Schulen schließen, wird dieser Auftrag an Familien, vornehmlich an Frauen, abgegeben. Auch das Eingreifen der Regierung in Bildungskonzepte bei Krisenzeiten hängt mit einem weiteren historischen Tabu zusammen: Aufgrund der massiven Einmischung des NS-Staates in die Erziehung von Kindern und Jugendlichen, wurde diese allgemein in das Familienleben zurückgedrängt. Anders in Frankreich, wo die kollektive Erziehung, die Bildung der Nation garantieren soll. Die éducation nationale, wie das französische Bildungssystem genannt wird, ist ein bürokratischer Apparat, der oft statisch, unflexibel, trocken wirkt. Trotzdem wird dieses System von einem elementaren Grundsatz getragen, für den es sich zu kämpfen lohnt, auch in Krisenzeiten. Rachid Zerrouki, der als Lehrer in einer sogenannten Problemzone in Marseille arbeitet, schreibt in seinem Buch Les Incasables von dem Versprechen, dessen Träger die staatlichen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen einer Republik ist. Damit bezieht er sich auf den Gleichheitssatz, der auch Grundlage der deutschen Verfassung ist. Das Recht, die gleichen Chancen zu haben, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, ist nicht mehr gegeben, wenn der Zugang zu Erziehung und Bildung abhängig von der Verfügbarkeit einer, meist weiblichen, Person im Haushalt, der entsprechenden technischen Ausstattung und genügend Raum in den eigenen vier Wänden ist. Dieses der Demokratie inhärente Versprechen, die gleichen Rechte und Chancen für alle Menschen zu bieten, sollte der Kompass politischer Entscheidungen in Krisenzeiten sein.
Das Wohlergehen von Mutter und Kind dürfen nicht zwei Gleichungen sein, die sich gegenseitig aufheben. In seinem mit dem Prix Goncourt gekrönten Roman, schreibt Roman Gary über die Mutterliebe als ein frühes Versprechen. Er nennt es ein unerfüllbares Versprechen. Solange dieses Versprechen an die Selbstaufopferung einer einzelnen Person gebunden ist, existiert eine gesellschaftliche Sackgasse. Mutterliebe ist ein Wort, dessen Sinn und Inhalt wir mit Chancengleichheit ersetzen sollten, vor allem in Krisenzeiten.
Barbara Peveling ist promovierte Anthropologin. Zuletzt gab sie mit Nikola Richter 2021 die Anthologie Kinderkriegen in der Edition Nautilus heraus.
Das Essay erscheint im Rahmen zweier Online-Veranstaltungen der Bibliothek Witten unter dem Motto Feminismus 2.21:
„Es geht nur gemeinsam!“ – Ein digitaler Vortrag und Diskussion zum aktuellen Buch von Soziologin Jutta Allmendinger
08.06. ab 18:00 Uhr
Anmeldung per Mail: Rabea.kammler@stadt-witten.de
,,Wer hat Angst vorm Feminismus“- Ein digitaler Vortrag und Diskussion zum aktuellen Buch von Charlotte Hilkje Hänel
29.06. ab 18:00 Uhr
Anmeldung per Mail: melanie.duwe@stadt-witten.de
Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen von Demokratie Leben
Mehr Informationen unter: https://www.kulturforum-witten.de/bibliothek/veranstaltungskalender/