von Isabella Caldart
Die Champagnerkorken knallen im ganzen Land. Es ist der 20. November 1975, und gerade wurden im Fernsehen die drei Wörter gesagt, auf die viele Spanier*innen seit Monaten, ja, Jahren gewartet hatten: Franco ha muerto. Der Diktator Francisco Franco, der seit dem Ende des Bürgerkriegs 1939 geherrscht hatte, war endlich gestorben. Kaum war die erste Euphorie verebbt, stellte sich aber die große Frage: Was nun?
Ohne allzu ausführlich auf die spanische Politik der 1970er Jahre einzugehen, sei knapp zusammengefasst, dass die baskische Terrororganisation ETA zwei Jahre vor Francos Tod den Vize-Regierungschef Luis Carrero Blanco, Vertrauter Francos und potentieller Nachfolger, in Madrid ermordet hatte. Pro forma hatte Franco bereits 1969 König Juan Carlos die Rolle als Nachfolger erteilt, der diese schließlich nach Francos Tod übernahm. Juan Carlos entschied sich dafür, das Land von der Diktatur in eine parlamentarische Demokratie und konstitutionelle Monarchie überzuleiten – Transición wird dieser mehrere Jahre dauernde Prozess genannt. Deswegen gilt Juan Carlos häufig als Vater der Demokratie. Ein Trugschluss, wie der Autor Javier Cercas in seinem Buch Anatomie eines Augenblicks sagt, in dem er einen gescheiterten Militärputsch vom 23. Februar 1981 minutiös schildert:
„[…] das Projekt des Königs sah nicht etwa deshalb eine Art von Demokratie vor, weil er den Franquismus ablehnte oder es eilig hatte, sich der Macht zu entledigen, die er von Franco geerbt hatte, oder gar die Demokratie als Allheilmittel betrachtete – er glaubte vielmehr an die Monarchie und war der Meinung, einzig und allein eine Demokratie könne es der Monarchie zu diesem Zeitpunkt ermöglichen, in Spanien Wurzeln zu schlagen.“
Von der Diktatur zur Movida
Nicht nur politisch und gesellschaftlich, auch kulturell fand Ende der 1970er, Anfang der 1980er ein großer Umbruch statt; schnell kristallisierte sich Madrid als künstlerisches Zentrum des Landes heraus. Die junge, queere und (gegen-)kulturelle Bewegung dort wurde Movida Madrileña genannt, die Madrider Bewegung, die auch den Regisseur Pedro Almodóvar hervorbrachte. Bald verbreitete sich die Movida auch in weiteren Städten Spaniens, darunter Barcelona, Valencia, Málaga, Bilbao und Vigo. In einigen Regionen entwickelten sich aber auch eigene kulturelle Strömungen, darunter der Rock Radikal Vasco im Baskenland, eine punkige, teilweise dem Unabhängigkeitskampf nahestehende Untergrundbewegung, oder in Valencia etwas später die Ruta del Bakalao (auch als Ruta Destroy bekannt), in der Clubbing im Fokus stand.
Vorläufer der Movida Madrileña war nicht nur die allgemeine Aufbruchsstimmung im ganzen Land nach dem Tod des Diktators. Auch neue Gesetze, durch die etwa 1978 die Homosexualität und der Verkauf von Verhütungsmitteln entkriminalisiert wurden und eine damit einhergehende sexuelle Befreiung, waren für diese Stimmung relevant, ebenso wie ein Erwachen des Feminismus und die zunehmende Säkularisierung einer liberaleren Gesellschaft.
Anders als bei vielen anderen Subkulturen lässt sich der Tag, an dem der musikalische Teil der Movida Madrileña seinen Anfang nahm, recht eindeutig bestimmen: Am 09. Februar 1980 wurde in Madrid ein Hommage-Konzert für Canito veranstaltet. Der 20-jährige Schlagzeuger und Sänger der Band Tos war einige Wochen zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bei dem Konzert, das mehr als acht Stunden dauerte, traten die wichtigsten Bands der Movida Madrileña auf. Viele von ihnen sind noch heute in Spanien bekannt, darunter Nacha Pop, Alaska sowie die Band Los Secretos, zu der sich die ehemaligen Bandmitglieder von Canito neu zusammenfanden.
Kitsch, Punk und Politik
Auch wenn die Initiation der Movida eine musikalische war, war sie künstlerisch allumfassend und reichte in alle Bereiche der Kultur – Film, Radio, Theater, Fanzines, Mode. In der Musik dominierten die Genres Pop, Rock und Punk, letzteres vor allem beeinflusst durch den englischen Punk, der ab Ende der 1970er auch nach Spanien schwappte. Viele der Künstler*innen jener Zeit sind innerhalb Spaniens noch ein Begriff, international ist heute primär Pedro Almodóvar bekannt.
Der Regisseur, 1949 geboren, wuchs in der spanischen Provinz auf, bis er im Alter von 18 Jahren nach Madrid zog, wo er seinen ersten Film drehte, zu dem er auch das Drehbuch geschrieben hatte: Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande von 1980 erzählt von der Frühzeit der Movida, wie auch sein zweiter Film Labyrinth der Leidenschaften (1982) und weitere, die zwar nicht direkt in der Szene spielen, aber davon inspiriert sind. Das spiegelt sich vor allem in Almodóvars Themen: Frauen und queere Personen in Hauptrollen, oft trans Frauen und Drag Queens, Leidenschaft, Mutterschaft, dramatisch, aber auch mit Humor, die rote Farbe dominiert, es gibt expliziten Sex, alles ist sehr campy, kitschig, überbordend. Das Gegenteil also von dem, was die bleierne Zeit der Diktatur gebot.
Viel wurde darüber diskutiert, ob die Movida auch eine politische oder „nur“ eine kulturelle, hedonistische Bewegung war – am Ende stimmt wahrscheinlich beides. Auch wenn die Movivda nicht per se politische Ziele verfolgte oder eine Ideologie vertrat, ist allein die Tatsache, dass die Menschen nach den bitteren Jahrzehnten der Diktatur endlich frei waren und diese Freiheit in jeder Hinsicht auslebten, im Kern schon politisch. Teilweise gab es auch parteipolitischen Support für die Szene. Allerdings: Im Zuge der Transición war von sämtlichen politischen Parteien ein „Pakt des Vergessens“ gebilligt worden, woraus das uneingeschränkte Amnestiegesetz von 1977 resultierte. Das machte es dem Land unmöglich, sich politisch von den verkrusteten Diktaturstrukturen zu befreien.
Die Movida sollte gerade wegen dieser Probleme Spaniens, die Vergangenheit wirklich hinter sich zu lassen, dabei helfen, das Image des Landes aufzupolieren. Allen voran Enrique Tierno Galván, von 1979 bis 1986 der Bürgermeister Madrids, und Felipe González, der von 1982 bis 1996 Spaniens Ministerpräsident war, benutzten die Movida, um Spanien international als weltoffenes und modernes Land zu präsentieren – eine politische Aneignung, die dem größtenteils apolitischen Hedonismus der Bewegung zuwiderlief. Auch medial wurde entsprechend vor allem die positive Seite der Movida vermittelt und nicht etwa der Drogenkonsum, der schon bald drohte, die ganze Bewegung zu zerstören.
Die Movida Madrileña lebt weiter
In Deutschland ist diese wichtige kulturelle Strömung Spaniens erstaunlich wenig bekannt. Im Frühjahr sind aber zeitgleich zwei Bücher erschienen, die die Movida Madrileña zwar nicht direkt thematisieren, ihren Geist aber zweifelsfrei in sich tragen: Der Erzählband Der letzte Traum von Pedro Almodóvar (S. Fischer Verlag) und der teils autofiktionale Debütroman der trans Autorin Alana S. Portero, Die schlechte Gewohnheit (Claassen Verlag).
Über seinen Erzählband sagt Almodóvar, er habe nie eine Autobiografie schreiben wollen,, dieses Buch käme einer „fragmentierten, unvollständigen und etwas kryptischen“ Autobiografie aber denkbar nahe – so unterschiedlich die Erzählungen hinsichtlich Themen und Setting sind, so sehr erkennt man einzelne biografische Eckpunkte und vor allem Sujets seiner Filme wieder. Sehr deutlich ist das gleich beim ersten Text „Der Besuch“, aus dem 2004 der Film Schlechte Erziehung (im Original: La mala educación) mit Gael García Bernal in der Hauptrolle wurde. Porteros Roman wiederum trägt im spanischen Original einen Titel, der vielleicht nicht ganz zufällig an Almodóvars Film angelehnt ist: La mala costumbre.
Auch wenn bei Almodóvar, ebenso wie bei Portero, die Movida namentlich nur ein einziges Mal und nur im Nebensatz erwähnt wird (immerhin heißt es im Vorwort, dass das „hemmungslose Madrider Nachtleben von 1977 bis 1990“ eine seiner wichtigsten Inspirationen war), sind seine Storys wie auch seine Filme durchzogen von Movida-Motiven: Nicht nur die queeren Figuren, auch weibliche Selbstermächtigung und die Kritik an der spanischen Institution schlechthin, der katholischen Kirche, gehören in Der letzte Traum zu seinen zentralen Themen.
Die 1978 im Madrider Arbeiterviertel San Blas geborene Alana S. Portero wiederum ist zu jung, um die Movida miterlebt zu haben; trotzdem ist sie ein Kind dieser Bewegung und ihrer Freiheiten. Poteros Roman erzählt nicht nur von der Ich-Werdung einer trans Frau, mindestens genauso wichtig ist das Leben in der Peripherie, ihr Aufwachsen in den 1980ern in San Blas, wo Armut, Gewalt und Drogen herrschen. Die schlechte Gewohnheit macht deutlich: Die Movida und ähnliche kulturelle Bewegungen finden in den Arbeitervierteln kaum statt, wo die Menschen vor allem damit beschäftigt sind, über die Runden zu kommen. Am Ende sind diese und andere kulturellen Bewegungen immer auch bürgerliche Strömungen.
Für die Erzählerin spielt die Movida entsprechend nur am Rand eine Rolle. Aber die Befreiung, die die Generation zuvor erkämpft hat, gilt natürlich umso mehr für Nachgeborene: Dass Chueca (im Zentrum der Stadt) seit jener Zeit als das queere Viertel Madrids gilt, ist eine Errungenschaft der Movida, von der auch Porteros Protagonistin profitiert. Sie erfährt dort in der Kneipenszene zum ersten Mal, wie es ist, sich nicht verstecken zu müssen: „Wir hatten uns einander gegenübergesetzt und streckten die Arme auf dem Tisch aus, bis sich unsere Hände ineinanderflochten. Nur wer weiß, wie es sich anfühlt, den öffentlichen Raum zu fürchten oder sich dafür zu schämen, ihn zu besetzen, kann verstehen, was in diesem Moment in mir vorging“, heißt es über den ersten Cafébesuch in Chueca. Und: „Viele Jahre später kapierte ich, dass meine schwule Jugend zwar eingeschränkt und düster war, wir aber doch Spielraum hatten, den die Generation von [Kellner] Antonio, der nach meiner Schätzung Anfang vierzig war, vermisst hatte.“
Heroin und HIV
So paradiesisch das klingt, so schnell kam das Ende der Movida Madrileña. Recht früh schlichen sich dunkle Seiten in diese fröhliche Bewegung. Der Drogenkonsum wurde massiver, und Partydrogen wichen immer mehr dem Heroin. In Spanien war der Heroinkonsum bedeutend größer als in den meisten anderen europäischen Ländern. Bereits 1979 berichtete die Zeitung El País, dass es allein in Barcelona 30.000 Heroinabhängige gebe – 1 Prozent der Bevölkerung. Und ABC behauptete im Oktober 1983, 91 Prozent der 12- bis 26-Jährigen würden „sporadisch“ Drogen konsumieren, 24 Prozent sogar täglich. Auch wenn eine politisch rechte Zeitung wie ABC nicht unbedingt eine objektive Quelle ist, wenn es um die Einordnung solcher Daten geht, vermittelt die Meldung dennoch eine Ahnung davon, wie sehr Drogen und gerade Heroin die spanische Gesellschaft durchdrungen hatten. El País meldete im April 1984 gar, einer von 500 Spanier*innen würde Heroin konsumieren. Jahrelang konnte sich Heroin nahezu ungestört in der Gesellschaft ausbreiten. Erst 1985 wurde der „Plan Nacional Sobre Drogas“ ins Leben gerufen, um der Drogenepidemie politisch etwas entgegenzusetzen.
Das zweite globale gesellschaftliche Thema der 1980er Jahre hatte ebenfalls enormen Einfluss auf die Movida: HIV, das sich nicht zuletzt durch den Heroinkonsum schnell in der Bevölkerung verbreitete. Mitte der 1980er dann war das Ende der Movida gekommen. Heroin, HIV und die Kommerzialisierung dieser einstigen Subkultur, die wie viele gegenkulturelle Bewegungen an ihrem eigenen Erfolg zugrunde ging, hatten die Movida Madrileña ausgehöhlt. Oder um es aus der Sicht von Ana Curra, der sogenannten Königin des Punks, in ihrem Lied „Rien de rien“ zu formulieren: „Con la Operación Primavera y con el sida se acabó la Movida“ – auf Deutsch etwa: Mit dem Schlag gegen die Dealer (1987) und Aids kam das Ende der Movida. Das Ende der Movida ja, aber nicht zuletzt Almodóvar und Portero zeigen, wie weitreichend ihre kulturellen Einflüsse bis heute sind.
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Foto von Jose Antonio Gallego Vázquez auf Unsplash