Kategorie: Feuilleton

Motherfuckers. Misanthropie im Anthropozän

von Carlotta Voß

Die Wissenschaft hat uns wieder einmal die Uhrzeit gesagt: nicht mehr fünf vor zwölf, nicht mehr zwölf, sondern fünf nach zwölf haben wir nun. Fünf Minuten nach zwölf, das heißt: High Noon ist vorbei mit Blick auf das Handlungsfenster, in dem Erderwärmung von zerstörerischem Ausmaß für die Lebensbedingungen des Menschen und vieler Tier- und Pflanzenarten verhindert werden kann. Es ist so weit gekommen, weil „die Menschheit“ bislang nicht gehandelt hat – so lautet die politische und moralische Botschaft, die das allgegenwärtige Bild von der Mittagsstunde vermitteln soll. Und es ist so weit gekommen, obwohl diese Menschheit doch schon lange bekundet, handeln zu wollen, in völkerrechtlichen Verträgen, Absichtserklärungen und in der Definition von „gefährlicher“ Erderwärmung durch das 1,5-Grad-Ziel.

Fünf nach zwölf wirft als Gegenwartserzählung ein ausgesprochen schlechtes Licht auf „den Menschen“. Und je näher die Einschläge des anthropogenen – also des durch “den Menschen” verursachten –  Klimawandels kommen, desto offener werden Zweifel an der Vernunftfähigkeit und den moralischen Qualitäten angemeldet, die ihm in der Moderne zugeschrieben wurden. Vielleicht ist der Mensch eigentlich unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch. Vielleicht ist er das größte und dümmste Raubtier der Erde, dem „hedonistischer Suizid“ – so der Schriftsteller Ilija Trojanow in der taz – vorbestimmt ist. Vielleicht hat die Polarökologin Nina Karnovsky recht, die uns, die Menschen, in einer Klimawandel-Sondersendung der Late Night Show Jimmy Kimmel live! als „motherfuckers“ bezeichnete. Vielleicht kann das Zeitalter, das wir stolz nach uns benennen, das „Anthropozän“, nur mit unserem selbstverschuldeten Untergang enden.

Der Philosoph Darrel Moellendorf bezeichnet in seinem neuen Buch diese Diskurentwicklung, in der ein negatives Menschenbild populär wird, als Gefahr des „Misanthropocene“ – ein Wortspiel, das „Misanthropie“ (Menschenfeindlichkeit) und „Anthropozän“ verbindet. Gefährlich ist dieses „Misanthropozän“ gemäß Moellendorf mit Blick auf die humanistischen Ideen, auf denen unser Wertegerüst, die Menschenrechte und die liberale Demokratie beruhen. Denn sollten wir kollektiv zu der Überzeugung kommen, dass wir als Menschen unfähig sind, gemeinsam an dem Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Welt mit mehr Wohlstand für alle zu arbeiten – wie können wir uns dann noch ernsthaft und überzeugend auf humanistische Vorstellungen beziehen? Kurz gesagt: Wenn sich der Mensch als unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch entpuppt, was sind dann noch Menschenrechte wert? Angesichts dieser bedrohlichen Perspektive sieht Moellendorf es als Aufgabe politischer Philosophie, „realistische Utopien“ zu formulieren, die Grundlage der Hoffnung auf eine nachhaltige und gerechte Zukunft sein und kollektives Handeln in diesem Sinne beflügeln können.

Auch im Klimaaktivismus und Klimajournalismus wird seit einiger Zeit, besorgt über lähmende Resignationserscheinungen in der Bevölkerung, auf Hoffnung gesetzt. Wie kann Wissenschaftskommunikation aussehen, die Hoffnung macht, ohne die Ernsthaftigkeit der Lage herunterzuspielen? Was dürfen, was können, (wie) sollen wir hoffen?, fragt man sich selbst und Psycholog*innen, Klimaforscher*innen, und Philosoph*innen. In vielen Medien endeten die Berichte über den neuen IPCC-Bericht mit den Worten des Vorsitzende des Weltklimarats, Hoesung Lee, der das im Bericht versammelte Wissen als “hoffnungsvolle Perspektive“ auswies: die Prognosen liegen auf dem Tisch, die Wirkungszusammenhänge wurden von uns, den Menschen, hinreichend verstanden, sodass kein Zweifel ist, was „wir“ tun müssen, um die Erderwärmung zu begrenzen. Jetzt müssen wir es nur noch tun.

Ein siebzig Jahre alter Vortrag des Philosophen Helmuth Plessner gibt indes zu denken, ob mit all den Hoffnungsforderungen und -beschwörungen nicht nur kurzfristig das Symptom einer misanthropischen Pathologie bekämpft wird, gegen die es vielmehr eine umfassende Immunisierung braucht – eine Impfkampagne gegen Verzweiflung des Menschen über den Menschen sozusagen. Lange bevor der Beweis der menschengemachten Erderwärmung zum Diskursgegenstand geworden ist, wird in diesem Vortrag (Titel: „Über Menschenverachtung“) Misanthropie als eine Gefahr beschrieben, die der Moderne als solcher innewohnt, und gegen die sich nur gewappnet werden kann, wenn man um die Bedingungen dieser Gefahr weiß. Eine Relektüre lohnt sich – schon deshalb, weil es Plessner in seinem Denken grundsätzlich um den „Menschen“ geht, der im „Anthropozän“ (wieder) zum Problem geworden ist.

Plessner entwickelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundzüge einer „Philosophischen Anthropologie“. Ihr Ziel ist es nicht, abschließend eine Summe von Eigenschaften des Menschen oder seine „Substanz“ zu bestimmen. Sondern zu fragen, wie über den Menschen in seiner Mehrdeutigkeit und Unergründlichkeit nachgedacht werden kann. Plessner sieht darin nicht nur eine philosophische Herausforderung, sondern auch eine moralisch-politische Aufgabe. Für ihn ist das Nachdenken über das Menschsein mit dem Begriff „Mensch“ die Voraussetzung dafür, dass Konzepte wie „Menschenwürde“, „Menschlichkeit“ oder „menschliche Verantwortung“ historisch entstehen konnten und wirksam geworden sind – und dass diese Konzepte hinterfragt werden können. Unter der Prämisse, dass sie politisch relevant bleiben sollten, geht es Plessner mit seiner Philosophischen Anthropologie auch darum, die humanistische Tradition wieder sinnvoll zu machen, deren natürliche Autorität spätestens Anfang des 20. Jahrhundert erschüttert ist.

Seinen vielen Kommentaren zum Zeitgeschehen liegt genau dieser Antrieb zugrunde, auch dem Vortrag „Über Menschenverachtung“. Plessner meint zu erkennen, dass in der (europäischen) Öffentlichkeit seiner Gegenwart, den 1950er Jahren, ein generalisierter Menschenhass als Ideologie um sich greift. Ausdrücklich geht es ihm nicht um Misanthropie als private Haltung. Sie ist für ihn ein möglicher und moralisch-politisch zunächst neutraler Ausdruck des Menschseins als „Mensch“.

Menschsein umfasst für Plessner das “Hier und Jetzt”, das ein körpergebundenes Leben auszeichnet, aber auch die Fähigkeit, dieses “Hier und Jetzt” zu reflektieren und sich auf ein anderes “Dort” hin zu entwerfen. Deshalb gehört zum Menschsein auch ein Verständnis von Zukunft. Auf der Ebene der Erfahrung beschreibt Plessner das so verstandene Menschsein als gleichzeitige Erfahrung von Macht und Ohnmacht: Der Macht, sich selbst zu entwerfen, und der Ohnmacht, im Entwurf und seiner Verwirklichung begrenzt zu sein. 

Folgen wir Plessner, dann äußert sich die Macht des modernen Menschen darin, dass er sich als „Mensch“ begreift, also als ein mächtiges Wesen mit Sonderstellung auf der Erde. Dieser Selbstentwurf hat viele wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Errungenschaften möglich gemacht. Aber auch die Erfahrung, dass der „Mensch“ beständig hinter seiner Idee von sich selbst, hinter seinen selbst gesetzten Idealen, zurückbleibt. Plessner nennt das die Erfahrung des „was der Mensch könnte, wenn er wollte“. Und er behauptet, dass sie erst Verbitterung und dann Hass auslöst. Dieser Hass kann sich gegen sich selbst oder einen konkreten Anderen richten – aber auch gegen den Menschen als solches bzw. gegen die Menschheit. Einer solche „Verschiebung des Hasses in die Sphäre des Allgemeinen“, der ideologisierten Misanthropie also, schreibt Plessner einen großen Vorteil zu: Sie macht es dem einzelnen Menschen nämlich möglich, dem konkreten Anderen im sozialen Miteinander (wieder) herzlich zu begegnen. Sofern der Andere ein Exemplar der Menschheit ist und diese Menschheit eben schlecht, kann der Andere schließlich nicht persönlich für seine Unzulänglichkeit verantwortlich gemacht werden. 

Es ist der Preis dieser Bewältigungsstrategie, dass moralischer oder politischer Fortschritt der „Menschheit“ nicht mehr gedacht werden kann, denn die „Menschheit“ ist vom Misanthropen bereits über ihre Schlechtigkeit definiert worden. Während Plessner darin kein Problem zu sehen scheint, sofern die Misanthropie eine Sache der privaten Überzeugungen bleibt, setzt hier seine Kritik an der Misanthropie als Ideologie an: Wenn das grundsätzliche Schlecht-Sein „der Menschheit“ zur Prämisse politischen Handelns wird, ist – so sorgt sich Plessner – auch die Menschenwürde in Gefahr, denn „so wie der Mensch sich sieht, wird er“.

Das Gegenmittel, das Plessner für diese Gefahr im Sinn hat, ist nicht etwa ein positives Menschenbild, in dem der Mensch mit seiner Macht und Vernünftigkeit identifiziert ist. Es besteht auch nicht in realistischen Utopien. Sondern darin, sich bei Objektivierungen des Menschseins immer wieder darauf zu besinnen, dass das Menschsein etwas auszeichnet, das jede Objektivierung in Frage stellt: ein Rest an Unverfügbarkeit sozusagen, eine absolute Unergründlichkeit, ein ewiges Geheimnis. 

In seinem Vortrag über Menschenverachtung führt Plessner diese Haltung des unaufhörlichen Fragens-nach-dem-Menschsein vor, indem er fragt, ob die Misanthropie-als-Ideologie nur eine mögliche, nämlich eine westlich-moderne Objektivierung des Menschen ist. Seine Antwort darauf ist positiv. Er erklärt die ideologische Misanthropie aus spezifisch modernen Lebenserfahrungen und Perspektiven auf das Menschsein. Zwei Charakteristika der Moderne sind für ihn in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Erstens, “Glaubenslosigkeit”. Gemeint ist damit, dass in der Moderne zwar der jüdisch-christliche Gedanke fortlebt, Menschsein bedeute, sündhafter Mensch zu sein. Nur ist dieser Gedanke entkernt um die Vorstellung, als Geschöpf Gottes Vergebung und Erlösung erfahren zu können. Übrig bleibt daher die Annahme: Der Mensch ist schlecht, und also eine pessimistische Grundstimmung. Zweitens zeichnet sich die Moderne für Plessner durch Strukturen aus, die es erschweren, anderen Menschen in ihrer ganzen Individualität und Unergründlichkeit zu begegnen – und die umgekehrt begünstigen, dass man andere und sich selbst nur als Exemplare der „Menschheit“ versteht. Konkret meint er: Die in der Moderne so häufig beklagte Anonymisierung des Zusammenlebens, Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über das Menschsein, und Beschleunigung.

2023 scheint Plessners Darstellung der Moderne nichts an Aktualität verloren zu haben. Nicht nur, aber auch, weil sich im Anthropozän als neuester moderner Welterzählung manches von dem zeigt, was Plessner beschreibt. Ganz im Sinne seiner Diagnose von der „Verwissenschaftlichung“ wird der Mensch hier radikal als „anthropos“ angesprochen, als Spezies. In der Konsequenz sind nicht nur die Spuren des Individuums verwischt, sondern auch – wie Stimmen aus dem globalen Süden oder der postkolonialen Forschung schon lange kritisch anmerken – die historischen Machtverhältnisse. Sie strukturieren unser Miteinander als Menschen und manifestieren sich auch darin, dass der übergroße Teil der erderwärmenden Treibhausgasemissionen mit dem Lebensstil und der kolonialen Geschichte der Länder im globalen Norden zusammenhängt.

Das Anthropozän ist auch „bürokratisch“ in dem Sinne, dass in ihm die Welt des Menschen mit dem Erdsystem identifiziert wird und dieses Erdsystem gemanagt und verwaltet werden soll. Auch „Glaubenslosigkeit“ drückt sich im Anthropozän aus, das die apokalyptische Idee eines Endes der Menschheit beinhaltet. Allerdings ist dieses Ende nicht im Sinne der christlichen Theologie von Gott bestimmt und bedeutet auch nicht den Einbruch von Gerechtigkeit, sondern es ist unwillentlich von der Menschheit herbeigeführt und realisiert Ungerechtigkeit. Schließlich ist die Verantwortung für dieses Ende temporal und räumlich, zwischen den Generationen und entlang der Nord-Süd-Achse, ungleich verteilt.

Vielleicht – das gibt Plessner zu denken auf – ist unsere anthropozäne Gegenwart also ein Nährboden für ideologische Misanthropie. Vielleicht droht diese Gegenwart immer und unabhängig von Erfolgen in der Klimapolitik ins Misanthropozän zu kippen. Realistische Utopien können als Gegengift dann weit besser wirken, wenn sie begleitet werden durch eine gesellschaftliche Reflexion und Verhandlung dieses Nährbodens.

Was Plessner angeht, so wünscht er ausdrücklich nicht, dass eine solche Verhandlung in die Ablehnung der Moderne mündet, in die kollektive Rückkehr zu Gottesglauben, vorstädtischen Gemeinschaften und vorindustriellem Gesellschaftstempo (das übrigens aus ökologischer Perspektive so nachhaltig wäre!). In der Moderne sieht er schließlich nicht nur die Gefahr zur Ideologisierung der Misanthrophie, sondern zugleich auch die Bedingung eines Handelns im Bewusstsein der Unverfügbarkeit und der radikalen Freiheit des Menschen.

Folgen wir Plessner, dann liegt der Zweck einer gesellschaftlichen Reflexion der (anthropozänen) Moderne darin, dass Menschen gemeinsam lernen können, mit der Ambivalenz der Moderne umzugehen, das heißt: eine Urteilskraft zu entwickeln, die es erlaubt, der Versuchung der Misanthropie zu widerstehen und Freiheit zu wählen. Sie wäre die Vorbedingung für realistische Utopien im Anthropozän oder einfacher gesagt: für Hoffnung, die “wir” haben können. “Wir” nicht als Exemplare der Spezies Anthropos, sondern als Personen, die miteinander darüber nachdenken, was es heißen kann, Mensch zu sein. 

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Im Western nichts Neues? Zur Aktualität eines Genres, das es in Deutschland schwer hat. 

von Oliver Pöttgen

Wenn ich Leute frage, ob sie Western mögen, winken sie oft ab. „Filme von Männern über Männer auf Pferden.“, spottete meine Freundin neulich, als ich vorschlug, die Serie Django zu schauen. Das Genre hat es gerade in Deutschland nicht leicht: Das Wort „Western“ ruft hier ein assoziatives Gemisch hervor, in dem sich Karl May, Bully Herbig, Bud Spencer oder Clint Eastwood und die Macho-Welt der Italo-Western versammeln. Ein Sammelsurium aus Winnetou, Der Schuh des Manitu, Vier Fäuste für ein Halleluja oder Spiel mir das Lied vom Tod. Im Osten Deutschlands kommen als Erbe des DDR-Kinos noch die sogenannten „DEFA-Indianerfilme“ hinzu, wie Spur des Falken oder Tödlicher Irrtum, denen zugutezuhalten ist, dass sie mit antikolonialistischem Ansatz die Perspektive von Nordamerikas Ureinwohner*innen ins Zentrum ihrer Erzählungen rückten. 

In dieser Gemengelage sind besonders die Karl-May-Stoffe ein Problemfeld, das mittlerweile auch politisch aufgeladen ist, wie 2022 die Winnetou-Debatte zeigte. Karl May und seine Geschichten aus fernen Regionen scheinen für manche ein Nationalschatz zu sein, der, um in der Sprache des Genres zu sprechen, bis aufs Messer verteidigt werden muss – gern auch im Winnetou-Kostüm. Als stünde die eigene, oft verklärte Kindheit am Pranger und als wäre die Unschuld sonntäglicher TV-Nachmittage bedroht, als Der Schatz im Silbersee im ZDF gezeigt wurde und der Winnetou-Darsteller Pierre Brice einer der größten Stars in Deutschland war. Als es noch kein Gendersternchen und keine oder wenig Kritik an diskriminierenden Begriffen gab; als Frauen noch von männlichen Helden gerettet werden mussten und unter den Glorreichen Sieben nur weiße Männer waren.

Western und ihre Ästhetiken haben Konjunktur

Hierzulande scheint der Western, gerade durch die Strahlkraft der Karl-May-Filme, ein Genre für die Boomer-Generation zu sein, das mitunter reaktionäre Fantasien bespielt oder zumindest durch solche vereinnahmt wird. „Winnetou würde AfD wählen.“, stand im September 2022 auf einem AfD-Banner. Ein solches Bild vom Western und seinen narrativen Welten verstellt den Blick darauf, dass sich in dem Genre in den vergangenen Jahren viel getan hat. Das „über die Maßen resiliente“ Western-Genre erlebt, nicht zum ersten Mal, ein Revival, auch abseits des Mediums Film. [1] Geradezu symbolhaft für das Revival des Westerns steht, dass der kürzlich verstorbene Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy vor seinem Tod noch ein Drehbuch zu seinem Western-Epos Blood Meridian schrieb und auch ausführender Produzent des geplanten Films sein sollte. Frühere Versuche der Verfilmung des bereits 1985 erschienenen Romans waren stets gescheitert.

Die Gründe für dieses Revival mögen mit, seit den Trump-Jahren sehr deutlich sichtbaren, soziopolitischen Entwicklungen in den USA zusammenhängen. Die Republikanische Partei radikalisiere sich immer mehr und stürze in den Faschismus ab, schreibt die USA-Expertin Annika Brockschmidt. Der Kampf zwischen Altem und Neuem tobt zur Zeit gerade dort besonders heftig – und ist ein wichtiges Thema von Western-Erzählungen. Historisch war der Western für die USA oft Medium zur Vermittlung und Verhandlung nationaler Geschichte und Identität. Er gilt als Nationalmythos und in einer sehr weißen Perspektive auf die Geschichte Nordamerikas als „ur-amerikanisch“. Western-Geschichten sind als Mittel US-amerikanischer Identitätsverhandlung etabliert und können deshalb besonders geeignet dafür sein, auch die US-Gegenwart erzählerisch zu verarbeiten. Über soziokulturelle Millieugrenzen hinweg kann das Genre Antworten auf die Frage „Wie wollen wir sein?“ liefern.

Medienübergreifend hat jedenfalls die Zahl der Veröffentlichungen zugenommen, die sich eindeutig als Western kategorisieren lassen oder die Anleihen im Genre nehmen und audiovisuell mit Western-Ästhetiken oder erzählerisch mit Western-Themen spielen. Solche Themen sind etwa die pionierhafte Eroberung neuer Lebenswelten und deren Ausbeutung, das Ringen des Menschen mit den Kräften der Natur oder das Streben des Individuums nach Besitz und Selbstbestimmung in einem „sozial immer prekären Raum.“ [2] Zu den prominentesten Beispielen für Western-Einflüsse zählen zwei der aktuell erfolgreichsten Serien: The Last of Us und The Mandalorian. Besonders in The Mandalorian sind die Anleihen so deutlich, dass die in der Star-Wars-Welt angesiedelte Serie als Weltraum-Western gilt. Eine Hauptrolle in beiden Serien spielt Pedro Pascal, der bald auch in dem Kurzfilm-Western Strange Way of Life zu sehen sein wird, an der Seite von Ethan Hawke und unter der Regie von Pedro Almodóvar. Der Film wird als queerer Western vermarktet, als Almodóvars Antwort auf Ang Lees Brokeback Mountain (2005), der von der Liebe zwischen zwei Cowboys erzählt. Um Homosexualität unter Männern und Männlichkeitsbilder geht es auch in The Power of the Dog (2021) mit Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst. Der Film lässt sich als revisionistischer Western lesen und sei ein Beispiel für den „wider trend of women reinventing the Western“, schreibt der Filmkritiker Eric Kohn. Autorin und Regisseurin des Films ist Jane Campion.

Weitere bekannte Schauspieler*innen, die sich in den vergangenen Jahren am Western-Genre versucht haben, sind Matthew McConaughey (Free State of Jones, 2016), Jessica Chastain (Woman Walks Ahead, 2017), Christian Bale (Hostiles, 2017) oder Rachel Brosnahan (Dead for a Dollar, 2022). In letzterem spielen auch Willem Dafoe und Christoph Waltz mit, der schon in Quentin Tarantinos Django Unchained (2012) auftrat. Die Altstars Anthony Hopkins und Ed Harris sind in Westworld (seit 2016) zu sehen: Die Serie ist, vor allem in den ersten zwei Staffeln, ein Sci-Fi-Western, in dem Besucher*innen eines gigantischen Western-Parks mit sehr vermenschlichten Androiden „Wilder Westen“ spielen können. Kevin Costner, der mit Dances with Wolves (1990) wohl einen der bekanntesten Western-Filme geschaffen hat, spielt seit 2018 eine Hauptrolle in der Neo-Western-Serie Yellowstone. Sie verhandelt Western-Themen in der Gegenwart und wird von manchen als reaktionär wahrgenommen, als „celebration of the old’s ruthless fight to retain what it has, and believes in“. An Yellowstone lässt sich das Western-Revival besonders deutlich festmachen. Ihr Erfolg hat bisher zu nicht weniger als drei Spin-off-Serien geführt: 1883 und 1923 sind bereits erschienen, 6666 könnte 2024 folgen. In den Spin-offs spielen unter anderem Helen Mirren, Harrison Ford und Sam Elliott mit.

Hart an der Grenze

2017 sorgte die Mini-Serie Godless für Aufsehen, weil sie von Netflix als feministischer Western beworben wurde. „Frauen können im Western niemals Helden sein. Das würde das Ende des Genres bedeuten.“, schrieb 1988 die Filmhistorikerin Pam Cook. [3] Bereits damals mag dieses Urteil etwas zu rigoros ausgefallen sein, schließlich nennt Cook selbst einige Filme, für die sie zumindest Ansätze weiblicher Held*innenschaft verzeichnet, wie Calamity Jane (1953) oder Hannie Caulder (1971). Das zentrale Kriterium für wirkliche Held*innenschaft scheint in Cooks Augen zu sein, inwiefern weibliche Figuren bis zum Schluss der Erzählungen tradierte Geschlechterrollen übertreten  dürfen, ob die Revolverheldin Revolverheldin bleibt oder schließlich doch zur Hausfrau und Mutter wird. Das ist eine, auch für Western, sehr diskutable Sicht auf Held*innenschaft, erklärt aber, warum es für Cook bis 1988 nur einen Western gegeben haben dürfte, bei dem sie zweifelsfrei von einer Heldin sprechen würde: Johnny Guitar (1954; mit Joan Crawford). Es sei der Film, mit dem „Hollywood einem feministischen Western am nächsten kam.“ [4] Sein deutscher Titel hat den Zusatz „Wenn Frauen hassen“, was wohl auf die vermeintliche Unerhörtheit dieses Zustands anspielen sollte.

US-Filmplakat für Johnny Guitar (1954)

Die Netflix-Serie Godless jedenfalls zeigt, wie vor ihr auch schon The Quick and the Dead (1995; mit Sharon Stone) oder Bandidas (2006; mit Salma Hayek und Penélope Cruz), dass Frauen sehr wohl Western-Heldinnen sein können – selbst wenn sie in Godless, wie bemängelt wurde, nicht ohne die Hilfe von Männern auskommen. Aus feministischer Sicht ist allein schon der große shoot-out bemerkenswert, bei dem Frauen ihren Ort gegen den Angriff einer Bande verteidigen. Western sind oft auch Action-Filme, manche mehr, andere weniger, und was Godless hier bietet, muss sich vor Sam Peckinpahs Genre-Klassiker The Wild Bunch (1969) nicht verstecken. Inwiefern Feminismus und todbringende Gewalt vereinbar sind, ist eine andere Frage. Sie stellt sich aber weniger, wenn Gewalt, wie hier, der Selbstverteidigung dient.

Western-Erzählungen haben also wieder Konjunktur. Sie waren zwar nie wirklich weg, wie auch die mitunter shakespearesk anmutende Serie Deadwood (2004-2006) zeigt, aber seit einigen Jahren blüht das Genre wieder besonders auf. Das gilt nicht nur für Filme oder Serien, auch bei Videospielen, hier sei vor allem Red Dead Redemption 2 (2018) genannt, und nicht zuletzt in der Belletristik ist eine Zunahme von Werken zu verzeichnen, die sich als Western ausgeben oder in denen Western-Einflüsse deutlich werden.

Für letzteres ist Robert Harris’ Roman Act of Oblivion (2022) ein Beispiel. Er spielt zwar im 17. Jahrhundert und an der Ostküste Nordamerikas, also in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, als Western es für gewöhnlich tun. Westernesk sind aber die Flucht der Hauptfiguren und die Jagd nach ihnen, ihr Verstecken und ihr Überlebenskampf in der Wildnis und an der besiedelten Grenze zu Gebieten, in die die Kolonialmächte noch nicht vorgedrungen waren – oder, um ein Schlüsselwort des Western-Diskurses aufzugreifen: an der Frontier. Hier zeigen sich Parallelen zu Filmen wie The Last of the Mohicans (1992) oder The Revenant (2015; mit Leonardo diCaprio), die zeitlich und örtlich ebenfalls nicht im „Wilden Westen“ spielen, aber mit ähnlicher Ästhetik und Erzählweise dieselben Themen haben wie Western, deren Geschichten sich genretypischer ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in westlichen Bundesstaaten der USA entfalten.

Es tut sich allerdings nicht nur quantitativ etwas, auch qualitativ ist einiges im Gang. Das Western-Genre entwickelt sich inhaltlich weiter und scheint sich dabei, zumindest in Teilen, erstaunlich gut mit Gegenwartsthemen verbinden zu lassen. Vielleicht würden nicht wenige, die das Genre bisher als altbacken wahrgenommen haben, staunen, was in Western-Erzählungen heute passiert. Für konservative und rechtsreaktionäre Rezipient*innen war das Genre lange Zeit ein sicherer Hafen, weil es ihre Sicht auf die Ordnung der Welt nur selten gestört hat. Stattdessen würde man sich heute nicht über US-Republikaner*innen wundern, die sich darüber echauffieren, der Western sei „woke“ geworden. 

Wenn Schwarze Öl finden: Western als Geschichten nicht-weißer Ermächtigung

Die Serie Django wurde im Februar 2023 auf Sky veröffentlicht und ist ein prägnantes Beispiel für Western-Serien, die aktuell auf Streaming-Plattformen laufen. Weitere sind Hell on Wheels (2011-2016), The Ballad of Buster Scruggs (2018) oder The Head Of Joaquín Murrieta (2023). Laut Sky ist Django eine „zeitgemäße Neuinterpretation“ der Django-Filme, die zu den bekanntesten Italo-Western zählen. Deren Hauptdarsteller Franco Nero hat in Django einen Gastauftritt als Priester. Die Figur des Django spielt Matthias Schoenaerts.

Noomi Rapace und Nicholas Pinnock in der seit Februar 2023 auf Sky laufenden Serie Django, © 2021 Cattleya Srl

Bemerkenswert ist Django im Rahmen dieses Textes vor allem, weil die Serie hinsichtlich Machtverhältnissen zwischen Geschlechtern und zwischen Hautfarben in Western ein Novum darstellen dürfte: Im Mittelpunkt steht kein Konflikt zwischen (weißen) Männern, sondern zwischen einem Schwarzen (John Ellis, gespielt von Nicholas Pinnock) und einer Weißen (Elizabeth, gespielt von Noomi Rapace). Als Patriarch und Matriarchin stehen sie ihren Familien und Gemeinden vor und sind ausgesprochene Machtmenschen. Das gilt besonders für Elizabeth, die als mehrdimensionale Bösewichtin angelegt ist, also einen Part einnimmt, der in Western meist männlichen Figuren vorbehalten war. Waffenkundig wie sie ist, lässt sie nicht nur töten, sondern tötet auch selbst. Sie ist eine christliche Fanatikerin, Rassistin und Anhängerin der Südstaaten, die kurz zuvor den Bürgerkrieg verloren haben. John Ellis hat darin als Offizier auf Seiten der Nordstaaten gekämpft, was auch in der US-Flagge zum Ausdruck kommt, die am Tor seiner Siedlung New Babylon in Texas weht. Hingegen flattert im Ort, den Elizabeth kontrolliert, die Flagge der Südstaaten. Ellis hat New Babylon, das an ein westerntypisches Fort erinnert und somit als Symbol für das Leben an einer Grenze steht, als Enklave für Ausgestoßene gegründet und führt es mit seinen Söhnen. Das als gesellschaftliche Utopie und idealisierte USA im Kleinen lesbare New Babylon ist Elizabeth ein Dorn im Auge, umso mehr, als dort Öl gefunden wird.

In Django sind Schwarze nicht nur Western-Helden, die weiße Banditen töten, sie haben auch Öl. Sie haben den Rohstoff, der ein Symbol für Macht und eine Quelle weißen Reichtums und nationalen Wohlstands der USA ist. Die Szene, in der plötzlich Öl aus dem Bohrloch schießt und auf Schwarze niederregnet, dürfte eine der erinnerungswürdigsten Öl-Fund-Szenen der Western-, wenn nicht Filmgeschichte sein. Ganz besonders diese Szene symbolisiert in Django, dass Western keine Geschichten mit vorwiegend weißen Held*innen mehr sind oder sein müssen. Schwarze als Hauptfiguren in Western sind zwar nicht völlig neu, siehe etwa Unforgiven (1992) oder die Blaxploitation-Western der 1970er-Jahre, bemerkenswert aber ist, gerade im Spiegel heutiger Machtverhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen, mit welcher Macht Schwarze in Django versehen sind und mit welcher Wucht sie als Kollektiv ihren Interessen nachgehen.

Queer mit Colt: Western als Widerstandserzählung für Marginalisierte 

Weitere Beispiele für die in Django sichtbare Diversifizierung von Figuren und Themen in Western-Erzählungen sind die Romane Outlawed (2021) von Anna North und The Thousand Crimes of Ming Tsu (2022) von Tom Lin. Für beide Romane sind Umsetzungen als TV-Serie geplant. Outlawed lässt sich als queerfeministischer Western lesen, der Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen heterosexueller cis Frauen mit denen queerer Figuren zusammendenkt. So eine Figur ist besonders „The Kid“, der*die als nicht-binär erzählt wird und Anführer*in der Bande ist, der sich Ada, die weibliche Hauptfigur, anschließt. Die Gruppe hat in der Wildnis ein Lager, das als safe space dient, als Schutzort für Ausgestoßene, die geschlechtlichen oder sexuellen Normen der Dominanzgesellschaft nicht entsprechen und verfolgt werden. Davon besonders betroffen sind gebährfähige Menschen, die sich der Fortpflanzung und der Mutterrolle verweigern. Die Geschichte kommt ohne Bösewicht*in in Form einer Figur aus: Die Bösewichtin ist, wenn man so will, die Dominanzgesellschaft, das Patriarchat, verkörpert insbesondere durch Sheriffs. 

Im Kleid des Westerns verhandelt Anna North in Outlawed sehr aktuelle Themen, wie ein Blick auf Entwicklungen in (nicht nur) den USA hinsichtlich Abtreibungsrecht oder Anti-Transgender-Politik zeigt. Dabei erzählt sie Marginalisierte nicht bloß als Opfer, sondern als Handelnde, als sich Organisierende und Wehrende, notfalls mit Waffen. Outlawed ist eine Geschichte über erfolgreichen, wenn nötig gewaltsamen Widerstand gegen Diskriminierung und Verfolgung, eine Geschichte über Ermächtigung und Überleben. Im Kontext gegenwärtiger politischer Ereignisse mag dieser Western ein Mutmacher für Marginalisierte sein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, wie sehr sich Outlawed und andere Western heute als Polizeikritik deuten lassen. Teils wirkt es, als führten die Debatten um polizeilichen Machtmissbrauch, Rassismus und Polizeigewalt zu einer in dieser Hinsicht kritischeren Darstellung von Western-Sheriffs.

„I’m not your Chinaman“: Western als Medium des Anti-Rassismus

Von Ermächtigung und Widerstand erzählt auch The Thousand Crimes of Ming Tsu. Im Roman von Tom Lin geht es um den Auftragskiller Ming Tsu, der chinesischer Abstammung ist und sich auf einen Rachefeldzug begibt, um seine weiße Frau, die er entführt wähnt, zu retten. Von Interesse ist neben der, wie bei Outlawed, hohen literarischen Qualität des durch magischen Realismus geprägten Romans auch seine Hauptfigur Ming Tsu. Mit ihr eignet sich Tom Lin als nicht-weißer Autor ein Genre an, das lange Zeit als sehr weiß galt. Zudem trägt er dazu bei, die Geschichte chinesischer Immigrant*innen und ihrer Nachkommen in den Nationalmythos der USA einzuschreiben.  

Ming Tsu ist als Kommentar gegen anti-asiatischen Rassismus lesbar. Die Figur bricht mit teils immer noch üblichen, klischeehaft-rassistischen Bildern von männlichen US-Amerikanern, die sich als chinese-american oder asian-american identifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es solche Begriffe noch nicht; im Roman fällt als Fremdzuschreibung oft der (abwertende) Ausdruck Chinaman. „I’m not your Chinaman.“, fährt Ming Tsu den Direktor an, der ihn als Begleitschutz für seine Zirkustruppe engagiert hat.

Der Bilderbruch besteht bei der Figur Ming Tsu darin, dass sie kein schwächlicher Nerd, namenloser Eisenbahn-Arbeiter oder durchtriebener Opportunist wie Mr. Wu in Deadwood ist. Ming Tsu ist mit Eigenschaften versehen, die vor allem weißen Western-Helden zugestanden wurden und werden. Er ist eine Kampfmaschine, die sich durch die Lande schießt; kaum ein Gegenspieler ist ihm gewachsen. Dabei bedient er sich – auch das ist ein Bruch mit Stereotypen – keiner ostasiatischen Kampfkunst, wie die Figur „Shanghai Joe“ in dem Italo-Martial-Arts-Western Der Mann mit der Kugelpeitsche (1974; italienischer Originaltitel: Il mio nome è Shanghai Joe), sondern nutzt Schusswaffen. Er ist ein Meister im Umgang mit ihnen und pflegt sie mit Liebe und Respekt. Damit macht sich die Figur ein Merkmal weißer Männlichkeit in den USA zu eigen, eines, auf dessen Ausbildung Western-Erzählungen signifikanten Einfluss gehabt haben dürften. Daneben ist Ming Tsu auch prinzipientreu, Liebhaber (weißer Frauen) und Ersatzvater; zudem zeichnen ihn Momente der Reue und Reflexion aus. Hier werden Spuren verletzlicher Männlichkeit sichtbar, die auch in der Serie Django eine Rolle spielt, etwa bei der Verarbeitung von Kriegstraumata oder der erotischen Annäherung zwischen Django und einer männlichen Nebenfigur.

Im Western viel Neues – aber wo sind die Ureinwohner*innen?

Bündelt man obige Eindrücke, spricht einiges dafür, dass das oft als wertkonservativ wahrgenommene Western-Genre eine Frischzellenkur durchläuft und seinen Weg in ein Heute findet, das um Inklusivität und ein anderes Verständnis von Männlichkeit bemüht ist. Die beschriebenen Phänomene sind zwar keine gänzlich neuen, haben sich in den zurückliegenden 10 Jahren aber verdichtet. Die Merkmale „weiß“ und „männlich“ sind heute bei Hauptfiguren (und Autor*innen von Western-Geschichten) weniger häufig anzutreffen und es ist zu beobachten, dass das Bewusstsein für die, historisch immer schon gegebene, Vielfalt menschlicher Sexualität und Geschlechtsidentitäten auch in Western-Erzählungen vermehrt Einzug hält. Hier zeigt besonders Outlawed von Anna North, wie kompatibel Queerness und Western-Narrative sein können, gerade hinsichtlich Themen wie der Behauptung gegenüber Autoritäten und dem Überleben in feindlich gesinnter Umwelt. 

In einem Bereich allerdings hat sich im Vergleich eher wenig getan: Die Repräsentation von Nordamerikas Ureinwohner*innen hat sich ab 1990, als Dances with Wolves hier neue Maßstäbe setzte, zwar deutlich verbessert, indigene Hauptfiguren sind aber nach wie vor selten. Und wenn es sie gibt, sind sie oft mit Veteran*innen wie Wes Studi besetzt, der vor allem durch seine Rollen in Geronimo (1993), Dances with Wolves, The Last of the Mohicans und zuletzt Hostiles der international bekannteste Darsteller indigener Charaktere in Western sein dürfte. Die Serie Yellowstone startete 2018 mit dem Anspruch, auch ein „authentic portrayal of Native life in America“ zu liefern. Nach nunmehr fünf Staffeln scheint das jedoch nur bedingt gelungen zu sein. Für Craig Falcon, Angehöriger der Blackfeet Nation in Montana und kultureller Berater bei The Revenant, ist Yellowstone ein Rückschritt: „We have a giant full-blood Native population here, but casting people and movie directors aren’t tapping into that population.“ Der Hollywood Diversity Report weist auch für 2022 einen verschwindend geringen Anteil indigener Menschen aus, die an der Produktion von Filmen und Serien beteiligt sind.

Es bleibt zu hoffen, dass das gegenwärtige Western-Revival dazu beiträgt, diese Situation zumindest etwas zu verbessern. Längst überfällig ist zum Beispiel eine Serie, die die Kolonialisierung des Westens der USA aus Sicht von Ureinwohner*innen erzählt. Als Genre hat der Western bei ihnen nach wie vor viel gutzumachen: „Aus der Vielfalt [indigener] Kulturen und Nationen, die in einem steten Austauschprozess begriffen waren, im Mittelpunkt einer ‚eigenen‘ Geschichte, wurde das statische Wesen [‚Ureinwohner*in‘], seiner Geschichte und Identität beraubt und zu einer Randerscheinung in der Geschichte der Weißen.“ [5]

[1] Anja Peltzer, Jörn Ahrens: Der Western der Gegenwart. Eine Einleitung, in: Anja Peltzer, Jörn Ahrens (Hrsg.): Politik der Grenze. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Frontier im Western der Gegenwart, Halem, Köln, 2021, S. 7-26, S. 9.

[2] Ebenda, S.10. 

[3] Pam Cook: Frauen und der Western, in: Bert Rebhandl (Hrsg.): Western. Genre und Geschichte, Zsolnay, Wien, 2007, S. 82-92, S. 88.

[4] Ebenda, S. 90.
[5] Georg Seeßlen: Filmwissen: Western. Grundlagen des populären Films, Schüren, Marburg, 2011, S. 12. Im Zitat wurde an zwei Stellen ein aus Kolonialzeiten stammender Begriff ersetzt, der heute als diskriminierend gilt und von den Gemeinten abgelehnt wird.

Bild: ha11ok auf Pixabay

Boxer, Wodka, Genie – Die Auswüchse des Kunstgeredes

von Johannes Franzen

Genies sind keine natürliche Erscheinung, Genies werden gemacht. Die Vorstellung, dass überragende Talente existieren, vor allem in der Kunst, die ihr Talent allerdings durch Außenseitertum und fragwürdiges Verhalten bezahlen, ist so alt wie die Moderne, also ziemlich alt. Wo der Geniekult in der Gegenwart weiter existiert, ist er deswegen meistens ein Klischee. Das hält die Medien aber nicht davon ab, weiter fleißig mit den überkommenen Strategien Genies zu produzieren. In der Einleitung zu einem eigentümlichen Interview mit dem Maler Neo Rauch in der NZZ etwa heißt es gleich zu Beginn: 

“Mit seinen Malerhandschuhen sieht Neo Rauch, 63, fast aus wie ein Boxer. Überhaupt wirkt der Künstler kräftig, man könnte fast sagen, gestählt. Zwei Boxsäcke hängen in den Weiten seines Ateliers: ein grosser und eine kleine Birne. Träumerei und eiserne Disziplin scheinen in ihm in eigentümlicher Weise zusammenzuwirken. Er verliert sich in seinem Werk, um es dann mit der Schärfe eines Skalpells zu analysieren.”

Diese weihevolle Beschwörung versammelt fast wahllos Versatzstücke des Geniemythos. Der moderne Künstler steht zwischen eiserner Männlichkeit und sensibler Träumerei. Berühmte Kraftkerle der Kulturgeschichte – Picasso, Hemingway – werden unmittelbar aufgerufen. Und als wäre das nicht transparent genug, wird Hemingway zwei Absätze später sogar selbst zitiert. Im Atelier hängt nämlich ein angebliches Zitat des US-amerikanischen Großautors an der Wand: “Never answer a critic”. 

Der Geniemythos wird in diesem Text wie in einem Paartanz zwischen Künstler und Kulturjournalismus aufgeführt. Hinter der sanften Stimme des Malers, hinter seiner zivilisierten Rede glaubt der Interviewer, “eine Kraft zu vernehmen, die unbändig sein könnte.” Es handelt sich um den „Zorn“. Als Leser dagegen muss man sofort an Rilkes lyrischen Schlager denken: “Und hinter tausend Stäben keine Welt.” Zunächst wird aber Wodka kredenzt, denn mit einem echten Künstler trinkt man harten Alkohol.

Irgendwann taucht auch ein schrulliges Tier auf, nämlich der Mops Smylla, der dem Gespräch mit Rauch beiwohnt. Der Hund soll die weiche Seite des männlichen Genies unter Beweis stellen, wie einst der Pudel des notorisch unwirschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Heute denkt man mit einiger Beklommenheit an den Hund eines anderen Genies, an den Dackel Gustav nämlich, dessen Herrchen, der Choreograph Marco Goecke, vor nicht allzu langer Zeit eine Kritikerin mit dem Kot dieses Hundes attackierte. Aber Kunst und Kot scheinen beim modernen Genie auch sonst zusammenzugehören. Auch Neo Rauch löste 2019 einen Skandal aus, als er auf Kritik an seinen politischen Aussagen mit dem Bild “Der Anbräuner” reagierte, in dem eine Figur ein Bild mit seinen eigenen Exkrementen malt.

Spätestens hier melden sich aber auch andere Reminiszenzen. Hatte man das mit dem Wodka nicht 2021 schon in einem langen und seltsam unkritischen Porträt im “New Yorker” gelesen? Und tatsächlich schreibt der Autor Thomas Meany darüber, wie er sich von Rauch Wodka anbieten lässt (statt Kaffee). Aber man kann noch weiter zurückgehen im Zeitungsarchiv. Dann stößt man auf ein Interview, das Rauch der „Welt am Sonntag“ im September 2020 gegeben hatte (unter dem charmanten Titel “Bilderstürmerei ist geisteskrank”), und das mit einer Beschreibung des Ateliers beginnt, die einem seltsam bekannt vorkommt: 

„Mitten im Raum hängt ein Boxsack und weiter hinten noch ein kleiner, für die schnellen, harten Schläge. Auf der Tür klebt ein Hemingway-Zitat: ‘Never answer a critic’. Neo Rauch, in Leipzig verwurzelt, international bekannt und gesammelt, ist im April sechzig Jahre alt geworden. Angestoßen wird mit Wodka aus dem Gefrierfach.“

Boxsack, Hemingway, Wodka – diese Art von Geniemythos kann bequem auf einen eingeschränkten Fundus an Bildern zurückgreifen. Es ist die vielleicht müheloseste Form eines kulturellen Rollenmusters. Rauch sagt Dinge wie: “Das Bild selbst kommt zur Welt, wenn es vorliegt. Es entwickelt sich aus einer Anwandlung heraus, die mich anweht oder die mich durchzieht wie eine Verheissung.” 

Diese Art des bildstarken Raunens hat sich als Sprache der Kunst im Hochkultursegment schon lange etabliert. Man darf nichts Konkretes sagen, darf immer nur in Vergleichen und Metaphern sprechen, die den Nimbus einer quasi sakralen Angelegenheit suggerieren. Dabei sollte man aber auch sehr bestimmt (man könnte fast sagen maskulin) auftreten. Rauch beherrscht diesen Ton perfekt: „Ich versuche jedem Bild eine Daseinsberechtigung einzuwirken, die sich aus seiner Unbedingtheit herleitet, aus seiner Sonderbarkeit und aus seiner Eigentümlichkeit.“

Das sind leere, dickflüssige Worte – ein sprachlicher Akt, der sich darin erschöpft, eine reine Geste zu sein. Der Genie-Mythos lebt fast ausschließlich von solchen Gesten. Man arbeitet gemeinsam an der Figur. Diese Arbeit am Genie, auch das ist charakteristisch für den Status des Mythos, hat kaum Berührungsängste mit der Selbstparodie. Da kann man dann Fragen stellen wie „Malen Sie für die Ewigkeit, ist dies Teil der Motivation?“ oder „Was interessiert Sie an der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen?“ Und Antworten geben wie: „Ich würde gern den Eindruck heraufbeschwören, als sähe man in eine Parallelwelt hinein, als hätte man den seltenen Vorzug gewährt bekommen, eine Plexiglasscheibe freischarren zu können.“

So lebt das Gerede über die hohe Kunst von seiner charismatischen Bildlichkeit, die durch eingestreute Vergleiche mit ehrlichem Handwerk geerdet werden soll. Mal ist die Tätigkeit des Künstlers mit der des Bootsbauers verbunden, dann mit der des Tischlers, der ein Möbelstück immer wieder abtastet. So werden das Sakrale und das Kernige, der Sensible und der Boxer, über disparate Bildwelten unter einen Hut gebracht.

Schließlich darf bei einem echten modernen Genie auch die Beteuerung der Weltabgewandtheit nicht fehlen. Politik und Kunst etwa vertragen sich nicht, wie Rauch an einer Stelle in einem vorgestanzten Epigramm verlautbaren lässt: „Man muss die Kunst vor Politik bewahren, weil man sie damit tötet.“ Man habe gerade in Kassel erlebt, was geschehe, wenn die Kunst der Ideologie weichen müsse. Den Raum der Kunst müsse man aber verteidigen, und zwar „bis zum Letzten, bis zur letzten Farbtube.“ So wird selbst die unschuldige Farbtube in den Dienst einer martialischen Rhetorik des Unbedingten gepresst, immer im Bildbereich männlicher Stärke: der Künstler als Boxer, als Tischler, als Soldat.

Rauch verteidigt den Status des Künstlers als Sonderling, als „ein von gesellschaftlichen Grundmassstäben in bestimmter Weise abweichender Könner.“ Diese peinliche Form der Selbstanpreisung gehört ebenfalls zu den rhetorischen Strategien des modernen Genies, das so weit von den gesellschaftlichen Normen entfernt ist, dass es sich selbst krönen darf. Da stört es auch nicht, dass zwischendurch comedypreisverdächtige Sätze auftauchen wie: „Mein Atelier ist die Anti-Tagesschau‘“.

Es wird an dieser Stelle niemanden überraschen, dass Rauch diese mit großer Geste verordnete politische Askese selbst nicht einhalten kann. Der Skandal um „Der Anbräuner“ etwa entstand, weil Rauch über den Feminismus sagte, es handele sich um die „Talibanisierung unserer Lebenswirklichkeit“, oder den Schriftsteller Uwe Tellkamp als „Widergänger Stauffenbergs“ bezeichnete. Rauch ist das beste Beispiel für einen Künstler, der die Autonomie der Kunst gegen die Politik einfordert, das Politisieren aber einfach nicht lassen kann.

Selbst im Interview mit der NZZ folgt wenige Absätze nach der Feststellung, dass Politik die Kunst tötet, die Aussage: „Wir schaffen uns gerade als Industrienation ab. Wir nehmen uns vom Netz, verabschieden uns aus der Riege der ernstzunehmenden Völker.“ Dann heißt es, Deutschland sei nicht in guten Händen und schließlich wird Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ empfohlen – eine Empfehlung, mit der sich Rauch in eine Opfertradition stellt, die bei einem Mann, dessen Bilder – wie im Vorspann des Interviews stolz betont wird – Millionenbeträge einbringen, sicherlich gut zu Gesicht steht.

Am Ende dieses (auch unangenehm langen) Interviews wird dann noch offengelegt, dass der Anlass die Kunstausgabe der NZZ war (Rauch: „Ich habe etwas Ähnliches einmal mit der ‚Welt‘ gemacht, und das war eine schöne Erfahrung.“), was sicherlich auch die wachsweichen Fragen erklärt, die vor allem dazu dienen, Rauch in einem besonders guten Licht erscheinen zu lassen. Das Frappierende an solchen Interviews und Porträts sind nicht nur die Dinge, die Rauch sagt, oder die provokativen Gesten seiner Kunst, sondern die maßlosen Klischees, die in seltsamer Eintracht zwischen dem Künstler und den Medien reproduziert werden. So fallen die Besucher des Ateliers umstandslos auf die potemkinschen Boxsäcke herein, auf den Wodka und die kunstautonomen Floskeln und werden zum Sprachrohr einer Inszenierung, die einem Hauptanliegen der modernen Kunst, den Kitsch zu vermeiden, in jeder Hinsicht widerspricht.

Foto von Nathan Powers auf Unsplash

Autoritäre Revolte – Rammstein, Rock und Frauenhass

von Veronika Kracher

Kaum jemand hat es momentan so schwer wie Rammstein-Fans. Denn nach den Vorwürfen gegen die Band, systematisch junge, weibliche Fans ausgenutzt zu haben, bedarf es einiger  Willensstärke, um sich weiterhin zu diesem ekligen Klüngel zu bekennen. Schwächere Personen als die eingefleischten Fans einer Band, die seit Jahrzehnten so richtig subversiv mit Kolonialherren- und Nazi-Ästhetik kokettiert, würden sich nun wahrscheinlich distanzieren. Sie würden angesichts der zahlreichen Beschreibungen eines ausgefeilten Systems, das auf der  Ausbeutung junger Frauen basiert, ihre Konzertkarten verkaufen und Tattoos überstechen lassen. 

All die Normies, die Till Lindemanns Genie nur halbherzig gewürdigt haben, verstehen einfach nicht dass seine bis vor kurzem bei Kiepenheuer & Witsch verlegten Bände, die Gedichte über sexualisierte Gewalt enthalten, Ausdruck eines künstlerischen Ichs sind, und überhaupt nichts mit Lindemanns tatsächlichem Verhalten zu tun haben! Jedenfalls haben es Rammstein-Fans einfach verdammt schwer, weil sie zahlreiche mentale Verrenkungen vornehmen müssen, um vor sich und der Welt zu rechtfertigen, warum ihnen mit riesigen Phalli herumspritzende Altrocker mehr am Herzen liegen als das Wohlergehen von Frauen.

Rammstein sind jedoch nicht die einzigen Künstler, die trotz einer Geschichte von Chauvinismus und Misogynie nach wie vor von ihren Fans in Schutz genommen werden, eine Bühne bekommen und Preise abräumen. Die viel beschworene „Cancel Culture“ existiert nicht – obwohl sie dringend nötig wäre. Fanatischen Fans fällt es in der Regel ausgesprochen schwer, Kritik an den Objekten ihrer Bewunderung zuzulassen oder diese gar selbst zu üben. Denn wer als Fan eine Identifikation mit seinem Idol – sei es ein Schauspieler, eine Musikerin, ein Sportler – aufgebaut hat, ist häufig auch emotional mit diesem Idol verhaftet.

Nun ist es das eine, Kritikpunkte zu ignorieren oder zu verleugnen. Wie wir aber gerade in Bezug auf Rammstein sehen, bleibt es nicht dabei – stattdessen üben sich die Fans in brutaler Misogynie gegenüber den  Frauen wie Shelby Lynn oder Kayla Shyx, die den Mut haben, von ihren Erlebnissen mit der Band zu berichten. Derartiges Verhalten ist nichts Rammstein-spezifisches, sondern die  bittere Begleiterscheinung, wenn es Vorwürfe gegen berühmte Männer – und es sind meistens Männer – gibt. Drastischstes Beispiel der letzten Jahre ist wohl die misogyne Hasskampagne gegen die Schauspielerin Amber Heard, die gewagt hatte zu insinuieren, dass ihr Ex-Mann kein sensibler Außenseiter ist, wie er ihn in seinen Filmrollen in den 90er Jahren verkörpert hatte, sondern ein cholerischer Säufer. Diese Verteidigungshaltung resultiert aus mehreren Faktoren – ist aber letztendlich in einer Gesellschaft und Industrie verwurzelt, in der die Verachtung und Ausbeutung von Frauen an der Tagesordnung ist.

Rockstar-Männlichkeit

Fans gitarrenlastiger Musikrichtungen sehen sich gerne als irgendwie rebellisch, selbst wenn die von ihnen vergötterten Künstler Multimillionäre sind, die in ausverkauften Stadien das Standard-Programm jedes Radiosenders mit den „besten Hits der Achtziger, Neunziger und von heute“ abspielen. Vielleicht wohnte Rock noch subversives Potential inne, als Künstler*innen dafür Sanktionen erfuhren, sich gegen den Krieg in Vietnam zu stellen. Aber dem Kapitalismus und seiner Kulturindustrie ist es immanent, alles auch nur ansatzweise Bedrohliche aufzusaugen, sich einzuverleiben und zum systemkompatiblen Hochglanzprodukt zu machen, dessen kritisches Moment mehr Schein als Sein ist.

Wie die Autor*innen Joy Press und Simon Reynolds in dem lesenswerten „Sex Revolts – Gender, Rock und Rebellion“, das gerade jetzt das Buch der Stunde sein sollte, ausführen, wurde die Rebellen-Inszenierung „alternativer“ Musik immer schon auf dem Rücken von Frauen ausgetragen. Rock-Rebellen hatten sich seit den 1950er und 60er Jahren damit gebrüstet, alle erdenklichen – aber vermutlich auch deshalb selten konkret benannten – Repressionen kaputt schlagen zu wollen. US-Regierung, Elternhaus, Polizei, schlicht alles von dem Kränkungen und Einschränkungen ausgingen. Ein Unterdrückungsverhältnis blieb jedoch seit jeher außen vor: das Geschlechterverhältnis.

Wie Press und Reynolds darstellen, werden im Rock und seinen ideellen Vorgängern wie der Beat-Literatur Frauen, trotz der brutalen Ausbeutung und Unterdrückung, die sie im kapitalistischen Patriarchat erleiden, weniger als dessen Opfer gesehen. Stattdessen gelten sie als diejenigen, von denen eine Einschränkung und Unterdrückung ausgeht, gegen die rebelliert werden muss. Mütter, Lehrerinnen, Partnerinnen. Anstatt unsere Rock-Rebellen einfach ziehen und sich selbst entdecken zu lassen, verlangen diese Spießerinnen von ihnen die Übernahme von Verantwortung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Und einen Job annehmen, um eine Familie zu ernähren, anstatt mit der Gitarre auf dem Rücken durchs Land zu reisen, ist dem musikalischen Männer-Genie schlicht unwürdig. Die Zuschreibung an Frauen, Teil der Herrschaft zu sein, ist eigentlich eine projektive Täter-Opfer-Umkehr, die den Zweck hat,  die konkrete patriarchale Gewalt, die Stars mit Rebellen-Attitüde immer und immer wieder ausüben, zu verschleiern.

Eigentlich, so argumentieren die Autor*innen von „Sex Revolts“, geht es in großen Teilen des Phallus-Rock maximal um eine infantile Rebellion mit dem Ziel, eine diffuse Unzufriedenheit zu artikulieren, sich die Hörner abzustoßen und für ein paar Jahre lang eine Gegenposition zu einem selten wirklich benannten Establishment zu performen. Mit einem tatsächlich revolutionären Anspruch, der eine radikale Kritik an den herrschenden Verhältnissen übt, hat diese Attitüde wenig gemein. Und: Es ist bezeichnend, dass diese musikalische Trotzphase bei so vielen Musikern inzwischen mehrere Jahrzehnte  anhält. Zusammenfassend: Das Establishment ist weiblich, Rebellion hingegen männlich konnotiert.

Rockstar-Misogynie

Auch wenn es zahlreiche bewundernswerte weibliche und queere Künstler*innen gibt, die sich in der chauvinistischen Rockindustrie durchsetzen konnten, war und ist die Funktion von Frauen in der Welt von Rammstein, anderer Männer-Bands und deren Fans primär die des Groupies. In von Männern produzierten Büchern, Liedern oder Filmen wird Frauen selten die Rolle als selbstbestimmtes Subjekt gestattet. Vielmehr müssen sie immer wieder als Projektionsfläche für dieselben Männerfantasien herhalten. Entweder sind sie das abstrakte,  sexlose Liebesobjekt, die sexuell deviante Schlampe, oder die kaltherzige Ex, an der in Texten  Rache genommen wird.

In einer Kulturindustrie, in der Männer – wie im Kapitalismus generell – im Besitz der Produktionsmittel sind, entstehen männerbündische Seilschaften. Diese führen dazu, dass Männergeschichten jene sind, die als erzählenswert erachtet werden, weil so viele Männer nach wie vor die Perspektive von Frauen nicht respektieren, und demzufolge auch nicht veröffentlichen wollen. Der einzige Zugang in die Musikbranche, zu den Bühnen, zu Musikern selbst war für Frauen das Dasein als Fan und Groupie. Rammstein ist nur ein Beispiel von vielen, dass Frauen als Fans, mit denen der Künstler über Musik fachsimpeln, oder dessen Tracks er hören kann, nicht wahrgenommen werden, sondern lediglich als Sexobjekte. Ihre Aufgabe ist es, Teil der Performance von Star-Männlichkeit zu sein, die auch immer über den Zugang zu anderen Körpern und Sex funktioniert.

Identifikation und Idolisierung

In patriarchalen Verhältnissen ist die Idealvorstellung von Männlichkeit mit der Abwertung des Nichtmännlichen verbunden. Richtig Mann kann nur sein, wer nicht Frau oder queer ist. Die Unterwerfung der Frau erfolgt konkret im besten Falle (aber nicht nur) durch den Sexualakt. Denn sexuelle Potenz, Virilität und Erfolg bei der Damenwelt sind Garanten dafür, ein echter Mann zu sein. Stars sind oftmals Gradmesser für die gesellschaftlichen Idealvorstellungen von Geschlecht. Sei es die verspielte, queer anmutende Männlichkeit eines Harry Stiles oder eben ein Till Lindemann, der sich selbst als intellektuell und künstlerisch versierter, direkter, harter Rebellentyp inszeniert, der aus einem riesigen Phallus von der Bühne sein Genie auf seine Fans runterspritzt und nebenbei auch noch Pornos mit sehr jungen Frauen dreht. Es ist naheliegend, dass diese Performance einen ganz bestimmten Typus Mann anspricht.

Die Fans von Rockstars sind zwar selten selbst wohlhabende Berühmtheiten mit einer Sammlung an antiken Gitarren oder kostbaren  Schallplatten, sie werden in der Regel nicht von attraktiven Frauen angehimmelt und von Plattenproduzenten umgarnt, aber der Konsum eines Musikers  führt dazu, dass man sich ein bisschen in dessen Ruhm sonnen kann. Musik vermittelt Emotionen; und selbst wenn die wilden Tage des Zuhörers inzwischen vorbei sind und er ein tristes Leben als mittlerer Angestellter fristet, seine Frau sich getrennt hat und die Kinder sich nicht mehr melden: im Auto die „Hardrock 1987“-Playlist aufdrehen lässt ihn noch einmal den Kitzel der adoleszenten Rebellion spüren. Diese adoleszente Rebellion ist eben auch immer auf der Wiedergutmachung gekränkter, infantiler Männlichkeit und der Abwertung von Frauen aufgebaut.

Wohl ein nicht unbeträchtlicher Teil männlicher Rammstein-Fans sehnt sich danach, über die Teilhabe an der Musik und an Konzerten zumindest ein bisschen sein zu können, wie sie sich Lindemann vorstellen. Lindemanns Umgang mit jungen, attraktiven Frauen ist für diesen Typ Mann, der Rockmusik und -stars nicht trotz, sondern wegen ihres Frauenbildes zelebriert, erstrebenswert. Gerade der Umgang von Rammstein-Fans mit den Teilnehmerinnen der feministischen Proteste gegen das Konzert in München macht dies deutlich. Die Fans, oftmals Typ „gut situierter Familienvater“, skandierten Parolen wie „Row, Row, Zero“, bekannten öffentlich ihre Liebe zu Lindemann und belästigten die Demonstrantinnen auf sexualisierte Art und Weise, wie berichtet wird.

Fandom als autoritäre Revolte

Ob Fans nun die Vorwürfe an Lindemann und seinem Umfeld glorifizieren oder sie verleugnen und die zahlreichen betroffenen Frauen als Lügnerinnen, rachsüchtige Groupies oder naive Dummchen darstellen: Sie glauben, auf der „richtigen Seite“ der Geschichte zu stehen. Denn ihre Idole sind ja Rebellen, die gegen das – mit Frauen assoziierte – Establishment antreten. Deswegen, so der gedankliche Kurzschluss, sind all jene, die sich gegen diese Idole stellen, Vertreter*innen der verhassten Spießergesellschaft.

Die eigene, alternative Szene dient oft als Raum der Abgrenzung gegen den „Mainstream“, was musikalisch, visuell und im Habitus zelebriert wird. Jedoch verleugnen Rock-Fans, dass ihre Musik längst zum Mainstream geworden ist. Fans glauben, ihre Szene aus einem „Wir gegen die“-Kollektivgefühl heraus als Schutzraum verteidigen zu müssen. Ein Beispiel ist Gatekeeping. Wer als junge Frau mit einem Wipers-Shirt auf ein Konzert geht, sollte aus der Pistole geschossen angeben können, für welche Alben Brad Davidson Bass gespielt hat, weiß sie das nicht, ist sie nämlich kein richtiger Fan. Dies liegt mutmaßlich auch viel in der oberflächlichen Ästhetisierung von Subkulturen über Plattformen wie TikTok begründet. Anstatt sich aber darüber zu freuen, dass sich junge Menschen für eine bestimmte Musikrichtung interessieren, sprechen eingefleischte Fans ihnen die genuine Begeisterung  nach wie vor oft ab.

Außerdem glauben Fans, die eigene Community gegen Kritik von außen verteidigen zu müssen. Diese Verteidigung kann berechtigt sein, wie bei der brutalen Hetze gegen Antifaschist*innen oder queere Menschen. Aber in einer Zeit, in der selbst die Bevölkerung von Sylt keine Einwände gegen die 2022 dort campierenden Punks hat, ist die Außenseiter*innenszenierung von Subkulturen obsolet geworden. Was bleibt, ist die Abwehrhaltung gegen Kritik aus den eigenen Reihen, weil: Dissonanzen im Wohlfühlort sind unangenehm. Die Leidtragendenden sind in der Regel Frauen, People of Colour, Queers oder Menschen mit Behinderung – denn anstatt Schutzraum vor Diskriminierung zu sein, führen Subkulturen diese immer wieder fort.

Im Falle von Bands wie Rammstein ist der Autoritarismus jedoch noch einmal drastischer, da diese Fans sich nicht als antirassistisch oder antisexistisch begreifen. Sie sehen sich, wie es Reaktionäre so gerne tun, als Opfer von Feminismus und Cancel Culture, die ihnen den Spaß des übergriffigen Saufgehabes nehmen will. Chauvinismus als Freiheit und der Appell an Verantwortung als weiblich codiertes Establishment, die klassische Männerrock-Erzählung also.

Gesellschaftlich vermittelte Misogynie

Letztendlich ist die treibende Kraft hinter der Verteidigung von Ausbeutung und die Wut gegenüber den  Frauen, die über das ihnen zugefügte reden, Misogynie. Die Philosophin Kate Manne bezeichnet Misogynie als „Straf- und Kontrollmechanismus des Patriarchats“, um Frauen dafür abzustrafen, sich patriarchalen Anforderungen an Weiblichkeit zu verweigern.  Gewalt ist ein Grundpfeiler patriarchaler Herrschaft – und seine Profiteure sanktionieren den feministischen Kampf für sexuelle Selbstbestimmung regelmäßig durch misogyne Akte und Kampagnen.

Opfern die Schuld für das Erfahrene geben, zu suggerieren, sie hätten es doch eigentlich gewollt, oder zu behaupten, Opfer würden gerade berühmte Männer aus niederen Motiven wie dem Wunsch nach Ruhm der Gewalt bezichtigen, sind elementare Bestandteile von Misogynie. Es ist bitter, live mitverfolgen zu können, mit welcher Selbstsicherheit und Grausamkeit Männer aller Milieus gerade ihre Frauenverachtung offen zur Schau stellen. Ziel ist es, die Betroffenen zum Schweigen zu bringen – und weiteren Opfern zu vermitteln: „Haltet lieber den Ball flach, sonst werden wir euch das gleiche antun.“

Es ist nicht so, dass diese Misogynie bei den Verteidigern von Lindemann nicht bereits vorhanden wäre – jetzt bricht sie nur besonders sichtbar heraus.. Jetzt haben diese Männer konkrete Feindbilder, bei denen sie glauben, ihre berechtigte Wut herauszulassen und ihr Idol verteidigen zu können. Primär zeigen sie nur auf, was für stumpfe Menschen sie sind, unfähig, sich einer simplen Erkenntnis zu stellen: Lindemann ist kein Genie, Rammstein machen keine subversive Kunst, sie sind bräsige Spießer und ihre Rebellion nichts anderes als infantiler Trotz, ausgetragen auf den Schultern von Frauen.

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Zwischen Würdigung, Banalisierung und Identifikation – NS-Opfer auf Instagram

von Antonia Kruse

Viele kleine Sterne, drei Herzen und ein Zitat: „Wie wunderbar ist es, dass niemand auch nur einen Moment zu warten braucht, bevor er beginnt, die Welt zu verbessern.“ Der Account ergänzt die Zitatkachel mit einer kurzen Kontemplation über ein glückliches Leben und heile Herzen. Mit 19 Hashtags findet der Beitrag seinen Weg in Instagrams dichte Bilderwelt, darunter: #erfülltesleben, #liebeliebeliebe, #heilwerden – und #annefrank. Das Zitat stammt aus dem berühmten Tagebuch jenes Mäd­chens, dessen Leben zu einem der bekanntesten Symbole für die Millionen Opfer des Holocaust wurde.

Auf der Weltbühne des Aktivismus

Von Anne Frank ist viel auf Instagram zu lesen. Folgt man dem Hashtag #annefrank, findet man, Stand 9.05.2023, insgesamt 353,035 Beiträge. Eine ver­gleichbare Präsenz, insbesondere auf deutschsprachigen Accounts der Social-Media-Plattform, hat der Name der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl mit 15,489 Beiträgen. Mehr als 300 Beiträge mit dem Hashtag #sophiescholl wurden allein an­lässlich des 80. Jahrestags der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probst am 22. Februar 2023 auf Instagram veröffentlicht. Geschichtsvergessenheit scheint demnach eigentlich kein Thema mehr zu sein.

Angesichts solcher Zahlen feiern Medienwissenschaftler*innen wie Diana Popescu oder Mark Deuze, dass in den sozialen Medien eine neue Form der Teilhabe kultiviert werde, von der auch die Erinnerungskultur profitieren könne: um vernachlässigte Perspektiven sichtbar zu machen und ein vielstimmiges Korrektiv zu den klassischen memory agents wie Journalist*innen, Filmemacher*innen oder Gedenk­stätten zu bilden. Das Anne Frank Haus in Amsterdam findet die Fülle an Reaktionen, die von Anne Frank inspiriert werden, „lehrreich“. Und die Macher*innen des aufsehenerregenden Instagram-Projekts @ichbinSophieScholl sehen in der Plattform gar die neue „Weltbühne des Aktivismus“. Rettet Instagram also unsere Erinnerungskultur?

Zweifel erscheinen angemessen: Es gibt sie zwar – die gut recherchierten und gemäß wissenschaftlicher Standards aufbereiteten Informationen im Kachel-Format Instagrams – Accounts, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Wissen über historische Persönlichkeiten, Prozesse und Zusammenhänge in die sozialen Netzwerke zu übersetzen und dort zu diskutieren. Doch wenn man sich mithilfe der Hashtags #sophiescholl oder #annefrank auf die Suche begibt, fällt auf: Der Großteil der Inhalte gibt lediglich Zitate der beiden Frauen wieder. @mit_petra_neuewegegehen ist nur ein Account von vielen, der Anne Franks und Sophie Scholls Worte nutzt, um sie im Rahmen der Feel-Good-Ästhetik Instagrams zu teilen. Blumen, liebliche Naturbilder, Weichzeichner und Pastellfarben sind das visuelle Umfeld, in dem diese Zitate stehen.

Carpe Diem mit Anne Frank

In den sozialen Medien zählt der Moment, ein Like ist in erster Linie intuitiv und erfordert im besten Fall kein großes Engagement der Nutzer*innen. Wer auf die Beiträge reagieren soll, hat nur begrenzte Aufmerksamkeit – und bekannte Namen helfen. Sophie Scholl und Anne Frank sind fest im deutschen kollektiven Gedächtnis verankert, allein ihre Namen garantieren Assoziationen wie ‚Holocaust-Opfer‘ oder ‚Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus‘. Das erklärt ihren praktischen Nutzen für die sozialen Medien. Die Namen strecken Deutungsschwere und ein Ansehen vor, das die Nutzer*innen nur noch für ihre Anliegen verwerten müssen.

Eine ausführliche Darstellung der konkreten Lebensgeschichte oder gar der Bedingungen der nationalsozialistischen Verbrechen wird durch Entkontextualisierung obsolet gemacht, die Feel-Good-Ästhetik der Beiträge ist ungebrochen. Anne Frank und Sophie Scholl werden der Geschichte enthoben und ihre Selbstzeugnisse in ein Archiv zeitloser Weisheiten in willkürlicher Nachbarschaft zu Zitaten von Winston Churchill, Mahatma Gandhi oder Muhammad Ali überführt. Eine naheliegende Antwort auf die Frage, warum gerade die Worte dieser beiden historischen Frauen so häufig auf Instagram auftauchen, lautet also: der hohe Bekanntheitsgrad Anne Franks und Sophie Scholls und ihre Verankerung im kollektiven Gedächtnis.

Es sind nur eine Handvoll Zitate der beiden Frauen, die in den Beiträgen immer wieder auftauchen. Neben Instagram findet man sie auch auf Sprüche-Seiten wie BrainyQuotes.com oder auf der Online-Pinnwand Pinterest. Die Zitate mögen sich wiederholen, doch die Kontexte, in die sie gesetzt werden, könnten vielfältiger kaum sein. So iso­liert ein Zitat vermittelt wird, so universell und möglichst widerstandsarm kann es vereinnahmt werden. Abstrakte und allgemeine Aussagen von Anne Frank und Sophie Scholl erfreuen sich daher besonders großer Beliebtheit. Fühlen sich viele Nutzer*innen angesprochen, steigt die Chance auf Likes. Erinnerung über Instagram wirkt zwar interaktiv, eine profunde Auseinandersetzung garantiert sie aber noch lange nicht.

Gerne tauchen Zitate von Frank und Scholl in gänzlich entpolitisierten Beiträgen auf, in denen es um ‚Lifestyle-Improvement‘ geht: Ihre Worte werden zur Selbsthilfe, zur Inspiration oder zum „Mutmachen“ bemüht. „Einfach mal zum Nachdenken“ entlässt der Account @highersoulmate ein Zitat Anne Franks in die digi­tale Welt und lädt dazu ein, „deine Selbstheilungskräfte✨“ zu entfalten und „deinen spirituellen Weg“ zu finden. Dieser Feel-Good-Charakter der Beiträge erscheint auf erschütternde Art unangemessen.

Die Beiträge wirken, als wäre ihr makabres Motto: ‚Diese Frauen konnten ihrem ‚Schicksal‘ nicht entrinnen, doch du kannst so viel aus deinem Leben machen – nimm es in die Hand und genieße es!‘ Und optional: ‚Kaufe dafür unser Produkt!‘ Denn natürlich lässt sich auf Instagram mittlerweile fast jeder Inhalt auch zu Geld machen. Kein Anlass scheint zu ernst, um zu einer Werbeanzeige zu werden. So fordert uns Sophie Scholls Ausruf „Schluss. Jetzt werde ich etwas tun!“ zu Weinkonsum und Frauenpower auf. Mit Anne Franks Satz „Papier hat mehr Geduld als Menschen“ wird uns die Verwendung von nachhaltigem Papier nahegelegt. Und dank ihrer Worte „Niemand ist je durch Geben arm geworden“ haben wir die Chance auf ein kostenloses Coaching zur „Förderung meiner Existenzgründungs­beratung“. Sophie Scholl und Anne Frank werden zu kontextoffenen Zitatspenderinnen, die Spuren ihrer Vergangenheit von Selbstdarstellung und Werbung aus dem Bild gedrängt.

Ikonen der Erinnerung

Um zu verstehen, wie Anne Frank und Sophie Scholl zu ihrem Platz im kollektiven Gedächtnis gekommen sind, lohnt sich noch ein kurzer Blick zurück. Der Holocaust-Forscher Oren Baruch Stier geht davon aus, dass das kulturelle Gedächtnis an den Holocaust von mehreren verdichteten symbolischen „Icons“ getragen wird. Als kon­krete Anknüpfungspunkte ermöglichen sie eine erleichterte Annäherung an die Komplexität der Vergangenheit, insbesondere an die Unvorstellbarkeit des Holocausts.

Fotografien, Statistiken, Relikte und eben auch Personen können diese Funktion einnehmen – sie sind prägnant, zugänglich und nicht überwältigend. Gleichzeitig stehen sie sinnbildlich für eine komplexere Konstellation von Ereignissen und Erzählungen. Wie etwa die Aussage der Widerstandskämpferin: „Steh zu den Dingen, an die du glaubst. Auch wenn du alleine dort stehst“, oder die Worte der im Versteck lebenden Jüdin: „Rad fahren, tanzen, in die Welt schauen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin, danach sehne ich mich.“ Für Baruch Stier bietet sich gerade Anne Frank als eine solche Ikone an: Ihre Erfahrung in der Zeit des Holocausts ist persönlich in ihrem Tagebuch vermittelt, der Einblick in ihr alltägliches Leben besonders nahbar für die Lesenden. Eine Möglichkeit, „das Fremde näher zu rücken“, wie der Historiker Wolfgang Hardtwig die Personalisierung von Geschichtsdarstellung nennt.

Das Fremde kann aber auch umso leichter zum Eigenen gemacht werden. Die geteilten Zitate von Anne Frank und Sophie Scholl nehmen höchstens Bezug auf einzelne Aspekte ihrer facettenreichen Persönlichkeiten. Sophie Scholl gilt als Antikriegsaktivistin und Verfechterin von Meinungsfreiheit, Anne Frank inspiriert als frühreifer Geist, als Tagebuchschreiberin oder als Optimistin. Wahlweise werden beide als Feministinnen bezeichnet. Das Problem dabei: Wo solcherlei Details hervorgehoben werden, werden andere Aspekte zwangsweise vernachlässigt. Diese hohe Selektivität ist für sich genommen schon ein Element der Fiktionalisierung, weiter verzerrt durch Perspektiven der Gegenwart.

Jana kommt nicht nur aus Kassel

Gerade aktuelle politische Zuschreibungen stecken den Deutungsrahmens der Zitate neu ab. Besonders deutlich lässt sich das an Jahrestagen beobachten: Anlässlich der Hinrichtung Sophie Scholls vor 80 Jahren wird ihr Widerstand von verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen unterschiedlich ausgedeutet: Die SPD München betont Scholls „Kampf gegen den Faschismus“, während die Allgemeine Deutsche Burschenschaft das „bürgerlich-studentische[] Umfeld“ des Widerstands hervorhebt und Scholls „christlichen Glauben“ und „ihre Aufopferungsbereitschaft“ in Erinnerung hält. Die AfD Hochsauerlandkreis nimmt ein – Sophie Scholl fälschlicherweise zugeschriebenes – Zitat zum Anlass, um klarzustellen: „Der wichtigste Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur kam nicht von der politischen Linken, wie man uns heute glauben machen will. […] [D]ie ‚Weiße Rose‘ um die Geschwister Scholl war vor allem konservativ-patriotisch geprägt.“

Die Feel-Good-Beiträge auf Instagram mochten noch für eine Banalisierung stehen, die man je nach Kontext als geschichtsvergessen oder harmlos abtun könnte, um dann zum nächsten Beitrag zu scrollen. Die politische Vereinnahmung hingegen benutzt die Zitate Anne Franks und Sophie Scholls nicht nur wegen des Prestiges. Sie dienen einer moralischen Legitimation, wie Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, sagt. Die Nutzer*innen stärken die Aussagekraft ihrer Beiträge einmal mehr durch die erinnerungspolitischen Ikonen Frank und Scholl.

Ihren traurigen Höhepunkt erreichte diese Instrumentalisierung in der Hochphase der Corona-Leugnung. Besonders das Andenken an Sophie Scholl wurde dem Zweck geopfert, auf der richtigen Seite im beschworenen politischen Gefecht zu stehen. Jana aus Kassel und ihr berühmter Sophie-Scholl-Vergleich bei einer Demonstration gegen die Corona-Politik der Bundesregierung ist nur ein Beispiel von vielen.

Accounts, die sich dem rechtskonservativen und rechtsradikalen Lager zuordnen lassen, bestehen auf einer Gleichsetzung der NS-Diktatur mit aktuellen politischen Verhältnissen in Deutschland, mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie oder dem Umgang der Bundesrepublik mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Hashtags lenken die Ausdeutung der Zitate grundlegend wie etwa #damalswieheute, #wirlassenunsnichterpressen, #ichmachdanichtmit, #denktdrandenktselbst, #ihrseitdasproblem (sic), #selbstdenkend oder #mitdenkenstattmitlaufen. Diese Geschichtsklitterung zeigt eine Kehrseite der neuen Niederschwelligkeit im Erinnerungsdiskurs: Vielstimmigkeit oder hohe Reichweite sind kein Garant für Expertise oder Redlichkeit.

Opfernarration und Überidentifikation

Aber warum sind es immer wieder Sophie Scholl und Anne Frank, die zitiert werden? Was bedeutet es, dass gerade diese spezifischen Stimmen aus dem Widerstand und dem jüdischen Opferkreis, verglichen mit anderen historischen Personen aus der NS-Zeit, so präsent sind? Und auf wessen Kosten geht die große Sichtbarkeit dieser Inhalte?

Zum einen sind ihre Geschichten anschlussfähig: Der Widerstand der Weißen Rose ist nicht an eine religiöse oder politische Gruppierung gebunden. Genauso wenig wie Anne Frank einer konkreten politischen Ideologie anhing. Das erleichtert die Vereinnahmung ohne große Gesinnungshürden. Und die Gleichsetzung von Vergangenheit und Gegenwart geht umso nahtloser mit einer Entwicklung einher, die maßgeblich die neuen Akteur*innen des Erinnerungsdiskurses selbst betrifft: die Identifikation. Nach der Art: ‚Wie Sophie Scholl oder Anne Frank in der Vergangenheit Opfer des Systems wurden, bin ich heute Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse.‘ Welche auch immer das sein mögen.

Doch es ist nicht nur der Opferstatus, den sich die Nutzer*innen damit selbst zuschreiben, es ist die Rolle der Heldin, der mutigen Widerstandskämpferin, der Trägerin des guten Gewissens im Kampf gegen das Böse, die sie in grotesker Selbstverherrlichung einnehmen. Hier ist bereits der Punkt überschritten, an dem die sozialen Medien als alltagsnahe Plattform eine Brücke schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, an dem die historischen Personen als Anknüpfungspunkte der Anteilnahme dienen. Wenn Menschen sich als Sophie Scholl inszenieren oder die Perspektive Anne Franks vereinnahmen, ist Empathie zur Selbstidentifikation geworden.

Diesen Eindruck bestätigen auch die Zahlen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, das seit 2018 die MEMO-Studie, den Multidimensionalen Erinnerungsmonitor, veröffentlicht: Im Jahr 2020 waren insgesamt 68 Prozent der befragten Deutschen der Meinung, dass ihre Vorfahren im Nationalsozialismus potenziellen Opfern geholfen haben oder selbst Opfer waren. Nur etwa jede fünfte befragte Person wusste hingegen von Täter*innen in der eigenen Familie zu berichten. Die Selbstwahrnehmung als Täter*innenvolk ist lange nicht so attraktiv wie das Narrativ eines eigenen Opferseins – eine Sprechposition, die der Großteil deutscher Biografien nicht hergibt. Für den aber Instagram die geeignete Plattform bietet: Mühelos lässt das Ideal authentischer Subjektivität das Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen verschwimmen.

Die Präsenz der beiden Frauen in den sozialen Medien garantiert keineswegs eine Sensibilisierung für historische Prozesse oder die Übernahme von Verantwortung. In ihrer Verflachung und Verzerrung dienen die kontextbefreiten Zitate vor allem der Entlastung der Täter*innen und ihrer Nachfahren. Sie kommen symbolischen Gesten gleich, die von der eigentlichen Auseinandersetzung befreien: der Beschäftigung mit den Täterstrukturen und der eigenen Gewaltgeschichte. Damit nehmen sie eine Rolle im „Versöhnungstheater“ ein, das Max Czollek in seinem gleichnamigen Essayband darlegt: „[E]s erzeugt das Bild einer mit den Juden und damit sich selbst versöhnten Gesellschaft, die nun […] eintreten kann in einen Prozess der Normalisierung.“ So besiegelt das Liken und Teilen die Wiedergutwerdung der Deutschen auch im digitalen Raum.

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Über Türen in Hörspielen – wie Geräusche Räume erzählen

von Andrea Geißler

EIN TÜRSPALT

Studio 7 ist das Hörspielstudio beim Hessischen Rundfunk. Es ist über dem Sendesaal in der Mitte des Rundbaus gelegen und an den Redaktionstagen umlaufe ich es ständig in viertel, halben oder ganzen Kreisen. Denn die Redaktionsbüros sind im äußeren Ring des Gebäudes untergebracht, die Türen vom umlaufenden Ringflur nach innen führen alle zum Studio. Ins Studio dringt nicht nur kein Ton von draußen, sondern auch kein Lichtstrahl. Dafür sind Tageslichtlampen in der Beleuchtung verbaut.

Wenn ich ins Innerste des Hörspiel-Studios will, dorthin, wo die großen Mischpulte und die Aufnahmetechnik sind, muss ich jeweils vier, fünf Türen passieren, denn es befindet sich im runden Kern des Gebäudes und ist gesichert wie ein Tresorraum: Es gibt Sicherungstüren mit Spezialschloss, Schallschutztüren, Flügeltüren zum Klavierraum und ganz normale Türen zwischen Küche und Aufnahmeräumen. Diese “Küchentüren” gehören bereits zu den Kulissen, wobei alle Kulissen dort akustisch gedacht sind. Darum hat eine Treppe auch zweigeteilte Stufen: die linke Trittseite aus Holz, die rechte aus Metall, akustisch sind es folglich zwei Treppen.

Die Türen jedenfalls tun ihr Bestes, um jegliche Eindringlinge abzuhalten. Das liegt daran, dass die Zeit durchgetaktet ist, wenn ein Hörspiel aufgenommen und produziert wird, sagen Regie und die Techniker*innen. Aber ich weiß, dass das nicht alles ist: es gibt eine bestimmte Intimität, die diese kleine Gemeinschaft im Inneren des Studios miteinander teilt und in die niemand eindringen soll.

LUFT

„Dass man einen ganzen Haufen Zeit zusammendrücken kann wie ‘n bisschen Luft in der hohlen Hand…“ – so heißt es in Marie-Luise Kaschnitz‘ Hörspiel „Was sind denn sieben Jahre“ (1955) und das trifft ziemlich genau, wie sich Hörspiele anfühlen: Sie sind viel „Luft in der hohlen Hand“ im Vergleich zu einem Buch, das greifbar aus Papier besteht. Sie sind auch „Luft“ im Vergleich zu einem Theaterstück, das in seiner Materialisierung auf einer Bühne – in Kulissen und Kostümen und überhaupt Körpern – so substanziell ist.
Dagegen ist ein Hörspiel erst in der Luft – im Ohr – wenn ein Play-Button gedrückt wird. Ist es darum in Wahrheit der Musik näher als der Literatur? Vielleicht.

„Dass man einen ganzen Haufen Luft zusammendrücken kann“, das sagt Tony über die sieben Jahre, die vergangen sind, seit sie ihren Mann zuletzt gesehen hat. Jetzt erst kehrt er zurück, Jahre nachdem der Krieg vorbei ist. Wie wird es sein, ihn nun wiederzusehen? Tony bezieht die Betten frisch, sie geht zum Friseur und fragt ihre Schwester, ob sie sich erinnere, wie sie vor sieben Jahren ihre Haare trug. Tony hat einen Tag Zeit, um sich nach der Nachricht über die Rückkehr auf eben diese vorzubereiten und ihre Erinnerungen zurückzurufen. Im Hörspiel sind die Zeit-Ebenen ineinander geblendet: die Reflexionen Tonys über ihre gegenwärtige Situation, ihre Erinnerungen und alltägliche Gespräche mit den Menschen, denen sie an einem solchen Tag gewöhnlich begegnet. Die Dialoge sind darum das Unmittelbarste, das im Hören besonders nahekommt; die Gedanken und Erinnerungen liegen ferner.

Die Germanistin Sieglinde Klettenhammer beschäftigte sich ausführlich mit Kaschnitz‘ Hörspielen und stieß auf eine Bemerkung, die Kaschnitz im Band „Engelsbrücke“ übers Hörspiel-Schreiben machte: Die Schriftstellerin schätze „die Möglichkeit, die Kategorien des Ortes, der Zeit und der Handlung” außer Acht lassen zu können, „mit diesen Kategorien nach eigenem Belieben umspringen, herumspringen“ zu können, „vor- und rückwärts, durch ein ganzes Leben, durch die Geschichte, durch die Welt“. Gleichzeitig sei es ein Leichtes, dabei eine „Formkraft“, zu wahren, „die das Auseinanderfallen verhütet und die einzelnen Glieder in einer ganz bestimmten, musikalischen Beziehung zueinander erhält.“ 

Ein anderer Schriftsteller dieser Zeit, Friedrich Dürrenmatt, hatte auf seine Art eine leichte, spielerische Herangehensweise an das Schreiben eines Hörspiels: „Man atmet anders im Hörspiel“, erklärte er 1964 gegenüber Dramaturg Heinz Hostnig. Er fände gewissermaßen „Entspannung“ im Hörspiel, er sei dabei nicht so besorgt um das Theater und die Bühne, um das „Auftreten von Menschen“ wie beim Schreiben eines abendfüllenden Theaterstücks.

SCHALL

Die Geschichte des Hörspiels umfasst nunmehr fast 100 Jahre: Am 24. Oktober 1924 wurde im Frankfurter Sender (damals „Südwestrundfunk AG“) das Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ live in den Äther gefunkt, gerade mal ein halbes Jahr, nachdem dort der Betrieb überhaupt erst aufgenommen worden war. Sendeleiter Hans Flesch schrieb die „Senderspielgroteske“ eigentlich als Störung des Sendebetriebs: Eine „Märchentante“ löst den abendlichen Spuk aus, denn sie möchte auch einmal um diese Zeit ein Märchen erzählen. Der Sendeleiter „Dr. Flesch“ versucht sie aufzuhalten, doch auf einmal geht es drunter und drüber: Das “Mütterchen” fängt an zu erzählen, Zahlen, Tanzmusik und sogar eine Trompete spielen durcheinander, bis es den Rundfunkleuten schließlich gelingt, den „akustischen Schabernack“ wieder in Ordnung zu bringen, wie es im Pressetext zur Neuproduktion des Hessischen Rundfunks von 1962 heißt. Denn Originalaufnahmen gibt es davon nicht, entsprechende Aufnahme- und Schnitttechniken wurden erst später entwickelt. Der experimentierfreudige Flesch allerdings hat das Hörspiel (und das Radio) in Deutschland nicht nur mit seiner „Zauberei“ geprägt, sondern auch mit seinem Verständnis, was dieses neue Medium sein könnte: Er holte die Literatur und die intellektuelle Szene ins Radio: Bert Brecht, Kurt Weill, Walter Benjamin, Paul Hindemith, später Theodor Adorno.

Aber die Geschichte des Hörspiels ist keine Geschichte von Männern. Im Gegenteil: unter den prägendsten Figuren waren Fränze Roloff und Cläre Schimmel. Die beiden Namen, die zusammen klingen wie ein Wortspiel, wurden oft in einem Atemzug genannt. Fränze Roloff, eigentlich Franziska, baute das Hörspiel im Hessischen Rundfunk auf. Cläre Schimmel, eigentlich Klara, tat dies beim Südwest Rundfunk.

Fränze Roloffs Hörspiele sind puristisch kammerspielartig inszeniert, zumeist ohne Musik, auffallend ist immer wieder die Bestimmtheit ihrer Inszenierungen, in ihren Dialogen bleiben Betonungen nicht vage. Es treten viele Männer in Hörspielen auf zu dieser Zeit, reden sehr vernünftig und überlegen. Frauen hingegen klingen eher wie Mädchen, mit einschmeichelnder Spielhaltung in hoher Stimmlage, allzeit bereit, ohnmächtig in männliche Arme zu fallen. Fränze Roloff ließ ihren Darstellerinnen diese klischeehafte Rolle nicht so leicht einnehmen – oder drängte sie nicht in diese Unterwürfigkeit, wie manche Regisseure das möglicherweise taten. In ihren Hörspielen klingen die Sprecherinnen jedenfalls wenig unterwürfig. Das ist sicher kein Zufall: Fränze Roloff wurde 1896 geboren, war zunächst Schauspielerin und um 1926 für einige Zeit Leiterin der Schauspielschule an der Berliner Volksbühne – und das, als sie selbst erst in ihren Zwanzigern war. Während der Nazi-Zeit tauchte sie unter, weil sie für den ihr unbekannten Vater keinen Arier-Nachweis erbringen konnte und nicht weiter an exponierter Stelle an der Berliner Volksbühne bleiben konnte. Nach dem Krieg holte man sie zu Radio Frankfurt, dem späteren Hessischen Rundfunk. Dort entwickelte sie den Kinder- und Jugendfunk und die Hörspielabteilung. Bis in die 70er Jahre hinein wirkte Fränze Roloff an rund 170 Produktionen mit – ob als Sprecherin oder in den meisten Fällen als Regisseurin. Damit ist sie eine der wichtigsten Pionierinnen für das Hörspiel im Hessischen Rundfunk. Die Erinnerung an sie wurde bisher vernachlässigt – sogar ihr genaues Todesjahr (1975) ist nicht öffentlich bekannt; einen Nachruf verbat sie sich zu Lebzeiten, all das ist nur auf Anfrage aus dem Unternehmensarchiv zu erfahren.

Zu Cläre Schimmel lässt sich immerhin ein Nachruf der Stuttgarter Zeitung finden, in dem sie als prägend für die „goldene Zeit des Hörspiels“ in den 50er Jahren beschrieben wird – damals lagen die Quoten der Zuhörenden regelmäßig in Millionenhöhe. Cläre Schimmel wurde in den 1930er Jahren erst als Opernsängerin berühmt, bevor sie sich der Schauspielerei zuwandte und eine Ausbildung zur Rundfunksprecherin machte. 1950 wurde sie beim Süddeutschen Rundfunk Leiterin der Hörspielabteilung. Ihr dramaturgisches Verständnis von Hörspielen erklärte sie einmal in einem Interview: sie wollte „nie mehr als die Sprache selbst sprechen lassen“.

Sieglinde Klettenhammer (wie auch Reinhard Döhl, Ulrike Schlieper u.a.) wies mit Blick auf die 50er und 60er Jahre auf die gängige Unterscheidung zwischen „wortzentriertem traditionellem“ und „schallorientiertem Neuem Hörspiel“ hin. Denn während die meisten Hörspiele aus dieser Zeit naturalistisch und mit wenigen (meist musikalischen) Akzenten inszeniert wurden, nutzte das „Neue Hörspiel“ die damals neuen technischen Möglichkeiten als dramaturgische Gestaltungsmittel: Schnitt, Überblendungstechniken und Montage. Dabei kam in den letzten 20 bis 30 Jahren noch eine weitere technische Neuerung hinzu, wie Leonhard Koppelmann und Silke Hildebrandt in „Archivschatz: Das Hörspiel vom Hörspiel“ beschreiben. Seit Tonspuren digital verfügbar sind und in unbegrenzter Zahl und Breite angelegt werden können, sind „invasive“ Schnitte, im Grunde irreversible „Zerstörungen“ der Tonbänder nicht mehr nötig. Damit ist der Spielraum etwa für experimentelle Montagen oder chorische Inszenierungen unendlich geworden.

SCHLÜSSELGERÄUSCHE

Die Geschichte des Hörspiels ist lang und respekteinflößend. Wie verorten wir uns darin, die selbst noch am Anfang stehen? Wie Hörspiele machen, Hörspiele schreiben nach 100 Jahren Hörspiel? Mir hilft das Öffnen von Türen. Ganz konkretes Beispiel: zwei Personen – vielleicht ein Paar – unterhalten sich und gehen in einen anderen Raum, dort setzt sich ihre Geschichte fort. Wäre dies ein Roman, so würde neben dem Dialog der beiden ihr Aussehen beschrieben werden, vermutlich der Raum, in dem sie sich bewegen, vielleicht welche Gedanken sie haben. Wäre es ein Theaterstück, so wäre die Präsenz ihrer Körper dominant für die Wahrnehmung des Publikums. Gestikulieren sie? Berühren sie einander? Wie füllen ihre Körper diesen Raum aus (oder nicht)?

Im Hörspiel hingegen könnte die Tür entscheidend für die ganze Szene sein: Sie ist Trenner, Öffner, Rahmengeräusch für die Verortung der beiden Figuren. Die Tür trennt die Unterhaltung in drinnen und draußen. Durch das Zufallen einer Tür wird möglicherweise erst klar, dass die beiden draußen waren, in der Öffentlichkeit und nun in einen privaten Raum eintreten, in dem ihre Aussagen ganz anders wahrgenommen werden.

Ich hatte einen solchen Tür-Schlüssel-Moment als ich für „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ von Safiye Can Regie führte: Die beiden Hauptfiguren Sophia und Friedrich  kommen vom Einkaufen, öffnen die Haustür, scherzen weiter im Treppenhaus, öffnen die Wohnungstür mit einem Schlüssel, und als diese hinter ihnen zufällt, sind sie in einem Wohnzimmer unter sich. Für diese Szene wurden Sprachaufnahmen in zwei Räumen gemacht: „draußen“ im schalltoten Raum, (die Straßen-„Atmo“ wurde später daruntergelegt) „drinnen“ ist ein kleinerer Aufnahmeraum, der durch Stoffe, Holzmöbel und ein Bett behaglicher, intimer klingt. Das Fehlen der visuellen Wahrnehmung verlangt Spielenden eine paradoxe Schauspielleistung ab: Ob sie einander nahe sind, einander berühren, ist in einer Szene ja nicht zu sehen, nur zu hören. Also berühren sie sich bei den Aufnahmen gar nicht, sie nesteln an ihren eigenen Kleidern oder kneten ein Kissen, sie schmatzen auf ihre eigenen Handrücken, wenn ein Kuss zu hören sein soll. Ihre Stimmen verkörpern ihre Körper und mehr findet hinter den Kulissen nicht statt: In Wahrheit teilen sie sich nicht einmal ein Mikro. Zwei Liebende-Spielende im Hörspiel wahren so viel Distanz wie heimliche Liebespaare in ihren Briefen im 19. Jahrhundert.

Dagegen die Tür: an ihr ist alles echt. Ein paar Tage nach den Aufnahmen – Kristin Alia Hunold und Murat Dikenci („Sophia“ und „Friedrich“) waren längst abgereist – da saß ich mit der Cutterin und dem Tontechniker im Studio und wir bauten die Szene, wir bauten die Türen ein. Also hörten wir dutzende Tür-Aufnahmen an, die nicht in Frage kamen: „Die ist zu massiv, das ist ja ein Bunker!“ „Die geht nach draußen auf, nicht nach drinnen.“ „Jetzt sind sie ja in einer Kirche, nicht in einem Treppenhaus.“ „Die Tür schnappt zu wie eine Balkontür, das kann nicht sein.“ „Klingt nach Hörsaal, nicht nach Studenten-WG.“ – Es fanden sich die richtigen Türen, und die perfekten Schlüsselgeräusche – wie der Schlüssel nach dem Türschließen beiläufig in einer Schale abgelegt wird – nahmen wir selbst auf. Regie ist manchmal nur Geräusche machen.

SPRACHE

Dafür liegen auch Schreiben und Schneiden nah beisammen. Das Schreiben eines Hörspiels ist ein zweifacher Prozess des Kürzens und Verdichtens: Schon im Schreiben gilt der Versuch, alles Redundante zu streichen; sind die Texte aufgenommen, wird der Schnitt mit gleicher Strenge ausgeführt. Was übrig bleibt, muss dicht sein, schlüssig, mit klaren Bezügen in der Narration. Denn Hörende sind so viel ungeduldiger als Lesende. Wenn ein unverständlicher Satz sie aus dem Hörfluss wirft, sind sie verloren, sie werden abschalten. Wortzentriert heißt also: fokussiert, auf wenige Worte, die besser nachhallen als wiederholt werden.

Und doch ist Sprache auch eine besondere Möglichkeit des Hörspiels, vielmehr: Sprachen sind es. Ein Buch in Übersetzung löscht die Originalsprache im Normalfall vollständig, es ist keine Überschreibung, weil die Übersetzung das Original tilgt. Selten werden zweisprachige Ausgaben von Büchern angefertigt, in diesem Fall stehen die beiden Sprachen nebeneinander.
Das ist bei Audios anders: Simultan-Übersetzungen sind akustische Palimpseste. Die Originaltonspur liegt drunter, sie wird nur gedimmt, „geduckt“, wie man sagt. Anfang und Ende, die „Ränder“ bleiben dabei vollständig sichtbar.
Diese Sprach-Sichtbarkeit auf Tonspuren ist ein Potential, welches Hörspiel-Macher*innen inzwischen mehr und mehr zu nutzen wissen. Hier werden polyglotte Sprachflächen bewusst ineinander geblendet, sie unterlaufen sich gegenseitig, sie überschreiben einander. Sprachen wollen gehört werden und Inszenierungen lassen es zu.

Regisseurin und Komponistin Ulrike Haage gab bei meinem Hörspiel „Hyperbolische Körper“ den Sprachen viel Raum, oder vielmehr: Ebenen. In dieser Utopie unterhalten sich die russische Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (geb. 1850) und die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani (geb. 1977) über die Möglichkeit, statt realen Körpern „hyperbolische“ zu haben. Vielleicht könnte so wirkliche Gleichheit und Gleichberechtigung erreicht werden? Kowalewskaja und Mirzakhani streiten über diese Vision, erinnern sich an ihre Vergangenheiten, an Verluste von Kindheiten und sie vergegenwärtigen die Fragilität ihrer Körper. Ihr Dialog ist mehrsprachig und findet außerhalb der Zeit und außerhalb von Räumen statt. Hier sind Sprachen auch Flächen, Ebenen. Darum gibt es  weder Fragen nach den richtigen „Türen“ noch nach einem drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit. Stattdessen ist die Frage der Räumlichkeit eine mathematische – und eine akustische. 

Das Hörspiel hat genug Spielraum für sprachliche und körperliche Utopien. Eine davon wird inzwischen häufiger in der Besetzung praktiziert: Rollen werden genderblind besetzt. Denn noch immer gibt es statistisch mehr Männerrollen, auch im Hörspiel gibt es besonders für Schauspielerinnen mittleren Alters wenige Rollen. Wo es möglich ist, versucht die Besetzung hier starre Geschlechtszuschreibungen zu umgehen: Männliche Jugendliche dürfen auch mal etwas androgyner klingen und mit einer jungen Schauspielerin besetzt werden – ein Beispiel ist etwa Lotte Schubert in Matthias Brandts „Blackbird“ (Regie: Leonhard Koppelmann). Ähnlich verhält es sich mit fabelhaften Wesen, sprechenden Tieren, Erzählstimmen: hier entscheidet die Stimmfarbe und weniger die Tonlage. Ohnehin gewinnen Verschiebungen an Bedeutung: Verschiebungen zwischen Text und Tonspur – wenn etwa Sprachen und Körper nicht notwendigerweise miteinander identifiziert werden. So entstehen Zwischenräume zwischen Text und Sprache ganz oft dadurch, dass Zeilen nicht mehr von denen gesprochen werden, denen sie im Text zugeordnet sind – wie in Das große Heft von Ágota Kristóf (Regie: Erik Altorfer).

Wohin geht es jetzt im Hörspiel? Die Entwicklung tendiert – wieder – zum seriellen Erzählen. Klassiker wie die „Herr der Ringe“-Großproduktion aus den 1990ern erleben eine Renaissance, ebenso wie Bastian Pastewkas lakonische Zwiegespräche mit den Schatten der Hörspielkrimi-Vergangenheit in seinem Kein Mucks!-Podcast und schließlich gehörte zu den erfolgreichsten Serien zuletzt die „10 Atemzüge“ vom Autorinnen-Team Simone Buchholz, Berit Glanz, Mareike Fallwickl und Karen Köhler. Worum es hier geht? Sagen wir: um alles das, was sich üblicherweise hinter verschlossenen Türen abspielt.

Beitragsbild runnyrem

Körper und Provokation – Über eine Werbekampagne der Familie Klum

von Annika Brockschmidt und Rebekka Endler

Zwei unterschiedliche, sehr schöne Frauen posieren in Unterwäsche, plakatiert lebensgroß an Haltestellen in ganz Deutschland. Soweit, so wenig ungewöhnlich – Calzedonia macht zur Zeit nach  diesem Rezept Werbung: Die eine Frau ist sehr schlank, die andere ist es nicht. Zwei Bikinifiguren, von denen eine noch bis vor wenigen Jahren nicht als solche hätte bezeichnet werden können, ohne dass eine öffentliche Debatte losgetreten wird. Dass es heute, 2023, kein Aufsehen mehr erregt, ist eindeutig als Fortschritt zu verzeichnen. 

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Die Sicht der anderen – Wie True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

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Normalisierte politische Gewalt

von Annika Brockschmidt

Am 4. Dezember 2022 trafen acht Kugeln das Haus des Bernalillo County Commissioner Adriann Barboa. Am 11. Dezember folgten 12 Kugeln. Am 3. Januar diesen Jahres schlugen drei Kugeln in das Haus von Linda Lopez, Senatorin von New Mexico, ein, die den Distrikt 11 vertritt. Sie durchschlugen das Fenster des Schlafzimmers ihrer zehnjährigen Tochter, die zum Zeitpunkt des Angriffs schlief und durch die Schüsse geweckt wurde. Nachdem der State Representative (Bundesstaats-Abgeordnete) Javier Martínez von den Anschlägen auf die Häuser seiner Kollegen gehört hatte, überprüfte er sein eigenes Haus – und fand Einschusslöcher. Ziel der Anschläge waren in öffentliche Ämter gewählte Demokraten.

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Das Problem mit Bully – Mobbing, Queerness und ‚Der Schuh des Manitu‘

von Kais Harrabi

Als Teenager haben mich viele Filme geprägt: David Lynchs „Blue Velvet“ zum Beispiel, den ich das erste Mal mit 13 oder 14 nachts im Fernsehen sah und von dem ich nur die Hälfte begriff, der bei mir aber das Interesse an düsteren Geschichten mit moralisch komplexen Figuren geweckt hat. Die unzähligen Thriller und Actionfilme der 80er und 90er Jahre, die Gesichter von Schauspieler*innen wie Deborah Kara Unger oder Michael Ironside, die wie ein filmisches weißes Rauschen die Abende und Nächte vor dem Fernseher begleitet haben, alle 20 Minuten durchbrochen von Werbung für Sekt, Schnaps oder Telefonsex. Weder die Filme noch die beworbenen Produkte waren für Teenager sonderlich geeignet. Meine Mutter war verständlicherweise besorgt, was für einen schädlichen Einfluss all die Gewalt und der Sex im Fernsehen (und später auch im Kino) auf mich haben könnten. Dabei waren es gar nicht die Thriller und Actionfilme, die bei mir die tiefsten Spuren hinterlassen haben, sondern Komödien der frühen Nullerjahre, allen voran die von Michael „Bully“ Herbig.

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