Kategorie: Feuilleton

Guilty Pleasures – Die Dornenvögel revisited

von Cecilia Colloseus

CN/TW: Grooming, katholische Kirche, sexualisierte Gewalt, Inzest

Die Dornenvögel gilt weltweit als eine der meistgesehenen Miniserien aller Zeiten. Im Frühjahr 1983 wurde der Vierteiler, basierend auf dem 1977 erschienenen Roman von Colleen McCollough, erstmals ausgestrahlt. Als sogenannter Straßenfeger holte das als Vom Winde verweht Australiens bezeichnete Epos auch in Deutschland ein Millionenpublikum vor die Fernsehbildschirme. Bereits vor der Ausstrahlung sorgte es aber auch für kontroverse Diskussionen und erntete harsche Kritik.

Kirchenvertreter auf der ganzen Welt sahen in der Geschichte um die Beziehung zwischen einem Priester und einer jungen Frau einen Affront gegen die katholische Kirche. Der Skandal wurde vor allem in der Verletzung des Zölibats gesehen, die in der Miniserie gezeigt wird. Auch der Zeitpunkt der US-Erstausstrahlung (in der Karwoche 1983) wurde als problematisch erachtet. Dass in der Verfilmung des Bestsellers die „romantische“ Annäherung zwischen einem Priester und einem neunjährigen (!) Kind ein zentrales Handlungselement ist, wurde damals hingegen mit keinem Wort thematisiert, geschweige denn problematisiert.

Vor dem Hintergrund der sexualisierten Gewalt und ihrer Vertuschung in der katholischen Kirche, die in den vergangenen Jahrzehnten – im deutschsprachigen Raum vor allem seit 2010 – bekannt wurde, wären weder der Roman und seine Verfilmung noch die damals geäußerte Kritik daran heute denkbar. Und es ist durchaus erstaunlich, dass es in der Zwischenzeit keinerlei öffentliche kritische Auseinandersetzung mit der Miniserie gab. Immerhin werden die vier jeweils zweistündigen Filme seit 1983 immer wieder im deutschsprachigen Fernsehen wiederholt. Andererseits nimmt es aber auch nicht wunder, dass eine öffentliche Rückschau ausblieb, galten doch der Roman und seine Verfilmung als seichte „Frauenliteratur“, als „sentimentale Unterhaltung, die an der Wirklichkeit vorbeizielt“ und deshalb nicht der Rede wert sind.

Ich will zum einen versuchen, die kritische Debatte um den Bestseller und seine Verfilmung – zumindest im Kleinen – nachzuholen. Ich beschäftige mich mit Grooming, grenzverletzendem Verhalten, sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Zum anderen begebe ich mich aber auch auf die Suche nach Antworten, woher die Faszination für das Werk kommt, und befasse mich mit seinen homoerotischen Subtexten, dem Female Gaze, der (katholischen) Camp-Ästhetik und der „Hot Priest“-Trope. 

„Love. Unattainable. Forbidden. Forever.” – Die zentrale Handlung

New South Wales 1915: Der junge irische Priester Ralph de Bricassart wurde wegen Ungehorsams gegenüber seinem Bischof nach Australien versetzt. Dort wird er von der wohlhabenden Großgrundbesitzerin Mary Carson protegiert. Die beschließt, ihren mittellosen Bruder Paddy Cleary mit seiner Familie als Pächter ihrer Schaffarm Drogheda einzusetzen, für die Ralph als Pfarrer zuständig ist.

Bereits bei ihrer ersten Begegnung fühlt Ralph eine besondere Verbindung zu Paddys einziger Tochter, der neunjährigen Meghann (genannt Meggie). Da sie von der Familie vernachlässigt wird, nimmt sich der junge Priester ihrer an. Ralph und Meggie bauen eine enge emotionale Beziehung auf. Je älter Meggie wird, desto deutlicher wird, dass sich beide auch erotisch zueinander hingezogen fühlen. Das bleibt Mary Carson nicht verborgen, die den als besonders attraktiv geltenden Ralph ebenfalls begehrt. Unmittelbar vor ihrem Tod sorgt sie durch eine Testamentsänderung dafür, dass Ralph dazu gezwungen wird, Karriere in der katholischen Kirche zu machen (ja, das ergibt keinen Sinn). Er verlässt Drogheda, um zunächst Bischof von Sydney und später Kurienkardinal zu werden, d.h. ein hochrangiger Beamter im Vatikanstaat. Die tief verletzte Meggie heiratet den Tagelöhner Luke O’Neill, der eine vage äußerliche Ähnlichkeit mit Ralph hat, und bekommt die gemeinsame Tochter Justine. Luke hat jedoch keinerlei Interesse am Familienleben und bringt Meggie als Haushälterin bei einem befreundeten Paar unter, um selbst auf einer Zuckerrohrplantage zu arbeiten.

Als Meggie zu einem Erholungsurlaub auf die australische Insel Matlock geschickt wird, kommt es zum Wiedersehen und einer kurzen leidenschaftlichen Affäre mit Ralph. Der entscheidet sich jedoch erneut gegen Meggie und für sein Leben als geistlicher Würdenträger. Nach ihrer Rückkehr von Matlock Island schläft die nun von Ralph schwangere Meggie ein letztes Mal mit Luke, um keine Spekulationen um ihre Schwangerschaft aufkommen zu lassen, und lässt sich scheiden. Mit ihrer Tochter und dem neugeborenen Sohn Dane kehrt sie zurück nach Drogheda. 

Nach einem Zeitsprung von 19 Jahren kehrt Ralph, inzwischen Kardinal, nach Australien zurück und lernt den erwachsenen Dane kennen. Er baut eine väterliche Beziehung zu Dane auf, in dem Glauben, dass Luke dessen Vater sei. Dane entscheidet sich, auch beeinflusst durch seinen engen Kontakt zu Ralph und sehr zum Leidwesen seiner Mutter, ebenfalls für den Priesterstand. Während einer Reise nach Griechenland stirbt Dane und Meggie offenbart Ralph dessen Vaterschaft. Kurz darauf stirbt auch Ralph.   

“She was a child and therefore no danger to his priestly reputation” – Ralphs Zuneigung zu Meggie als Grooming

No one thought of her as important, which meant there was a space in her life into which he could fit himself and be sure of her love; she was a child, and therefore no danger to his way of life or his priestly reputation; she was beautiful, and he enjoyed beauty; and, least acknowledged of all, she filled an empty space in his life which his God could not, for she had warmth and a human solidity. Because he could not embarrass her family by giving her gifts, he gave her as much of his company as he could, and spent time and thought on redecorating her room at the presbytery; not so much to see her pleasure as to create a fitting setting for his jewel. No pinchbeck for Meggie. (McCollough 2008, 111)

In ihrem Essay Grooming in the Thornbirds arbeitet Grace Lapointe heraus, dass Ralphs Verhalten Meggie gegenüber als Grooming gelesen werden kann oder sogar muss. Sie plädiert dafür, die Beziehung der beiden konsequent nicht als Romanze zu lesen, sondern als Geschichte eines lebenslangen emotionalen Missbrauchs. Wie in der zitierten Passage deutlich wird, ist Meggie in erster Linie eine Projektionsfläche für die Intimitätsprobleme eines erwachsenen Mannes. Unumwunden wird hier formuliert, dass es eben nicht um die Emotionen des Kindes geht, sondern um die krankhafte Fixierung auf eine idealisierte und gleichzeitig objektifizierte Person. Im selben Kontext beschreibt McCollough:

She had moved him unbearably, and he didn’t really know why. There was […]her character, which he saw as the perfect female character, passive yet enormously strong. No rebel, Meggie; on the contrary. All her life she would obey, move within the boundaries of her female fate. (McCollough 2008, 111)

Hier wird explizit ein „perfekter weiblicher Charakter“ heraufbeschworen, der durch gleichzeitige Passivität und Stärke gekennzeichnet ist. Der erwachsene Mann projiziert diese „perfekte Weiblichkeit“ auf ein Kind. Es muss also unterstellt werden, dass Ralphs Absichten nicht auf eine väterliche Sorge um Meggie beschränkt sind, sondern er schon in dieser frühen Phase ihrer Beziehung ein erotisches Interesse an ihr hat. Dass er dieses nicht reflektiert und die entsprechenden Konsequenzen daraus zieht, hat für Meggie verheerende Folgen, da sie alle Erwartungen für ihr späteres Leben an eine einzige Person knüpft. In einem Interview kurz vor ihrem Tod gab Colleen McCollough an:

Meggie in The Thorn Birds is basically my mother. I detested her. Can you imagine writing a 280,000-word book and hating your heroine? She was everything I despise in a woman. She suffered and, worst of all, she enjoyed suffering.

Bereits zu Beginn der Handlung hat Meggie unter der internalisierten Misogynie ihrer Mutter zu leiden – in deren Welt zählen nur die Söhne – und keine emotional zugewandte Bezugsperson. Diese Leerstelle füllt Father Ralph aus, der als sanftmütiger und herzlicher Gegenpol in einer kalten und harten Umgebung gezeichnet wird. Dass diese Zuneigung der Beginn einer lebenslangen Leidensgeschichte ist, aus der sich Meggie nicht befreien möchte, sondern immer wieder die Nähe zu Ralph sucht, unterstreicht die Aussage der Autorin, ihre Romanheldin genieße es, zu leiden. Dass Opfer von emotionaler Gewalt oder Manipulation oft nicht anders können, als in der schädigenden Beziehung zu bleiben, reflektiert McCollough nicht.  

Als Teil einer unbewussten Frauenfeindlichkeit der Autorin muss auch die Charakterisierung von Mary Carson verstanden werden. Sie entspricht dem Klischee der Vetula, der alten, lüsternen und enthemmten Vettel, und will den gutaussehenden Priester für sich selbst in Besitz nehmen. Sie kritisiert dessen enge Bindung zu Meggie, zieht daraus aber die völlig falschen Schlüsse. Besonders deutlich wird das in einer Szene, die so nur in der Verfilmung vorkommt. Meggie berichtet hier ihrer Tante von ihrer Unterbringung im Wohntrakt einer Klosterschule, die sie seit kurzem besucht und lädt Mary ein, sie dort zu besuchen:

Meggie (zu Mary): Father Ralph gave me my very own room — right next to his!

Mary: I wouldn’t want to disturb all your little … arrangements.

Mary problematisiert das „Arrangement“. Allerdings nicht, weil hier ein Erwachsener offenbar Grenzüberschreitungen gegenüber einem Kind begeht, sondern weil sie eifersüchtig ist. Auf ein neunjähriges Kind. In der Romanvorlage macht sie aus ihrer Eifersucht keinen Hehl und ist die Einzige, die Ralph auch zu diesem Zeitpunkt schon ein sexuelles Interesse an Meggie unterstellt:

„Why don’t you like her?“ Father Ralph asked […] „Because you do,“ she answered. „Oh, come now!“ For once she made him feel at a loss. „She’s just a waif, Mary.“ „That’s not what you see in her, and you know it.“ […] „Do you think I tamper with children? I am, after all, a priest!“ „You’re a man first, Ralph de Bricassart! Being a priest makes you feel safe, that’s all.“ Startled, he laughed. Somehow he couldn’t fence with her today; it was as if she had found the chink in his armor, crept inside with her spider’s poison. […] „I am not a man,“ he said. „I am a priest …. It’s the heat, maybe, the dust and the flies …. But I am not a man, Mary. I’m a priest.“ (McCollough 2008, 143)

Vor dem Hintergrund all dessen, was in den vergangenen Jahrzehnten zu sexueller Gewalt in der katholischen Kirche öffentlich wurde, ist diese Passage besonders bestürzend, die hier bemühte Argumentation heute kaum mehr vorstellbar. McCollough legt ihrem Father Ralph offenbar ein konservativ-naives Verständnis des katholischen Priesters zugrunde, der erstens durch sein Weiheamt einen besonderen, eben sakrosankten, Status innehat und zweitens aufgrund des Zölibats als asexuell, unschuldig und ungefährlich gelesen werden muss. Zwar werden weder in der Romanvorlage noch im Film physische Handlungen sexueller Gewalt beschrieben, doch können entsprechende Fantasien durchaus unterstellt werden – zumal Mary diese Unterstellungen ja auch mehr oder weniger explizit äußert und Ralph sich dadurch ertappt fühlt.

Ralphs Grenzüberschreitungen sind aber auch unabhängig von seiner Zugehörigkeit zum Klerus problematisch. So betrifft eine weitere Schlüsselszene die Menarche der mittlerweile 15-jährigen Meggie. In dem Glauben, sie leide an einem tödlichen Tumor, der die Blutung verursacht, und aus Angst, ihrer Mutter davon zu erzählen, wendet sie sich an Ralph. Er erklärt der verängstigten Jugendlichen die körperlichen Veränderungen, die mit der Pubertät einhergehen. Er beschränkt sich jedoch nicht auf die Menstruation, sondern erklärt Meggie auch deren „Zweck“, der für ihn darin besteht, dass sie eines Tages sexuell aktiv sein und Kinder gebären wird. Er lässt dabei auch nicht die religiöse Verbrämung aus und erläutert, dass Eva im Paradies noch nicht menstruiert habe und die Periodenblutung Teil der Strafe für den Sündenfall sei.

Abschließend empfiehlt er dem Mädchen, lieber nicht mit Männern (und auch sonst mit niemandem als ihrer Mutter) über die Monatsblutung zu sprechen. Was auf den ersten Blick wie eine zugewandte, liebevolle Aufklärung wirkt, untermauert Lapointes Deutung von Ralphs Verhalten als Grooming: Der Priester isoliert das Mädchen von anderen Bezugspersonen und wirkt an den entscheidenden Punkten ihres Lebens unmittelbar auf sie ein. So formt er Meggie (bewusst oder unbewusst) nach seinen Vorstellungen, auch um letztlich sexuelle Handlungen mit ihr vorzubereiten. Diese Absicht wird im Roman deutlich, nachdem er zum ersten Mal mit der erwachsenen Meggie Sex hatte. Hier reflektiert er:

Truly she was made for him, for he had made her; for sixteen years he had shaped and molded her without knowing that he did, let alone why he did. And he forgot that he had ever given her away, that another man had shown her the end of what he had begun for himself, had always intended for himself, for she was his downfall, his rose; his creation. (McCollough 2008, 409)

Es ist ziemlich bestürzend, dass dieser Clusterfuck jemals als „Romanze“ gelabelt werden konnte. Cora Kaplan hat Ende der 1980er Jahre in ihrem Essay Fiction, Fantasy, Femininity vorgeschlagen, dass McCollough in den Dornenvögeln eine erotische Fantasie beschreibe, die letztlich um das Inzest-Tabu kreist und die damit verbundene Fantasie, den eigenen Vater zu verführen. Diese Lesart kann heute definitiv nicht mehr bestehen. Auch Meggies „symbolischer Inzest“ ist letztlich Ergebnis eines psychologischen und emotionalen Missbrauchs und darf in keiner Weise verharmlost werden.

Eigentlich ist also alles an den Dornenvögeln indiskutabel. Trotzdem scheint das Werk – auch heute noch – eine gewisse Faszination auszustrahlen und wird in zahlreichen aktuellen Rezensionen nach wie vor als „große Liebesgeschichte“ gefeiert. Doch worin genau liegt der Reiz einer Geschichte mit einer so verstörenden Ausgangssituation? Diese Frage habe ich versucht, für mich selbst zu beantworten, und bin in einen Kaninchenbau gefallen, der mich von homoerotischen Subtexten in heteroromantischen Geschichten über katholische Ästhetik zu Camp und queerer Subkultur zur „Hot Priest“-Trope geführt hat.

“Sancte Sebastian, ora pro nobis!“ – Der homoerotische Subtext

Während McColloughs Romanvorlage insgesamt als ziemlich konservativ bezeichnet werden darf, thematisiert sie doch an diversen Stellen recht explizit queere Themen und erschafft einen deutlichen homoerotischen Subtext. Da sind zum Beispiel Meggies viele Brüder, die allesamt niemals Interesse an Frauen zeigen und unverheiratet bei ihrer Mutter bleiben, oder Meggies Ehemann Luke: Seinen Kollegen Arne und ihn scheint mehr zu verbinden als nur eine Bromance. Meggie kommentiert wiederholt, dass Luke wohl lieber Arne hätte heiraten sollen. Und auch die Beziehung zwischen Ralph und seinem Mentor Vittorio wird als so innig geschildert, dass ein homoromantischer Subtext erkennbar wird.

In der Verfilmung werden diese uneindeutigen männlichen Beziehungen durch die Bildsprache noch besser transportiert. Eine gewisse Schwüle bestimmt das gesamte filmische Erleben: Muskulöse Männer reiten auf ebenso muskulösen, glänzenden Pferden durch das australische Outback, lümmeln anschließend verschwitzt im Gras, zeigen viel Haut und große Emotionen, schauen versonnen ins Leere, weinen oft. In überdurchschnittlich vielen Szenen sind (durchweg attraktive) Männer zu sehen, die einander zärtlich berühren und umarmen, interessiert betrachten, wenn sie mit entblößtem Oberkörper Schafe scheren oder nackt aus der Dusche kommen. Als etwa Luke O’Neill zum ersten Mal auftritt, suggeriert die Bildsprache, dass er sexuell an Meggies Bruder Bob interessiert ist. Noch expliziter wird es in den Szenen, die auf der Zuckerrohrplantage spielen, auf der Luke arbeitet. Hier sind alle Frauen unerwünscht, um die Kameraderie der Arbeiter nicht zu stören. Als Meggie dennoch auftaucht, um Luke mit der Trennung zu konfrontieren, ist er gerade dabei, zum Vergnügen mit seinem Freund Arne zu ringen. Die beiden Männer liegen keuchend und erleichtert lächelnd aufeinander, als Luke Meggie bemerkt. Die schaut wissend.

Auch wenn Ralph als einerseits asexuell, weil zölibatär, aber andererseits auch als eindeutig heterosexuell vorgestellt wird, zeigt ihn die Verfilmung doch in einigen Szenen mit homoerotischem bzw. -romantischem Subtext. Wann immer er zum Beispiel ins Gebet vertieft ist, erhebt er, kniend, seinen flehenden Blick zu einem Kruzifix mit einem besonders wohlgeformten Gekreuzigten, dessen Lendentuch nur gerade so die Genitalien verdeckt. In den Gemächern, die er als Kardinal bewohnt, hängt ein riesiges Gemälde mit religiösem Sujet, in dessen Zentrum ein muskulöser nackter Mann zu sehen ist. Ist es nur religiöse Entrückung, die hier dargestellt werden soll, oder schwingt da Begehren mit?

Wenn Ralph die Soutane gegen Reithose und halb aufgeknöpftes Hemd tauscht und mit den Farmarbeitern ins Outback reitet, stört er die Kameraderie und die schwüle Körperlichkeit der Männer jedenfalls nicht, sondern fügt sich ziemlich stimmig ein. Richard Chamberlain, der Ralph verkörpert, outete sich schon sechs Jahre nach Veröffentlichung der Miniserie als homosexuell und gilt seither als Veteran und Ikone schwuler Kultur in Hollywood. Nicht ausgeschlossen, dass der erkennbare Subtext hier beabsichtigt ist. Und etwaige codierte Botschaften beschränken sich nicht nur auf die Inszenierung seines Körpers: In allen Szenen, die Ralph mit Erzbischof (später Kardinal) Vittorio di Contini-Verchese zeigen, wird deutlich, dass die beiden Männer eine tiefe Zuneigung zueinander hegen.

Die Innigkeit und Zärtlichkeit wird beispielsweise darüber transportiert, dass Ralph dem älteren Vittorio beim Ablegen der liturgischen Gewänder hilft (im späteren Handlungsverlauf ist zu sehen, wie Dane ebenso zärtlich die Knöpfe an den Gewändern des älteren Ralph öffnet). Die körperliche Nähe der beiden wirkt aber weniger sexuell aufgeladen als bei den raufenden Zuckerrohrschneidern, sondern eher romantisch. So, wie Ralph Meggie als Kind immer mit „my Meggie“ adressiert und sie liebevoll im Gesicht berührt, spricht Vittorio auch stets von „my Ralph“ und streichelt seine Wange. Vermutlich soll mit dieser Parallelführung gezeigt werden, dass beide eine väterliche Position einnehmen. Da die Väterlichkeit Ralphs Meggie gegenüber ja aber in einem „symbolischen Inzest“ endet, darf die Frage gestellt werden, ob auch Vittorio seinen „Sohn“ eigentlich begehrt. Jedenfalls taucht das Motiv einer Reise nach Griechenland häufiger auf.

Auf einer dieser gemeinsamen Reisen eröffnet Vittorio Ralph, er habe dessen Keuschheit immer wieder getestet, indem er ihn mit schönen Frauen umgeben habe. Und Männern. Gleichgeschlechtliches Begehren ist dem Kirchenmann, der oft von der engen Beziehung zu seiner Mutter spricht, also durchaus nicht fremd. Im Übrigen wirkt der von Christopher Plummer gespielte Vittorio so dandy- bzw. daddyhaft, wenn er im Purpurmantel in seinen Vatikan-Gemächern sitzt und eine teure Katze krault, dass es eigentlich verwunderlich ist, dass daraus noch kein schwules Meme entstanden ist. Für mich steht jedenfalls fest: Wenn es in den Dornenvögeln eine Romanze gibt, dann ist es mit Sicherheit nicht die Beziehung von Meggie und Ralph, sondern die zwischen Ralph und Vittorio. Hätte es das Internet 1983 schon gegeben, wären sicherlich unzählige erotische Ralph/Vittorio-Slashfictions erschienen. Und auch die Luke/Arne-Fanfiction schreibt sich eigentlich von selbst.

“One doesn’t often get such good theater. It’s pretty male, though.” – Katholizismus, Queerness und Camp

Ein Teil der Handlung von Die Dornenvögel spielt im Vatikan. Und zwar im Vatikan der 1920er bis 60er Jahre, sprich einer religiösen Theaterkulisse, die zu dieser Zeit noch viel pompöser und exaltierter war, als sie es heute ist. Der exklusiven Männerwelt des australischen Outbacks steht also die exklusive Männerwelt des Kirchenstaats gegenüber. Und die ist, wie die katholische Kirche insgesamt, auf eine ganz andere Art extrem sinnlich: Opulente Kirchenräume und Gemächer voll barocker Kunst, durch die Männer in eleganten Roben gravitätisch schreiten, liturgische Gesänge und Orgelklang, der schwere Duft von Weihrauch und Kerzenwachs – alle Sinne werden maximal angeregt, der Körper in das religiöse Erleben gezielt einbezogen. Der Religionswissenschaftler Chris Stedman schreibt hierzu:

For people whose exposure to Christianity was a certain kind of Protestantism — bare bones, Kool-Aid for communion — you encounter the ‘smells and bells’ of a Catholic church and you might gravitate toward it. It’s over-the-top, it’s colorful, it’s excessive, it’s campy.

Diese Camp-Ästhetik des Katholischen bringt die Miniserie perfekt zum Ausdruck. Die Bildsprache des Films ist insgesamt überladen und an der Grenze zum Kitsch, aber besonders campy wird es in den Szenen, die im Vatikan spielen. Als die junge Schauspielerin Justine zum ersten Mal dort zu Gast ist, stellt sie fest, dass ein so gutes Theater selten geboten würde, wenn es auch sehr männlich sei. Die Frauen seien auf die oberen Ränge (also die billigen Plätze) verbannt und dürften nicht mitspielen. Und obwohl Vittorio ihr blumig zu vermitteln versucht, dass die oberen Ränge in seiner Welt schließlich das Paradies seien, in dem mit Maria die wichtigste Frau überhaupt über allem thront, kann Justine nicht anders als die flamboyanten Männer zu belächeln, die lieber unter sich bleiben.

In ihren Notes on Camp (1964) etablierte Susan Sontag Camp als queere Ästhetik. Bereits im frühen 20. Jahrhundert war der Stil assoziiert mit „effeminierten” Männern und wurde als Code für gleichgeschlechtliches (männliches) Begehren verwendet. Diese Zuschreibung würde in der Betrachtung der Miniserie auch die These untermauern, dass die beiden Kardinäle eigentlich Liebende sind. Die Romanhandlung mag um Meggie als zentrale Figur kreisen, in der Verfilmung kommt sie praktisch kaum vor und bleibt so farblos wie ihr berühmtes „Ashes of Roses“-Kleid. Dagegen so gut wie immer im Bild und dabei stets schillernd und wunderschön: Father Ralph de Bricassart.  

“You would look magnificent in red” – Der schöne, ungefährliche Mann

Bereits in der Romanvorlage geht es ausführlich um die außergewöhnliche Attraktivität des Priesters. Besonders aus der Perspektive der bereits weiter oben als „Vetula” vorgestellten Mary Carson wird der Blick auf den Priester als passives Lustobjekt deutlich:

She [was] enjoying his beauty, his attentiveness, his barbed and subtle mind; truly he would make a magnificent cardinal. In all her life she could not remember seeing a better-looking man, nor one who used his beauty in quite the same way. He had to be aware of how he looked: the height and the perfect proportions of his body, the fine aristocratic features, the way every physical element had been put together with a degree of care about the appearance of the finished product God lavished on few of His creations. From the loose black curls of his head and the startling blue of his eyes to the small, slender hands and feet, he was perfect. Yes, he had to be conscious of what he was. (McCollough 2008, 70)

Richard Chamberlain – 1983 bereits 49 Jahre alt – galt damals immer noch als Heartthrob, wenn auch vermutlich eher für diejenigen, die ihn bereits als 60er-Serienheld Doctor Kildare kannten. Eine Castingentscheidung, die auch verdeutlicht, wer von der Miniserie vornehmlich als Publikum angesprochen werden sollte: Ältere Frauen. Chamberlains Aussehen entspricht zwar überhaupt nicht der Beschreibung aus der Romanvorlage, ist aber dennoch untrennbar mit der Rolle verbunden, vielleicht auch weil er als schwuler Mann für das weibliche Begehren ebenso unerreichbar ist wie der imaginierte „perfekte Priester“.

Das Costume Design (von William Travilla) setzt Chamberlain perfekt in Szene. Egal ob in der taillierten Soutane oder als kerniger Naturbursche mit weißem bis zur Brust aufgeknöpftem Hemd: Im Mittelpunkt steht immer sein perfekter glänzend-muskulöser männlicher Körper. Auch als aus Father Ralph Cardinal de Bricassart wird, geht es seinen Verehrer*innen nicht um seinen Zugewinn an Macht und Status, sondern um sein Aussehen. Die als Gegenentwurf zu ihrer Mutter Meggie charakterisierte forsche Justine kommentiert den rasanten Aufstieg Ralphs in der Kirchenhierarchie nur mit „I’ll bet you’re smashing in red!“, verweisend darauf, dass eine Kardinalsrobe wohl ebenso seine Vorzüge hervorheben würde wie Soutane und Bischofsgewand zuvor. Anders als in filmischen Darstellungen, die dem Male Gaze entsprechen, ist hier nicht der Körper einer Frau das zentrale Spektakel und Gegenstand der Schaulust, sondern der eines Mannes. In einer zentralen Szene betrachtet Mary Carson Ralph unverhohlen, der sich auf der Veranda ihres Hauses vollständig seiner verschmutzten Kleidung entledigt:

„You’re the most beautiful man I’ve ever seen, Ralph de Bricassart,“ she said. „Why is it so many priests are beautiful? The Irishness? They’re rather a handsome people, the Irish. Or is it that beautiful men find the priesthood a refuge from the consequences of their looks? […] Straightening, she laid her palm on his chest and held it there. „You’re a sybarite, Ralph, you lie in the sun. Are you as brown all over?“ Smiling, he leaned his head forward, then laughed into her hair, his hands unbuttoning the cotton drawers; as they fell to the ground he kicked them away, standing like a Praxiteles statue while she toured all the way around him, taking her time and looking. The last two days had exhilarated him, so did the sudden awareness that she was perhaps more vulnerable than he had imagined; but he knew her, and he felt quite safe in asking, „Do you want me to make love to you, Mary?“ She eyed his flaccid penis, snorting with laughter. „I wouldn’t dream of putting you to so much trouble! Do you need women, Ralph?“ His head reared back scornfully. „No!“ „Men?“ „They’re worse than women. No, I don’t need them.“ „How about yourself?“ „Least of all.“ […] Naked, Father Ralph stepped off the veranda to stand on the barbered lawn with his arms raised above his head, eyes closed; he let the rain pour over him in warm, probing, spearing runnels, an exquisite sensation on bare skin. It was very dark. But he was still flaccid. (McCollough 2008, 107f)

Eigentlich geht es in dieser Szene um das Machtgefälle zwischen der reichen älteren Mary und dem jungen mittellosen Ralph. Die sexuelle Übergriffigkeit, die traditionell mit männlichem Machtmissbrauch gegenüber (jungen) Frauen in Abhängigkeitsverhältnissen assoziiert ist, wird hier umgekehrt. Trotzdem konstruiert McCollough eine eigenwillig erotische Szene. Der schöne Mann ist hier ausschließlich für die Schaulust Marys (und des Publikums) da, spielt ihr indiskretes Spiel bis zu einem gewissen Punkt mit, ist aber sexuell völlig ungefährlich. Er verspürt keine Erregung durch die beschriebene Sinnlichkeit und bleibt „schlaff“. Von ihm geht keine Bedrohung aus. Cora Kaplan argumentiert in ihrem Essay, dass Die Dornenvögel eine sexuelle Fantasie ist, die vom (heterosexuellen) weiblichen Standpunkt her erzählt wird. Anders als in massenproduzierten Liebesromanen ihrer Zeit schreibt McCollough nicht das androzentrische Narrativ von Verführung fort, bei dem der Blick auf die Frau und ihren Körper gelenkt wird, sondern gestattet einen im besten Sinne schamlosen – weiblichen heterosexuellen oder schwulen – Blick auf den begehrenswerten Mann. Die Gefühle und Empfindungen der Frauenfiguren werden gar nicht erst beschrieben, denn die verspüren die Lesenden (oder Schauenden) ja selbst.

Ralph de Bricassart ist in einer solchen erotischen Fantasie der ideale Mann, denn er ist schön und viril, aber ungefährlich, und in den späteren Sex-Szenen ein geschickter Liebhaber. Das ist angesichts seiner zuvor konsequent zölibatären Lebensweise zwar unplausibel, aber das sind erotische Fantasien ja meistens. Kaplan fasst die Rolle des Priesters wie folgt zusammen: „in der Figur Ralphs schafft die Autorin einen idealen mütterlichen Mann, einen femininen Mann, zu dem sexueller Zutritt natürlich tabu ist.“ 

„Why is it so many priests are beautiful?” – Die “Hot Priest“-Trope

Die Dornenvögel war nicht die erste und nicht die letzte fiktionale Geschichte, die den katholischen Priester fetischisiert. Der „Hot Priest“ taucht immer wieder auf und kann also durchaus als Trope bezeichnet werden. Was macht die Figur des katholischen Klerikers so attraktiv? Liegt es am Reiz des Verbotenen, der durch den Zölibat heraufbeschworen wird? An der Fantasie, als Individuum so besonders zu sein, dass es den Priester dazu bringt, sein Gelübde zu brechen? Oder ist es nur die Soutane, die mit ihrem engen Schnitt einen normschönen männlichen Körper so ganz anders betont als andere Kleidung, eingeschlossen etwa den Talar? Die Soutane ist zum Beispiel immer wieder prominent vertreten auf den schwarz-weiß-Fotografien des berühmt-berüchtigten Calendario Romano. Dieser, auch als Hot Priest Calendar bekannte, Wandkalender ist ein beliebtes Mitbringsel aus Rom. Er zeigt Schnappschüsse von eindeutig als Priestern zu erkennenden attraktiven (jungen) Männern. Laut Angaben des Fotografen und Herausgebers sind zwar nicht alle der Models tatsächlich welche, aber der Großteil bekleidet das Priesteramt. Würden sich ebenso viele Fans für einen Kalender finden, der dieselben Models zeigt, ohne dass sie als Priester gekennzeichnet sind? Vermutlich eher nicht.

Der namenlose Priester aus der zweiten Staffel der Amazon-Serie Fleabag trägt zu keinem Zeitpunkt eine Soutane. Das wäre 2019 in Großbritannien auch wenig plausibel gewesen. Und trotzdem zieht auch hier das Narrativ vom unerreichbaren attraktiven Mann, der schließlich der verführerischen Sexualität nachgibt. Obwohl Fleabag anders als Meggie überhaupt nicht religiös oder gläubig ist, hat auch sie das Tabu rund um erotische Liebesbeziehungen mit Priestern verinnerlicht.

In der bereits zitierten Veranda-Szene sagt Mary:  

“I’ll bet the girls in Gilly just eat their hearts out over you.“ „I learned long ago not to take any notice of love-sick girls.“ He laughed. „Any priest under fifty is a target for some of them, and a priest under thirty-five is usually a target for all of them. But it’s only the Protestant girls who openly try to seduce me.“ „You never answer my questions outright, do you?” (McCollough 2008, 107)

Und sie stellt die Hypothese auf, dass es nicht das Priesteramt ist, das den Mann attraktiv macht, sondern sich attraktive Männer in den Zölibat flüchten, um den Konsequenzen einer gelebten Sexualität zu entgehen:

“And yet there was an aloofness about him, a way he had of making her feel he had never been enslaved by his beauty, nor ever would be. He would use it to get what he wanted without compunction if it would help, but not as though he was enamored of it; rather as if he deemed people beneath contempt for being influenced by it. And she would have given much to know what in his past life had made him so. Curious, how many priests were handsome as Adonis, had the sexual magnetism of Don Juan. Did they espouse celibacy as a refuge from the consequences?” (McCollough 2008, 70)

Guilty Pleasure – Aber anders

Auch 40 Jahre nach ihrer Erstausstrahlung sind die Dornenvögel immer noch ein Ereignis. Wer auf Pathos, 80er-Jahre-Bildgewalt und allgemeine Flamboyanz steht, bekommt hier einiges geboten. So etwas schön und ansprechend zu finden, ist meiner Meinung nach absolut nicht verwerflich. Dass „Herzschmerz-Schnulzen“ als guilty pleasure bezeichnet werden, weil sie eben einen gewissen (weiblichen) Geschmack bedienen, finde ich überheblich und nicht mehr zeitgemäß. Schuldig sind für mich viel mehr diejenigen, die eine Missbrauchs-Geschichte als Unterhaltung und Liebesgeschichte inszeniert haben. In einer Zeit, in der die Institution Kirche unverzeihbare Schuld auf sich geladen hat, indem sie sexuelle Gewalt zugelassen und vertuscht hat. Wer diese historische Folie ausblenden kann und die opulente Ästhetik genießen möchte, kann sich aber an folgende Gebrauchsanweisung halten: Einfach den ersten Teil überspringen, in dem der, hart an der Pädokriminalität vorbeischrammende Handlungsstrang rund um die junge Meggie abgearbeitet wird (Einzige Ausnahme ist diese Veranda-Beefcake-Szene). Dann lässt sich auch ganz gut ausblenden, dass Ralph de Bricassart zwar sehr schön, aber eben ein fieser Kinder manipulierender Karrierist ist, der vor allem sich selbst liebt, und dass die Geschichte nicht an allen Stellen Sinn ergibt.   

(Die 1996 nachgelieferten Missing Years habe ich mir übrigens auch angeschaut. Aber das ist wirklich unzumutbarer 1990er-Jahre-TV-Kitsch und 0% Camp.) 

Tödliche Intelligenz – Science Fiction und K.I.

von Matthias Warkus

Am 7. Juli 2023 beschwor eine Schlagzeile im »Guardian« ein fürchterliches Szenario: Alle Menschen auf der Erde könnten in derselben Sekunde tot umfallen. Der Auslöser: künstliche Intelligenz. Am 9. August stellte dann auch  der »Tagesspiegel« vor dem riesigen Bild eines verpixelten Atompilzes die Frage: »Ist KI die neue Atombombe?«

Computer, die die Menschheit vernichten könnten: Das Thema ist wegen der aktuellen gut sichtbaren Fortschritte bei KI-Systemen und vermehrter Warnrufe prominenter Galionsfiguren der kalifornischen Ideologie offensichtlich gerade wieder einmal ganz oben auf der Agenda. Aber neu ist es nicht. Silicon-Valley-Propheten und ihre Hausdenker wie etwa Nick Bostrom warnen schon seit etwa zwanzig Jahren vor der Auslöschung der Menschheit durch eine universelle künstliche Intelligenz. (Der Urheber der Guardian-Vision der synchron tot umfallenden Menschheit ist übrigens Bostroms Mitarbeiter, der berühmt-berüchtigte Nerd-Ideologe Eliezer Yudkowsky, bekannt geworden vor allem durch – kein Scherz – den umfangreichen Fanfiction-Roman »Harry Potter and the Methods of Rationality«, 2010–2015.)

Ein gewichtiger Grund dafür, warum Warnungen vor solchen Szenarien sich medial so gut verkaufen lassen, ist, dass es für sie so gute fiktive Vorlagen gibt. Spätestens seit »Terminator« (1984) gehört die Vorstellung einer künstlichen Superintelligenz, die aus irgendwelchen Gründen beschließt, die Menschheit auszurotten, unangefochten zum popkulturellen Zeichenvorrat.

Wenn man das Motiv zurückverfolgt, findet man als berühmten frühen Vertreter Harlan Ellisons Story »I Have No Mouth, and I Must Scream« von 1965. Auch dort geht es wie in »Terminator« letztlich um einen zur Führung des Dritten Weltkrieges entwickelten Supercomputer. Er hat die Menschheit fast völlig ausgelöscht und findet sein einziges Vergnügen darin, einige wenige Menschen zu quälen, die er am Leben gelassen hat. Doch Ellisons Höllenvision, vielfach anthologisiert und adaptiert (u.a. 1995 als preisgekröntes Computerspiel), verdeckt, zumindest für den Blick von außerhalb des Science-Fiction-Betriebes, eine noch etwas früher beginnende Reihe von Storys, Novellen und Romanen, die das Konzept »KI gegen Leben« im Detail durchdeklinieren, nämlich den sogenannten »Berserker«-Zyklus von Fred Saberhagen (1930–2007).

Die namensgebenden Berserker sind intelligente Maschinen, die unter der Direktive operieren, alles Leben zu vernichten. Sie tauchen in unterschiedlichster Form auf, als bewaffnete Raumschiffe, als ortsfeste Computer, als bewegliche Kampfroboter aller Art. Sie wurden in vorgeschichtlicher Zeit von einer außerirdischen Zivilisation entwickelt, um eine andere intelligente Spezies zu bekämpfen, haben aber beide ausgerottet und sind seitdem als ständige Bedrohung in der Galaxis unterwegs.

Saberhagens Beschäftigung mit dem Thema beginnt 1963 mit Kurzgeschichten, die oft eine überraschende Pointe und damit einen gewissen Rätselcharakter haben, eine Tradition, die über die Meister des Genres der Science-Fiction-Story zurückgeht bis zu Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe. Relativ bald folgen aber größere Erzählungen, zwischen 1969 und 2005 auch eine Reihe von – für heutige Verhältnisse angenehm kurzen – Romanen. Große Teile des Zyklus spielen dabei eher am Rande des Geschehens, in Zeiten und Gegenden, in denen große Schlachten des Krieges gegen die Berserker bereits geschlagen, relative Ruhe und zögerlicher Optimismus eingekehrt sind. (Nicht das schlechteste Setting – »Das Imperium schlägt zurück« ist ja nicht von ungefähr der beste Star-Wars-Film.)

Es ist berückend, wie leichtfüßig Saberhagen mit verwickelten Prämissen umgeht. So spielt die Rahmenhandlung von »Brother Assassin« (1969) auf einem Planeten, auf dem und um den herum Zeitreisen möglich sind. Die Berserker greifen dort an, indem sie unterschiedliche Waffen und Roboter in der Zeit zurückschicken, um die Vergangenheit zu manipulieren (15 Jahre vor »Terminator«!). Ich muss zugeben, dass ich das Buch beim ersten Lesen, direkt nachdem ich die Prämisse verstanden hatte, wieder weggelegt habe, weil ich befürchtete, die Darstellung dieses »Zeitkriegs« könnte anstrengend, langweilig und verwirrend werden, wie es bei Science-Fiction über Zeitreisethemen oft der Fall ist. Aber genau dazu kommt es nicht – das Buch bleibt immer hinreichend plausibel und zugleich mitreißend. Ich halte es für eine der besten Darstellungen von Zeitreisen in der Science Fiction überhaupt, was noch erstaunlicher wird, wenn man berücksichtigt, dass die Zeitkrieg-Rahmenhandlung überhaupt nur geschrieben wurde, um drei bereits zuvor fertiggestellte novellenhafte Episoden zusammenzuhalten.

Das alles wäre aber nicht so spannend, wenn das interessanteste Phänomen in Saberhagens Killerroboter-Saga nicht existierte: die Menschen, die darin als »Goodlife« bezeichnet werden; Menschen, die mit den Berserkern kollaborieren und somit an der Vernichtung ihrer Mitmenschen mitwirken. Dafür gewähren die Maschinen ihnen ein komfortables Leben und die Aussicht, erst als Allerletzte sterben zu müssen, und dann auf schmerzlose Weise. »Goodlife« sein heißt, um den Preis, sich an einem immensen Verbrechen mitschuldig zu machen, die Gewissheit zu haben, dass es für einen selbst »nicht ganz so schlimm« werden wird. Und es gibt längst nicht nur Goodlife und Helden,  auch menschlicher Alltag und durchschnittliche Schicksale im Angesicht der Bedrohung werden glaubwürdig skizziert. Der Roman »The Berserker Throne« (1985) beginnt damit, dass eine Untergrundorganisation bei einem Volksfest aufblasbare Berserker-Attrappen steigen lässt und so Chaos stiftet – eine friedliche Protestaktion, um darauf hinzuweisen, dass die verdrängte Bedrohung durch die Maschinen nach wie vor besteht. Die Analogien zu den verschiedensten Ereignissen und Verhältnissen unserer Gegenwart brauche ich nicht auszubuchstabieren.

Saberhagen nutzt das Szenario, die Menschheit mit völlig fremdartigen, völlig unmenschlichen Maschinengegnern zu konfrontieren, als Vehikel dazu, in verschiedenster Hinsicht zu thematisieren, was eigentlich menschlich ist. Kunst, insbesondere Bildhauerei, spielt immer wieder eine bedeutende Rolle. Auch schafft es der Autor, ein praktizierender Katholik, einen glaubwürdigen und seriösen Umgang mit dem Thema Religion in sein Werk einzubringen. All das kontrastiert wohltuend mit dem reaktionären Machismo populärer militärisch akzentuierter Science-Fiction-Literatur (man denke an David Weber oder S. M. Stirling), die wenig Sinn fürs Schöngeistige hat und sich eher an panzerquartetthaften Beschreibungen militärischer Hardware ergötzt.

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Die Lektüre von Saberhagens Berserker-Stories und -Romanen lohnt sich nicht allein wegen des aktuellen Interesses am Thema destruktiver Künstlicher Intelligenz. Man lernt bei ihr darüber hinaus etwas darüber, was Science Fiction sein kann und einmal war; auch wenn man es heute, aus Gründen, die vor allem mit der Struktur des Marktes für Genreliteratur zusammenhängen, nicht mehr von ihr erwartet.

Wenn wir nur auf die Literatur im engeren Sinne schauen (also nicht auf Comics und audiovisuelle Medien), findet Science Fiction heutzutage hauptsächlich im Medium des Dickromans ab etwa 400–500 Seiten statt. Mindestens genauso, wenn nicht noch stärker, betrifft dies die Fantasy, die Science Fiction an Popularität und Regalraum irgendwann um die Jahrtausendwende herum übertroffen hat. Böse Zungen sagten schon damals, die minimale publizierbare Einheit bei Science Fiction und Fantasy sei inzwischen die Romantrilogie. Es ist ein stehender Topos des Redens über die Vergangenheit der westlichen Science Fiction, dass damals in wesentlich kürzeren und in der Regel freistehenden Werken (Erzählungen und relativ kompakten Romanen) viel mehr passierte als in den aktuellen, viel umfangreicheren Werken, die meistens den Charakter von Episoden größerer Zyklen haben.

Das Genre wurde einmal von Kurzgeschichten und Fortsetzungsromanen in Zeitschriften getragen. Der Übergang von Magazinen zu Büchern im dominierenden amerikanischen Science-Fiction-Markt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch das Ende des kriegsbedingten Papiermangels sowie durch Verschiebungen in der Verlagsindustrie, unter anderem durch den Untergang des quasi-monopolistischen Zeitschriftengrossisten ANC (American News Company) 1957, katalysiert. Der Übergang von freistehenden, recht schmalen Romanen und Anthologien zu Zyklen und Serien von Dickbüchern war seinerseits maßgeblich dadurch getrieben, dass Genreliteratur Literatur für Viel- und Schnellleser*innen ist, normiert auf schnelle Weglesbarkeit ist, weswegen mehr Seiten in aller Regel mehr Nutzungsdauer und damit mehr Unterhaltung bedeuten. Zudem verkaufen sich Bücher stark über die Dicke, was unter anderem dazu geführt hat, dass Science Fiction heutzutage gerne in recht lockerem Satz auf dickem Volumenpapier gedruckt wird. (Dasselbe gilt mindestens genauso sehr für Fantasy und für Jugendliteratur. Der Trend geht aktuell zu Papier, das bei immer größerem Volumen gleich viel wiegt. Polemisch könnte man sagen, dass der Bedruckstoff genauso zur Schwammigkeit tendiert wie die Texte.)

Der Blick auf Saberhagens Berserker-Reihe ist daher so aufschlussreich, weil sie ihren Ursprung in  einer Übergangszeit hatte, in der sich die Norm der endlosen Verlängerbarkeit und der endlosen Serienproduktion von Sequels (bei Fantasy spricht man gerne von »Extruded Fantasy Product«, ein 1999 geprägter Ausdruck) noch nicht etabliert hatte. Die Erzählungen, Novellen und Romane spielen im selben Universum und haben wiederkehrende Motive, sind aber alle weitestgehend freistehend (und zwar ganz offiziell). Wer heutzutage mit Genreliteratur sozialisiert wurde, atmet nun möglicherweise tief durch: Es gibt keine empfohlene oder notwendige Lesereihenfolge, keine Spoiler, keine Bandnummern, keine Werke, die ihren Sinn allein darin haben, Kleber zwischen anderen Werken zu sein, in denen mehr passiert. Es gibt auch die berüchtigten »Infodumps« nicht, also keine langen handlungslosen Passagen, die nur dazu dienen, Hintergrundwissen zu transportieren. Und die Romane sind zum allergrößten Teil nur etwa 200–300 Seiten lang.

Leider ist nahezu nichts aus der Berserker-Serie ins Deutsche übersetzt worden. Es existiert eine Übersetzung des ersten Erzählungsbandes »Berserker« von Leonore Petz (erschienen 1986 bei Moewig); sie war vermutlich kein Erfolg und ihr folgten meines Wissens keine weiteren. Angesichts des im positiven Sinne antiquierten Formats mit vielen Kurztexten und keiner festen Continuity sowie des eher konventionellen Space-Opera-Hintergrunds wäre ohnehin auf dem kleinen und umkämpften deutschen Science-Fiction-Markt kein Erfolg zu erwarten, der auch nur die Übersetzung finanzieren könnte. Daher kann ich notgedrungen nur empfehlen, die Originale zu lesen, die im Verlag JSS Literary Productions von Saberhagens Witwe digital erschienen sind und sich auf allen gängigen E-Book-Marktplätzen für 4,49 € pro Stück erwerben lassen.

Traditionell werden Science Fiction oft zwei komplementäre Rollen zugewiesen, nämlich einerseits triviale Unterhaltung und andererseits das (literarisch tendenziell blutleere) Spekulieren über technisch-wissenschaftliche Ideen. Saberhagens Berserker-Reihe unterhält wirklich bestens, hier explodieren Raumschiffe, ganze Planeten werden verteidigt oder vernichtet, schillernde Charaktere bestehen galaktische Abenteuer. Zugleich dekliniert sie eine Fülle von Aspekten des Grundeinfalls einer nichtmenschlichen, zerstörerischen KI durch. Aber – und das macht sie so gut: Man kann sie zugleich und vor allem auch als Literatur im ganz klassischen Sinne von Reflexion über die Conditio humana lesen. Es ist vielleicht nicht ganz Balzac mit Killerrobotern; aber es ist zumindest nah dran. So etwas konnte der Mainstream von Science-Fiction-Literatur einmal hervorbringen.

Die medienwirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen haben sich seither verschoben. Noch 1990 tauchen die Namen der 1940er-Jahre-Klassiker Isaac Asimov, Alfred Bester und Arthur C. Clarke bei den »Simpsons« als Paradigma für die Interessen nerdiger Schulkinder auf.

Aber diese Art von Science Fiction, die jahrzehntelang das entsprechende Milieu der amerikanischen Popkultur prägte, ist heute ein völliges Randphänomen geworden, und das wird sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Der Blick zurück kann sich jedoch zumindest punktuell durchaus lohnen. Speziell in diesem Fall könnte er zudem dabei helfen, unsere Wahrnehmung dafür zu schärfen, wie sehr die aktuell auf künstliche Intelligenz projizierten Befürchtungen durch popkulturelle Konventionen konditioniert sind, die bei Saberhagen als demjenigen, der den Topos populär machte, noch gar nicht etabliert sein konnten.

Ich danke Sebastian Pirling und Catherine Beck für die aufmerksame Lektüre. Sebastian danke ich zudem für wertvolles Feedback zur aktuellen Situation auf dem Science-Fiction- und Fantasy-Buchmarkt.

Foto von Aideal Hwa auf Unsplash

Alle sind wunderschön und niemand horny – Die Desexualisierung von Superheldenfilmen

von RS Benedict
übersetzt aus dem Englischen von Tobias Eberhard

Als Paul Verhoeven in den späten 1990er Jahren Starship Troopers drehte, wusste er damals schon, dass er die Zukunft voraussagte? Der endlose Wüstenkrieg, die allgegenwärtige Militärpropaganda, eine Person, die freudig schreiend den Sieg verkündet, während sich im Hintergrund die Körper immer weiter auftürmen.

In der Szene aber, die sich wahrscheinlich am nachhaltigsten in den Köpfen der 90er-Jahre-Kinder festgesetzt hat  – und die gleichzeitig unsere aktuelle Filmära vorwegnahm – kommen weder Insektenaliens noch Waffen vor. Es ist, wie sollte es anders sein, die Duschszene, in der unsere heroischen Soldaten und Soldatinnen ihr gemeinsames Körperpflegeritual zelebrieren.

Oberflächlich betrachtet herrscht die absolute Idylle: ethnische Harmonie, Geschlechtergleichheit, Einigkeit gegenüber einem gemeinsamen Ziel – und stramme Ärsche und Brüste.

Und dann unterhalten sich die Charaktere, natürlich über den Militärdienst. Eine hat sich gemeldet, um ihre politische Karriere voranzubringen. Ein anderer spricht davon, wie sehr es ihn danach verlangt, den Feind zu töten. Eine andere wiederum hatte gehofft, durch den Militärdienst schneller an ihre Lizenz zur Fortpflanzung zu kommen. Niemand schaut sein Gegenüber an. Niemand flirtet.

Ein Raum voll wunderschöner, nackter Körper, und alle sind einzig und allein geil auf den Krieg.

* * * * *

In den frühen 2000ern gab es eine kurze Phase, in der Schauspielerinnen vorgaben, dass sie von Natur aus, fast zufällig, dünn seien. Magere Berühmtheiten gestanden in Magazinen ihre Liebe zu Burgern und Pommes; Models verleibten sich in aller Öffentlichkeit Nudeln ein, während sie für Steckbriefe interviewt wurden; Hauptdarstellerinnen machten Witze darüber, wie wenig Sport sie trieben und wie sehr sie das Trainieren verabscheuten. Das war natürlich Quatsch: Ohne auf die Kalorienzufuhr zu achten, sieht niemand so aus. Wir wussten es damals, und wir wissen es auch heute. 

Mittlerweile machen wir uns aber nichts mehr vor. Wie auch, bekommen wir doch bei jeder Blockbuster-Promotionstour detailreiche Beschreibungen der Fitnesspläne der Darsteller*innen. Wir sehen Schauspieler*innen unter den strengen Augen der Personal Trainer Burpees machen oder Seile schlenkern. Ab und an wird von Diäten gesprochen, aber Genaueres darüber hört man selten – und natürlich verliert niemand ein Wort über Steroide oder andere Hormonzusatzmittel, wobei alles auf chemische Hilfsmittelchen hindeutet, wenn Schauspieler ihre sehr plötzlich sehr aufgepumpten Körper auf Instagram präsentieren.

Schauspieler*innen sind äußerlich perfekter als jemals zuvor: unfassbar schlank, schockierend muskulös, umwerfend frisiert, mit hohen Wangenknochen, makellosen chirurgischen Verbesserungen und reiner Haut – dieses Gesamtpaket wird uns in körperbetonten Superheld*innenkostümen präsentiert, wobei die obligatorische Oben-ohne-Szene natürlich nicht fehlen darf, damit wir die definierten Bauch- und tanzenden Brustmuskeln gebührend bewundern können.

Und das beschränkt sich nicht nur auf die Hauptrollen und Love Interests. Auch die Nebencharaktere sehen so aus, sogar die Bösewichte (oftmals unter monströsem Make-Up verborgen) werden von konventionell attraktiven Schauspieler*innen verkörpert. Selbst die Kompars*innen sehen gut aus, oder zumindest unanstößig nichtssagend. Niemand ist hässlich. Niemand ist wirklich dick. Alle sind wunderschön.

Und doch ist niemand horny. Selbst beim Sex nicht. Niemand fühlt sich zu irgendwem hingezogen. Niemandem verlangt es nach irgendwem.

Wenn sich Millennials oder Gen-X-Leute heute einen Film aus den 80ern oder 90ern anschauen, sind sie oft erstaunt über die mittlerweile in Vergessenheit geratenen sexuellen Inhalte: John Connors Zeugung in “Terminator”, Jamie Lee Curtis oben ohne in “Trading Places – Die Glücksritter”, der spektrale Blowjob in „Ghostbusters“. Niemand war beim ersten Sehen über diese Szenen schockiert. Natürlich kommt in Filmen Sex vor. Ist das nicht immer so?

Die Antwort ist klar: Nicht mehr – zumindest nicht im Fall der modernen Blockbuster.

Uns wird gesagt, dass Tony Stark und Pepper Potts ein Liebespaar seien. Aber in keinem der Filme spüren wir irgendeine romantische oder sexuelle Anziehung zwischen den beiden. Auch Wonder Woman und Steve Trevor fehlt sie, als Zuschauer*in nimmt man ihnen zu keiner Zeit ab, dass sie so sehr Bock aufeinander haben, dass einer von beiden einen komatösen Körper übernehmen würde (so wie es in “Wonder Woman” 1984 passiert), damit sie postum noch einmal miteinander rummachen können. Ganz untypisch für die nordische Mythologie grinst Chris Hemsworths Thor Natalie Portman nur dümmlich wie ein Hundewelpe an, ohne dass er jemals den Versuch unternimmt, naja, seinen mächtigen Hammer zu schwingen. Und es ist nicht so, als ob die Konkurrenz da irgendwie besser wäre. Auch wenn er immer wieder als Ikone der Incel-Bewegung bezeichnet wird, ist es Heath Ledgers Joker, und nicht Christian Bales keuscher und sexloser Batman, der in der Dark-Knight-Trilogie noch am ehesten irgendeine sexuelle Energie versprüht.

Und wenn wir gerade schon mal bei Christopher Nolans unerklärlich sexlosem Oeuvre sind – fand es sonst niemand seltsam, dass sie in “Inception” in die tiefste Ebene des Unterbewusstseins eines reichen Mannes vordringen und dort keinen abartigen psychosexuellen, ödipalen Alptraum vorfinden, sondern eine … Ski-Abfahrt?

* * * * *

Aber machen wir uns nichts vor: Das alte Hollywood war auch nicht gerade für seine progressive Body Positivity bekannt. Seit das frühe Sexsymbol Theda Bara von der Kinoleinwand Abschied genommen hatte, haben Schauspieler*innen stets das Äußerste unternommen, um einen bestimmten Look aufrechtzuerhalten. Rita Hayworth unterzog sich einem „ethnischen Umstyling“, um ihre spanischen Wurzeln zu verbergen und so mehr Hauptrollen zu bekommen. Die Stars der 1920er Jahre limitierten ihre Flüssigkeitszufuhr auf zwei Gläser am Tag, um damit Gewicht einzusparen. Jane Fonda litt am Zenit ihres Status’ als Sexsymbol an schwerer Bulimie, ebenso wie Marlon Brando.

Aber in alten Filmen sah man immer noch erkennbare menschliche Körper und Gesichter, Körper, die man als einfache Person ohne ein Team von Personal Trainern, Ernährungsberater*innen, Privatköch*innen und Chemiker*innen erreichen konnte, sollte man das denn wollen. 

In den Filmen der Achtziger und Neunziger sahen die Stars gut aus, klar, aber eben auch noch wie Menschen. Kurt Russels Snake Plissken war ein absoluter Traumtyp, aber in Oben-ohne-Szenen sieht man, dass seine Bauchmuskeln nicht wie ein Waschbrett aussehen. Bruce Willis war ansehnlich, aber er ist heutzutage muskulöser als er es in den Neunzigern war, als er noch als wahres Sexsymbol angesehen wurde. Wenn sich Isabella Rosselini in “Blue Velvet” auszieht, kommt ihre blasse Haut und ihr weicher Körper zum Vorschein. Sie sieht verletzlich und real aus.

Aber: Diese Charaktere haben noch gebumst. Dorothy Vallens und Jeffrey Beaumant bumsten in „Blue Velvet“. Michael Keatons Batman und Michelle Pfeiffers dominante Catwoman bumsten. Kyle Reese und Sarah Conner bumsten. Snake Plissken haben wir zwar nie bumsen sehen, aber der ganze Charakter verströmt diese überwältigende Energie von jemandem, der bumst. Und ich würde wetten, dass mir niemand einen Mainstream-Film nennen kann, in dem eine geilere und queerere Szene vorkommt als das sexy Saxophonsolo aus “The Lost Boys”.

* * * * *

Aus heutiger Sicht ist eine der markantesten Szenen aus “Poltergeist” (1982) nicht die mit der bösen Clownpuppe oder dem monsterhaften Baum, sondern ein Moment der unverkrampften Liebe zwischen den Eltern. Der Vater, gespielt von Craig T. Nelson, inklusive Glatze und Bierbauch, witzelt für seine Frau herum, während sie in ein altbackenes Nachthemd gehüllt einen Joint raucht und typische Grasgedanken zum Besten gibt und dabei über die Showeinlage ihres Mannes lacht. Schließlich wirft sich ihr Mann ausgelassen zu ihr aufs Bett. Die beiden sehen in dieser Szene nicht wirklich anmutig aus, aber ihre Beziehung fühlt sich greifbar und gewohnheitsmäßig und charismatisch und einfach echt an.

Auch ihr Haus wirkt echt. Überall liegen Spielsachen und Hefte auf dem Boden. Es stehen Pappkartons rum, die seit dem kürzlichen Umzug darauf warten, ausgepackt zu werden. Gerahmte Bilder lehnen an der Wand; offensichtlich ist noch niemand dazu gekommen, sie aufzuhängen. Die Küchenanrichten sind vollgestellt, die Mahlzeiten sind ausgelassen und chaotisch, wie man das in einem Haushalt mit drei Kindern erwarten würde. Sie bauen sich im Garten einen Pool, aber nicht um des Prestiges willen: Es soll ein Ort für die Kinder sein, zum Schwimmen, für die Eltern, um dort Partys zu schmeißen, und für den Vater, der dort seine Liebe zum Tauchen wieder aufleben lassen möchte.

Damals stand dieses Haus für eines der Ideale des US-amerikanischen Wohlstands. Im Kontrast dazu stehen die Häuser in heutigen Filmen, mit ihren riesigen, sterilen, gähnenden Räumen und minimalistischen Möblierung. Die Küchen haben Industrieausmaße und sind blitzblank, und nirgendwo ist etwas zu essen zu sehen. Es gibt kein Übermaß, kein Chaos.

In ihrem Blog „McMansion Hell“ bespricht die Journalistin und Architekturkritikerin Kate Wagner sehr genau, warum diese weithin verabscheuten 500-m2-Monstrositäten so furchtbar sind. Wieder und wieder kommt sie darauf zurück, dass diese „McMansions“ nicht dafür gebaut wurden, um als Zuhause zu dienen. Es sind kurzfristige Finanzanlagen.

Sie schreibt Folgendes: „Das Innere der McMansions wurde so designt, dass möglichst viele ‘Features’ zum kleinstmöglichen Preis hineinpassen.“ Diese Features sind allein dafür da, den Wiederverkaufswert des Hauses zu steigern, nicht um daraus einen Ort zu machen, an dem man gerne lebt. Es wird kein Gedanke an die Arbeit verschwendet, die nötig ist, um diese Häuser sauber und in Schuss zu halten. Das große Badezimmer ist mit fein gearbeiteten Steinoberflächen ausgestattet, die man nur mit einer Zahnbürste gereinigt bekommt. Die kathedralenartigen Decken im Wohnzimmer lassen die Heiz- und die Stromkosten für die Klimaanlage in exorbitante Höhen schießen. Der Kronleuchter in der Eingangshalle hängt so hoch, dass sich die Leuchten nicht mal mit einer Leiter tauschen lassen.

Das gleiche Schicksal hat unsere Körper ereilt. Ein Körper ist kein ganzheitliches System mehr. Er dient uns nicht mehr dazu, während unserer kurzen Zeit auf dieser Erde Freude und Genuss zu erfahren. Er ist kein Zuhause, in dem wir leben und glücklich sind. Auch er ist nur noch eine Ansammlung von Features: Sixpack, Thigh Gap, Cum Gutters. Diese Features haben auch nicht den Zweck, unser Leben angenehmer zu machen, sondern unseren Anlagewert zu steigern. Unsere Körper sind Investitionen, die ständig optimiert werden müssen. Nur warum eigentlich? Um uns das vage Gefühl zu geben, ein besseres Leben zu führen? Ist ein Leben mit Brot objektiv schlechter als eines ohne? Haben wir als Kinder davon geträumt, jede Kalorie und jeden Schritt zu zählen?

Noch vor ein oder zwei Generationen war es normal, dass Erwachsene nicht zur Selbstoptimierung sondern einfach nur zu ihrem Vergnügen Sport trieben. Menschen tanzten, weil sie Spaß daran hatten. Pärchen verbrachten zusammen Zeit beim Tennis. Kinder spielten Ball, weil sie nichts anderes zu tun hatten. Das Workout im Fitnessstudio erfüllte auch einen sozialen, und keinen moralischen Zweck. Menschen trainierten, um heiß auszusehen, damit sie andere heiße Menschen klarmachen und mit ihnen ins Bett steigen konnten. Wie auch immer man zu dem Ethos dahinter steht, das letztendliche Ziel war das Vergnügen.

Aber nicht heutzutage. Heute sind wir perfekte Inseln der emotionalen Selbstständigkeit, und das Verlangen danach, berührt werden zu wollen, wird als peinlich und co-abhängig angesehen. Wir machen das alles nur für uns selbst, da wir uns, natürlich ganz zufällig, verzweifelt nach einem körperlichen Standard sehnen, den eine gesichtslose Entität irgendwo in einem Versicherungsbüro festgelegt hat. 

Die Werbung für Fitnessstudios ist heutzutage meistens auf die streng autonome Selbstoptimierung ausgerichtet: Sei dein bestes Ich. Schaffe ein neues Ich. Wir treiben keinen Sport mehr – wir trainieren, mithilfe von Fitnessprogrammen, die Namen tragen wie Booty Bootcamp, als würden wir unsere Ärsche darauf vorbereiten, sie in den Großen Booty-Krieg zu schicken. Es gibt kein Versprechen von Intimität. Wie unsere Helden des Marvel-Cinematic-Universums und Rico und Dizzy und alle anderen Infanteriesoldat*innen aus Starship Troopers sind wir allein geil auf die Vernichtung.

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Eine Nebenwirkung der extremen Kalorienbeschränkung, über die wenig gesprochen wird, ist der Verlust der Libido. Dies passiert bei Bodybuildern, wenn sie auf Radikaldiäten sind, um schnell Fett zu verlieren, damit ihre Muskeln bei Wettbewerben besser zur Geltung kommen. Auch wenn sie physisch wie die angeblich perfekte Verkörperung der Männlichkeit aussehen, träumen sie nicht von Sexualpartner*innen, sondern von Burgern und Pommes. Viele Menschen, die an Essstörungen leiden, verlieren ihr Verlangen nach Sex vollständig und hören sogar auf zu menstruieren.

Werden einem Körper nicht ausreichend Kalorien zugeführt, muss er die zentralen lebenserhaltenden Systeme gegenüber allen Funktionen, die nicht unmittelbar für das Überleben des Körpers benötigt werden, priorisieren. Das sexuelle Verlangen gehört zur zweiten Kategorie, ebenso wie das höhere abstrakte Denken. Ein Körper, dessen Nahrungszufuhr bei gleichzeitiger erhöhter körperlicher Betätigung beschränkt wird, glaubt sich in einer Phase der Hungersnot – ein nicht gerade idealer Zeitpunkt zur Fortpflanzung.

Ist es nicht grausam puritanisch, ein sexuelles Ideal zu erschaffen, das gleichzeitig zum Verlust der Freude am Sex führt?

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Wenn sich eine Nation bedroht sieht, pumpt sie sich auf. Deutschland und Norwegen waren zum Ende der napoleonischen Zeit geradezu besessen von individueller Selbstoptimierung durch körperliche Ertüchtigung. Die Briten übernahmen diese Körperkultur, als sich das 19. Jahrhundert – und das britische Weltreich – dem Ende zuneigte. Selbst Yoga, wie wir es heute kennen, nämlich als Form des meditativen Krafttrainings, entstammt der indischen Unabhängigkeitsbewegung der 1920er und 30er Jahre.

Der treibende Gedanke dieser Bewegungen besteht nicht darin, einfache Freude an der Fitness, an körperlicher Stärke und äußerlicher Schönheit zu finden. Stattdessen steckt etwas Kompetitives dahinter. Es geht darum, stark genug zu werden, um gegen den Feind zu kämpfen, wer auch immer das sein mag.

Auch die Bevölkerung der USA, wie sollte es anders sein, konnte sich dessen nicht erwehren. Der Presidential Fitness Test kam zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf, nachdem in Studien herausgefunden worden war, dass die US-amerikanischen Kinder ihren europäischen Altersgenoss*innen in einigen Turn- und Flexibilitätsprüfungen hinterher waren. Die Paranoia des Kalten Krieges verstärkte diese Ängste, besonders zum Beginn der 1980er Jahre. Was, wenn die Kinder zu dick sind, um den Kommunismus zu besiegen? Diese Besessenheit verschmolz wunderbar mit dem Boomer-Yuppie-Narzissmus und brachte schließlich den Aerobic-Trend hervor.

Dann kamen die Neunziger, die Berliner Mauer fiel, und Spandex und Schweißbänder wurden plötzlich zum peinlichen Ding der Vergangenheit. In den USA war man immer noch ganz scharf darauf, dünn zu sein, aber nicht aus Gründen der körperlichen Kraft. Zwei Dinge geschahen zum langsam anbrechenden neuen Jahrtausend, die die Körperkultur zurück auf den Plan rufen sollten.

Zunächst wurde im Jahr 1998 beschlossen, den BMI-Standard um ein paar Punkte zu ändern. War in der Vergangenheit noch ein BMI von 27 (für Frauen) oder 28 (für Männer) nötig, um als übergewichtig zu gelten, war dies beim neuen Standard nun schon bei 25 Punkten der Fall. Über Nacht wurden neunundzwanzig Millionen US-Amerikaner*innen übergewichtig, ohne ein Gramm zugenommen zu haben. Gemäß den neuen Richtlinien konnten Ärzt*innen nun Diätpillen verschreiben oder ihren Patient*innen Operationen zur Gewichtsreduktion empfehlen.

Eine landesweite Panik war die Folge. In drastischen Überschriften las man von einer neuen Plage an dicken Menschen, deren Körper tickende Zeitbomben darstellten, die die Gesellschaft jederzeit in Tod und Zerstörung stürzen konnten. Archivbilder von dicken Menschen in der Öffentlichkeit, die vom Hals abwärts gefilmt wurden, um ihre Persönlichkeitsrechte zu wahren (und sie noch effektiver zu enthumanisieren), waren ein allgegenwärtiger Anblick im Fernsehen, wo hagere Nachrichtensprecher*innen von den Horrorszenarien der Adipositas-Epidemie berichteten. Seltsamerweise hielt man es nur in sehr wenigen dieser Berichte für nötig, die Änderung des BMI-Standards zu erwähnen.

Das zweite Ereignis war natürlich der 11. September.

Der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon hatte einen neuen Krieg gegen den Terror zur Folge. Die USA musste sich also in Form bringen, um als Sieger daraus hervorzugehen. Die hypermilitaristische Militärkultur der USA nach 9/11 vermischte sich mit der Gewichtspanik und resultierte in einer angsteinflößenden Entwicklung. Zum Sportunterricht in öffentlichen Schulen gehörten nun spezielle Militär-Fitness-Tage, an denen die Schüler*innen unter anderem das Werfen von Granatenattrappen übten. George W. Bush fügte dem Presidential Fitness Program eine Fitness Challenge für Erwachsene hinzu. Über das US-amerikanische und britische TV rollte eine neue Welle an Dokumentationen und Reality-Shows hinweg, in denen die Gesellschaft dafür fertiggemacht wurde, dass sie zu dick für den Sieg über al-Qaida sei: Honey, We’re Killing the Kids; Supersize Me; You Are What You Eat, eine Show, in der Brit*innen angemotzt wurden, wenn ihre Fäkalien nicht irgendwelchen peinlich genau gesetzten Standards entsprachen. Oder natürlich The Biggest Loser, worin sich die dicken Kandidat*innen von schlanken Trainer*innen auf eine Art und Weise anschreien lassen müssen, die sehr stark an die stereotypischen Methoden eines Drill Instructors erinnert.

Und nun sind Muskeln – riesige, pulsierende, durch Steroide aufgeblasene Muskeln – wieder auf den Bildschirm zurückgekehrt. Nur geht der neuen Muskelära die Erotik des 80er-Jahre-Actionkinos ab. Arnold Schwarzenegger zeigte seinen Allerwertesten in Terminator, Sylvester Stallone zog sich für den ersten “Rambo” und für “Tango & Cash” aus; in „Bloodsport“ sehen die geneigten Zuschauer*innen mehr von Jean Claude Van Dammes Körper als vom Körper seines Love Interests.

Die Adonisse des aktuellen Kinos sind meistens jedoch Never Nudes. Das Marvel Cinematic Universe ist strikt auf PG-13 (etwa FSK 12) ausgelegt, so wie man das von einem Disney-Produkt erwarten würde, aber auch im DC-Universe findet man sehr wenig menschliche Sexualität. Die Fans rufen stets nach „erwachseneren“ Superheld*innenfilmen; was sie damit meinen ist mehr explizitere Gewalt, niemals aber mehr Sex. Sie verloren vollkommen die Nerven wegen Dr. Manhattans leuchtendem blauen Penis in Watchmen, und sie haben Joel Schumacher niemals dafür vergeben, dass er Nippel auf Batmans Anzug gepackt hat. 

Die heutigen Stars sind Actionfiguren, aber keine Actionheld*innen. Ihre perfekten Körper existieren einzig und allein dafür, anderen Menschen Gewalt anzutun. Spaß haben bedeutet schwach sein, sein Team im Stich lassen, dem Gegner eine Chance zum Sieg präsentieren. So wie der zwischenzeitlich dicke Thor in “Endgame”.

Dieser Filmtrend spiegelt die alldem zugrunde liegende Kultur wider. Selbst vor der Pandemie waren die Millenials und Zoomer weniger sexuell aktiv als die Generation vor ihnen. Vielleicht machen wir uns zu viele Sorgen um das Ende der Welt; vielleicht sind wir zu pleite um auszugehen; vielleicht sorgt die Tatsache, dass wir mit Mitbewohner*innen oder unseren Eltern zusammenleben müssen, dafür, dass es uns unangenehm ist, jemanden mit nach Hause zu bringen; vielleicht stören in die Umwelt entlassene Chemikalien unseren Hormonhaushalt; vielleicht wissen wir nicht, wie wir außerhalb der Rape-Kultur mit menschlicher Sexualität umgehen sollen; vielleicht hat die uns anerzogene Botschaft, dass unsere Körper eine nationengefährdende Bedrohung darstellen, unsere Freude an körperlicher Lust getrübt. 

Gleichzeitig hat die Häufigkeit der Essstörungen stets weiter zugenommen. Wir bereiten unsere Körper immer noch darauf vor, gegen den Feind zu kämpfen. Und da wir hier gegen ein abstraktes Konzept Krieg führen, ist dieser Feind unsichtbar und nicht (an)greifbar. Um ihn zu besiegen, müssen sich unsere Körper auch ihrer Solidität entledigen.

* * * * *

Aber es besteht Hoffnung. 

Robert Pattinson hat die Hauptrolle im neuen Batman-Film übernommen (2022). Er hat ganz stolz verkündet, dass er sich weigert, sich für die Rolle aufzupumpen, ganz zur Entrüstung der Fans. 

In einem Interview mit der Variety aus dem Jahr 2019 sagte Pattinson: „In meinen letzten drei oder vier Filmen hatte ich eine Masturbationsszene. In „High Life“. In „Damsel“. Und in „The Devil All the Time“. Mir ist das erst aufgefallen, als ich es zum vierten Mal [in “The Lighthouse”] gemacht habe.“

Ob er letztendlich der Held war, den wir brauchten, muss jede*r für sich selbst entscheiden.

Beitragsbild von Ali Kokab

Neue alte Männlichkeit – Zur Debatte um den Band ‚Oh Boy‘

von Peter Hintz

Oh Boy. Männlichkeit*en heute hieß eine Anthologie von Texten deutschsprachiger Autor*innen, die sich großer Aufmerksamkeit erfreute, bevor sie einen Monat nach ihrem Erscheinen vom Kanon Verlag wieder vom Markt genommen wurde. Boykottaufrufe und heftige öffentliche Kritik am Verlag und an den Herausgebenden Donat Blum und Valentin Moritz hatten es zunehmend unhaltbar gemacht, ein Buch, das für eine neue Form kritischer Männlichkeit stehen wollte, in der aktuellen Form zu belassen. Gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen hatte Moritz in seinem eigenen Beitrag einen sexualisierten körperlichen Übergriff thematisiert, den er selbst begangen hatte.

Die Anthologie ist Teil einer ganzen Reihe neuer deutschsprachiger Bücher, die explizit Männlichkeit thematisieren und sich in ihren introspektiven Erzählungen als selbstkritisch verstehen. Dazu gehören etwa Toxic Man von Frédéric Schwilden, Väter von Paul Brodowsky oder Prägung. Nachdenken über Männlichkeit von Christian Dittloff. Oh Boy präsentiert sich intersektional und beinhaltet auch Beiträge von queeren und nichtweißen Autor*innen, will also die Vielstimmigkeit von Männlichkeiten jenseits einer heteronormativ-weißen Geschlechtsidentität hervorheben. Es geht um “Bilder von neuen Männlichkeit*en bis heute.”

Dank der Uneindeutigkeit des Begriffs “neue Männlichkeit” lassen sich damit eine ganze Reihe männlicher Praxen zusammenwürfeln – von trans Männern über sorgende Väter bis hin zu alleinstehenden cis Männern, die sich als irgendwie selbst- oder “herrschaftskritisch” identifizieren. Von vornherein konnten Kritiken an den Herausgebenden oder einzelnen Beiträgen also mit Verweis auf andere, bessere Teile des Buches abgewehrt werden. So erscheint der Text des Herausgebers Valentin Moritz neben Beiträgen von bekannten queerfeministischen Autor*innen wie Sascha Rijkeboer oder postmigrantischen Schriftstellern wie Dinçer Güçyeter.

Konkreter verstehen die Herausgebenden und einige ihrer Autor*innen die ‘neue’ Männlichkeit als Kontrastfolie zu einer ‘alten’ Männlichkeit, die für die patriarchale Ausübung von Macht stand, gegen Frauen, vor allem aber gegen andere Männer, die durch rigide körperliche und soziale Normen selbst beschränkt werden. Im Vorwort heißt es:

„Es war im Dezember 2021. Wir saßen in einer Bar in Neukölln und tauschten uns über unser zwiespältiges Verhältnis zum Literaturbetrieb aus, über unser Schreiben und das der Anderen. […] Hier drinnen jedoch begannen unsere Köpfe zu glühen: Auf gewundenen Pfaden entwickelte sich die Vorstellung eines gemeinsamen Buches […] Oh Boy sollte das Buch heißen, denn, oh boy!, es würde mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Wie wurden wir zu ‘Männern’ gemacht? Von welchen Männlichkeitsidealen wurden wir geprägt? Warum grenzen wir uns von einigen ab und lassen andere gelten?“

Die ‘neue’ Männlichkeit betont emotionale oder physische Schwächen, eine gefühlige Innigkeit zwischen Männern jenseits von Homosexualität und überhaupt das offene Reden über die eigene Erfahrung mit Geschlechternormen. Donat Blums Ich-Erzähler*in, die*der sich selbst als “mansplain[er]” bezeichnet, erklärt: “Männlichkeit sind die Betten, die nach meinem pubertären Bruder riechen. Nach verkorkster Sexualität. Nach saurem Bier und stolzem Furz.”

Nicht einmal die Hipsterstädte (Freiburg und Berlin), an denen sich die Autor*innen im Gegensatz zu ihrer ländlichen Heimat heute gern aufhalten, sind angesichts sozialpolitischer Veränderungen der letzten Jahrzehnte besonders neu. Männliche Homosozialität und Feminismus wirken für die Herausgebenden allerdings wie Entdeckungen der letzten fünf bis zehn Jahre, da es zuvor an einem “selbstkritischen Dialog” gemangelt habe. Ein vom SWR produzierter Videobeitrag über Oh Boy zeigt Moritz, wie er sich stolz von einem Freund die Haare schneiden lässt und mit einer Frau Tischfußball spielt.

Statt einer fundierten Rahmung der einzelnen Beiträge wollen die Herausgebenden betont “kein monolithisches, durchgestyltes Werk einer einzelnen Expertenperson” bieten, sondern eine lose Sammlung von Essays und Kurzgeschichten, “in bester literarischer Tradition”. Mit diesem Verweis auf die literarische Form wird offengelassen, wer eigentlich in den Beiträgen von sich erzählt und die eigene Männlichkeitspraxis kritisch reflektiert – sind es fiktive Ich-Erzählende oder die Autor*innen selbst? Moritz’ Kurzbeschreibung seines Textes gibt allerdings an, dass er sich in seinem Text “die eigene Übergriffigkeit ein[gesteht].”

Wie spätere Statements von Verlags- und Herausgebendenseite auch zeigen, liegt in der strategischen Uneindeutigkeit von Fakt und Fiktion ein Schlüsselproblem der Männeranthologie. So haben nach der öffentlichen Kritik am Buchprojekt Donat Blum und der Verlag auf eine angebliche Fiktionalität des Beitrags von Moritz verwiesen. Vorwürfen, Moritz hätte sich über die Wünsche eines Opfers von sexualisierter Gewalt gesetzt, wurde ironischerweise also damit begegnet, dass die Aussagen im Text – und damit auch das Schuldeingeständnis und das Selbstbekenntnis zur kritischen Männlichkeit – als fiktiv zu bewerten seien.

Unklarheit über das, was jetzt eigentlich real ist und was nicht, durchzieht diesen Diskurs der neuen Männlichkeit auch in anderer Hinsicht. Zwar wird unentwegt die Unnatürlichkeit ziemlich abstrakter ‘alter’ Männlichkeitsbilder hervorgehoben, zugleich bleibt aber unhinterfragt, ob die dick aufgetragene Melancholie der Autor*innen (oder: Ich-Erzähler?) sich nicht selbst klassisch männlicher Tropen bedient und damit kulturell bedingt ist. Ganz im Gegenteil scheint es, dass mit dieser männlichen Gefühligkeit eine ‘neue’ männliche Natürlichkeit behauptet wird, die ironischerweise eine Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit durchaus anerkennen will.

So soll durch Gefühl, insbesondere dem Eingeständnis von Verletzlichkeit, einem Mangel an männlicher Authentizität beigekommen werden; unter den Wunden der alten patriarchalen Männlichkeit, ihren verdrängten Wünschen und Schwächen, liege eine Essenz männlicher Individualität. Dieser individualisierte und sich selbstkritisch gebende Männlichkeitsdiskurs ist nicht neu; er wird schon in den kanonischen Texten des liberalen Aufbruchs der 1960er und 1970er Jahre transparent, in Buddy Movies wie Easy Rider oder bei den männlichen Einzelgängern John Updikes oder Philip Roths. 

Bei vielen Texten in Oh Boy geht es damit gar nicht zuerst um männliche Selbsthinterfragung, die auch Antworten hervorbringen soll, sondern um emotionale Expressivität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbstmitleid oder Schuldgefühlen bis hin zum Kitsch. Valentin Moritz (oder sein Erzähler) fragt sich, “[w]ie genau ich zum glücklichen Menschen werde, weiß ich nicht […] Ich fühle mich in der Schwebe wie eine Frisbee im Flug. […] Aber immerhin, ich lerne gerade, meine Gefühle zu benennen – und wenn es nur das Gefühl ist, eine Frisbee zu sein. Huiiiiiiii.” Und auch Daniel Schreibers Kurzgeschichte über einen sich als übermäßig angepasst empfindenden schwulen Mann endet mit der Pointe: “Er fragt sich, was er alles unterdrücken musste, um die Person zu werden, die er geworden ist, und ob ihm diese Person gefällt.”

Grenzen und Hierarchien dieser gefühligen und egozentrischen Männlichkeit bleiben unreflektiert, weibliche Perspektiven spielen im Buch kaum eine Rolle. Die Herausgebenden und manche ihrer Autor*innen reiten lieber auf patriarchalen Dorf- und Vatergeschichten aus der Jugenderinnerung herum. Die neue Männlichkeit bleibt homosozial, erzeugt sich im Vergleich mit vermeintlich weniger “herrschaftskritischen” Männern. Die Erneuerungsrhetorik der Herausgebenden verschleiert letztlich die Anleihen der neuen Männlichkeit beim Altbekannten.

Foto von Marcel Strauß auf Unsplash

Die Deutschen und ihr Dichter – Über Hermann Löns

von Markus Thielemann

Da es ohne eindeutige Meldeadresse unmöglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind Straßennamen ein untrennbarer Teil unseres Alltags. Aus diesem Grund gibt es Petitionen und Proteste, die Namen von Mördern von den Schildern und aus den Adressbüchern zu entfernen. Denn die allerwenigsten Menschen möchten bei der wöchentlichen Onlinebestellung den Namen eines Faschisten oder Kolonialgenerals in die Suchmaske eintragen.

Nach dem Schriftsteller und “Heidedichter” Hermann Löns sind über eintausend Straßen und Plätze in Deutschland benannt.[1] Damit steht er nicht alleine. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellern, deren Namen in ähnlichem Ausmaß deutsche Stadtbilder prägen: Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin, Heine und Eichendorff sind zwar wie Löns, allesamt Männer, doch damit hat es sich mit den Gemeinsamkeiten. Die Werke der genannten Dichter sind bis heute Teil eines über Jahrhunderte gewachsenen Literaturkanons, und gleichsam tief im kulturellen Gedächtnis dieses Landes verankert.

Hermann Löns gehört einer anderen, jüngeren Generation an. Er starb im Jahr 1914 mit 48 Jahren, das Gros seiner Werke veröffentlichte er im zwanzigsten Jahrhundert. Im Deutschunterricht spielt er heute keine Rolle mehr (Spoiler: zu Recht). Und trotzdem: Kein*e deutschsprachige*r Schriftstellerer*in der Moderne ist in Deutschland derart oft verewigt worden wie er. Kein Mann, kein Kafka, kein Remarque, weder Nietzsche noch Hauptmann, noch Rilke, von Schriftstellerinnen ganz zu schweigen. Zum Vergleich: Es gibt in Deutschland mehr Straßen und Wege mit “Löns” im Namen als solche mit “Schmidt”, “Meier” oder “Adenauer”. Es gibt Apotheken, die nach ihm benannt wurden, es gibt eine ganze Stadt (Hermann-Löns-Stadt Walsrode), es gibt sogar ein Fußballstadion (Paderborn) und einen bis heute beliebten Festzeltschlager (“Hermann Löns, die Heide brennt”).

Wie kommt das? Wie kam es so? Warum ist dieser Mann mit seinen (ziemlich kitschigen) Natur- und Tiergedichten, seinen simplen Jagdgeschichten und seinen Romanen über Heidebauern in nur zwanzig Jahren für immer in das kollektive Gedächtnis eines ganzen Landes vorgedrungen?

Ideelles Bollwerk gegen die Moderne

Geboren wurde Hermann Löns 1866 in Chełmno (damals Culm) im heutigen Polen. Er zog mit seiner Familie nach Münster, machte das Abitur, trat ein Studium an und brach es wieder ab. Sein Alkoholkonsum führte zum Bruch mit seinen Eltern. Er begann als Journalist zu arbeiten, nach ein paar Stationen in verschiedenen Städten landete er 1892 in Hannover, wo er sich nach und nach als satirischer Kolumnist, “Lebemann” und Dandy einen Namen machte. In seiner Freizeit zog es ihn aufs Land, in die “Heide”.

Diese Kulturlandschaft zwischen Hannover und Hamburg, die bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts große Flächen Norddeutschlands bedeckt hatte, befand sich zu Löns Lebzeiten bereits unwiederbringlich in der Auflösung. Die voranschreitende Industrialisierung hatte die traditionelle Heidebauernwirtschaft, deren Hauptprodukte Honig und Wolle waren, innerhalb weniger Jahre unrentabel gemacht. Industriezucker verdrängte den Bedarf an Honig, die raue Wolle der Heidschnucken war gegen die Baumwolle aus den USA und Schurwolle aus Australien und Neuseeland nicht konkurrenzfähig. Zusätzlich war es durch den Einsatz von Industriedüngern Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erstmals möglich, die bis dato nahezu unfruchtbaren, sandigen Flächen intensiv zu bewirtschaften. Der Rest wurde mit genügsamen Kiefern aufgeforstet.

Der Stadtmensch und Dichter Löns jedoch fand in den kargen Flächen seine Heimat. Die Ödnis wertete er innerhalb weniger Jahre in ein urdeutsches Landschaftsideal um, das er in Liedern und Gedichten besang, und das er als Gegenentwurf zum komplexen Gewusel der Städte und zum Dreck der Fabriken in Stellung brachte. Die Heide war sein ideelles Bollwerk gegen die Moderne. Die Heidebauernfamilien, die Bewohner des dünn besiedelten Landstrichs, waren in diesem Konstrukt die idealen Menschen: Reinrassig, blond, tief verwurzelt in Natur und Landschaft, hart, wortkarg, leidgeplagt und doch herzlich. Löns behauptete: “Der Bauer ist das Volk, ist der Kulturträger, der Rasseerhalter.”[2]

Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch

Im Gegensatz zur Naturdichtung der Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fand Hermann Löns fern der Städte keinen Zauber und keine Mystik. Er fand das, was er für das echte Leben hielt: Die Idylle im Gleichschritt mit der Härte der Natur, den darwinistischen Überlebenskampf der Arten, der seinem Blick nach Stärke und Schönheit hervorbrachte und den er ganz im Geist seiner Zeit vollumfänglich auf menschliche Verhältnisse übertrug. Die Helden seiner Erzählungen sind Jäger und Bauern, oder die Tiere selbst. Es sind nahezu immer Männer. Gewalt und Tod sind allgegenwärtig. Pompös beschreibt er Kämpfe, herabsausende Knüppel, spritzendes Blut, röchelnde Kehlen, erlahmende Muskeln. Blut und Boden, “Rasse” und Heimat sind Motive die sich durch das Lönssche Werk ziehen, manchmal motivisch versteckt in seinen fast kindlich anmutenden, hingeplauderten Jagdgeschichten, manchmal offen geäußert, beispielsweise und exemplarisch wenn er behauptet: „Ich bin Teutone hoch vier. Wir haben genug mit Humanistik, National-Altruismus und Internationalismus uns kaputt gemacht, so sehr, dass ich eine ganz gehörige Portion Chauvinismus sogar für unbedingt nötig halte. Natürlich passt das den Juden nicht.“  Seine Briefe unterzeichnete er mit der Wolfsangel.

Zu seinen Lebzeiten im wilhelminischen Kaiserreich fanden seine Naturerzählungen, Romane und Gedichte schnell eine große Leser*innenschaft, durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. “Die Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch”[3] in Löns Werk sprachen eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung an. Er verpackte seine Botschaften einfach und klar, sie waren sehr anschlussfähig an den Nationalismus und den preußischen Soldatenkult, überzeugten konservative Intellektuelle ebenso wie die gerade entstehenden Naturbewegungen der Jugend. Später, in den Dreißigern, lange nach seinem Tod im Jahr 1914, ließ sich sein Werk nahezu perfekt in die Ideologie und die Propaganda der Nationalsozialisten einfügen. Das “Matrosenlied”, das Löns 1910 im Zuge des Flottenwettrüstens des Deutschen Reichs gegen das Englische Empire geschrieben hatte, wurde schon im Ersten Weltkrieg von hunderttausenden Marinesoldaten gesungen. Im Zweiten Weltkrieg vertonte es Goebbels oberster Propagandakomponist Herms Niel unter dem Namen “Englandlied” zu dem Kriegslied der Nazis.

„Grün ist die Heide“

Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus scheinen in vielen der Lönschen Texte durch, besonders und vor allem aber in seinem Roman “Der Wehrwolf”. Eine Gruppe Heidebauern kämpft darin zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gegen alle anderen, gegen “schwarzbärtiges Ungeziefer”. Diese extrem simple Us vs. Them Konstruktion, in der sich eine reinrassige Volksgemeinschaft gegen Einflüsse von Außen zu verteidigen gezwungen ist, die es zu zersetzen und zu vernichten drohen, zog im Kaiserreich, genauso wie in Weimarer Republik unter völkisch-nationalen Kreisen. Die Nazis priesen den Roman als “Werk nationalsozialistischen Geistes” und Löns als “Künder des Reiches Adolf Hitlers”. Der “Wehrwolf” wurde Schulstoff, wurde millionenfach als Feldlektüre für Wehrmachtssoldaten und Flakhelfer gedruckt und kann zudem als ideeller Wegbereiter für Himmlers Werwolfverbände gesehen werden, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die Alliierten Besatzer innerhalb Deutschland bekämpfen sollten.

Nach dem Krieg wurde es jedoch nicht still um Hermann Löns, im Gegenteil: 1951 erschien mit “Grün ist die Heide” ein auf Lönsschen Motiven basierender und mit Lönsschen Liedern versehener Heimatfilm. Er wurde einer der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten (sechzehn Millionen Menschen sahen ihn damals). Löns wurde weiter verehrt, jede Schuld und jeder Verdacht wurde aus seinem Werk gelöst, indem man nach außen nun vor allem seine Rolle als vermeintlicher früher “Naturschützer” hervorhob. Es sei von Anfang an eben nur um die Natur, die Tiere und das einfache Landvolk gegangen. Seine Werke wurden neu aufgelegt und millionenfach gedruckt, ein verlorener Krieg, Besatzung, die Verantwortung für die Shoah: Löns simple Heideidyllen waren Balsam für die der einfachen Nachkriegsseelen, seine Literatur funktionierte wie Schlager. So pflasterte man die Neubaugebiete Westdeutschland mit Hermann-Löns-Wegen, -straßen und -plätzen, man gründete Hermann-Löns-Kreise und Gesellschaften. Besonders von den Vertriebenenverbänden, die von Beginn an Sammelbecken rechter Ideologen und Ideen waren, wurde der gebürtige Westpreuße Löns verehrt. Parallel zur unvergleichlichen Schuld, die die Deutschen in der Nachkriegszeit kollektiv fortschwiegen, zu den Waffen, Parteibüchern und Abzeichen, die in Güllegruben oder unter losen Bodendielen verschwanden und den arisierten Vermögen, die in den Wohnzimmern und den Handelskontoren nach und nach im Wirtschaftswunder aufgingen, ließ man wortwörtlich Gras über den anderen Teil des Lönschen Werkes wachsen. Man erinnerte den Jäger und das Idyll für das er stand, aber nicht jene, auf die er schoss. Der brave Deutsche fühlte sich ihm verbunden, wenn er die grünbraunen Landschaftsgemälde mit den Hirschen und den Hunden über dem Küchentisch betrachtete, während man seine Kinder anschwieg.  Die Antwort auf die Frage, warum sein Name derart häufig auftaucht ist, also relativ simpel: Er war und ist unglaublich beliebt, er wurde millionenfach gelesen.

Die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen

Vor allem nördlich von Hannover und südlich von Hamburg, in der sich touristisch genutzte Heideflächen erhalten haben, ist Löns Name bis heute absolut allgegenwärtig. Es mag stimmen: Ohne Löns und sein Werk würde die Heide, wie sie in Niedersachen vorzufinden ist, vielleicht nicht mehr existieren. Er selbst war ein früher Mitinitiator des ersten Deutschen Naturschutzgebiets, der Lüneburger Heide (die im Grunde nie Natur war). Er festigte und mystifizierte die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen.

Doch was sagt das im Umkehrschluss aus? Ist die Lüneburger Heide nicht in gewisser Weise Löns Heide? Kann sie überhaupt getrennt von ihm gedacht werden? Was würde das bedeuten? Denn für Löns war die Natur und die Heide immer auch Projektionsfläche für sein eigenes Weltbild, eines, in dem Menschen in Rassen eingeteilt sind, in dem Gewalt das oberste Ordnungsprinzip war, man alten Zeiten nachtrauerte, wo Humanismus und Altruismus mit Jubel und Trara zurechtgeknüppelt wurden und in dem der Mann als Jäger und Heger das Recht besaß, über Leben und Tod und als Patriarch über sein Weib zu bestimmen.

Vielleicht hängt es auch mit diesem problematischen Erbe der Landschaft zusammen, dass sich seit Jahren völkische Siedlerfamilien in der dünn besiedelten Region ansammeln.

Was sagt es im Umkehrschluss über ein Land aus, dass es diesem Mann vehement Denkmäler gebaut hat und sich bis heute tausendfach mit seinem Namen schmückt? Löns war ein Chauvinist, ein Rassist, und ein Sexist, er war besessen von Gewalt, gleichzeitig neigte er zur Sentimentalität. Der allgegenwärtige Diminutiv der Tiernamen, Hasen, Rosen und Blut, schwülstige Liebesschwüre und der gegen alles Artfremde gerichtete Schlachtruf “Shlaah doot” der “Wehrwölfe”. Diese Mischung scheint die Deutschen bis heute zu berühren. Es ist ein wenig so, als sei die Lönssche Idee der Heimat die deutsche Idee von Heimat und umgekehrt: Ein Ort der Idylle und der vermeintlichen Wahrheit, der wahren Natur und der wahren Rasse, der den Deutschen unter Anwendung von Gewalt zusteht, und sonst niemandem.

Diese Idee von Heimat, von der Heide, vom “Land”, ist ein reales, gefährliches Problem. Denn im Geiste einer solchen Heimat werden in Deutschland Menschen ermordet, bis heute. Hunderte deutsche Gemeinden sollten sich deswegen Gedanken machen, welche Art der Heimat sie sein wollen, und ob eine Hermann-Löns-Straße dazu passt.


[1] Bei Zeit Online gibt es ein frei zugängliches, sehr faszinierendes Tool, mit dem sich die Häufigkeit eines Straßennamens in Deutschland überprüfen, sowie seine Verteilung auf einer Karte zeigen lässt: Straßennamen: Wie oft gibt es Ihre Straße? | ZEIT ONLINE

[2] Dupke Mythos Löns, 171, nach Löns, Bauernrecht und Bauernmoral.

[3] Dupke, Mythos Löns, 179

Beitragsbild von Chiara Wolf auf Unsplash

„Ich darf das!“ – Warum Meinungsfreiheit kein Selbstzweck ist

von Simon Sahner

Vor einiger Zeit gab Elon Musk dem US-amerikanischen Journalisten David Faber ein Interview in den Werkshallen von Tesla. Gerade war die jährliche Aktionärsversammlung zu Ende gegangen. Im Verlauf des einstündigen Gesprächs fragte Faber den CEO von Twitter, warum er wiederholt Statements poste, die außerordentlich kontrovers seien und den Eindruck erweckten, er sei unter anderem antisemitisch eingestellt oder hänge Verschwörungserzählungen an, und die ihn so ins Zentrum einer großen gesellschaftlichen Auseinandersetzung rückten. Das würde doch vermutlich seinen Unternehmen schaden.

Musk schaute irritiert, er zögerte, begann unsicher zu sprechen und sagte dann, immer noch sichtlich überrascht von der Frage: „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Auf Nachfrage des Journalisten, der ihm versicherte, dass er absolut das Recht habe, seine Meinung zu sagen, war Musk immer noch erkennbar verwirrt, schwieg fast zehn Sekunden, setzte wieder an, schwieg dann erneut und antwortete schließlich sinngemäß, ihm sei jede Konsequenz egal, er sage, was er will, weil er es darf.

Zehn Tage später twitterte Musk eine Karikatur, in der eine große Hand eine Menge sehr kleiner Menschen niederdrückt, daneben der Schriftzug „Um zu verstehen, wer über dich herrscht, finde einfach heraus, wen du nicht kritisieren darfst.“ Laut der Karikatur stammt das Zitat von Voltaire, dem großen Philosophen der europäischen Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert. Das ist nachgewiesenermaßen falsch, vielmehr stammt die Aussage von dem US-amerikanischen Neo-Nazi und Holocaust-Leugner Kevin Alfred Strom. Solche falschen Voltaire-Zitate sind nicht weiter ungewöhnlich. Es scheint vielmehr eine nicht unübliche Praxis zu sein, dem bekannten Philosophen Aussagen zuzuschreiben, um ihn dann als Gewährsmann für das unbedingte Recht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen. Der berühmteste Fall ist mit Sicherheit „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ Wahrscheinlich liegt der Ursprung dieser Fehlzuschreibung bei der Autorin Evelyn Beatrice Hall, die Voltaire in ihrer Biografie über den Aufklärer so zitiert, um seine Haltung zur Meinungsfreiheit pointierter zu formulieren, als es der Philosoph selbst getan hatte.

Das Heiligtum der aufgeklärten Gesellschaft

In diesen beiden beispielhaften Äußerungen von Elon Musk, der sich selbst wiederholt als „free speech absolutist“ bezeichnet hat, liegt meines Erachtens eine Aussage darüber, in was für eine schwierige Situation Meinungsfreiheit als Wert geraten ist, und darüber, was diese Situation über aktuelle gesellschaftliche Konflikte aussagt. Denn was für eine Bedeutung hat der Begriff Meinungsfreiheit für unser Zusammenleben in einer Kultur und einer Gesellschaft noch, wenn seine Erwähnung schon ausreichen soll, potenziell antisemitische und verschwörungstheoretische Aussagen eines Multimilliardärs zu rechtfertigen? Sich auf Meinungs- und Gedankenfreiheit, auf Philosophen der Aufklärung, auf populäre Freiheitslieder und am Ende beinahe immer auf George Orwells 1984 zu berufen, scheint inzwischen vor allem die Indienstnahme von kulturellem Kapital zu sein. Wenn Musk das vermeintliche Voltaire-Zitat postet, postet er das kulturelle Kapital der Aufklärungsbewegung gleich mit. Und wer sich auf diese und andere Größen der Aufklärungsgeschichte beruft, kann – so der Gedanke – nicht ganz falsch liegen.

Aber der Reihe nach. Die Meinungsfreiheit ist nicht zu Unrecht das Heiligtum der demokratischen, liberalen und aufgeklärten Gesellschaft. Geboren aus der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts und den Barrikadenkämpfen der Französischen Revolution, legt das Recht auf freie Äußerung der Meinung den Grundstein für jede Gesellschaft, die sich als demokratisch bezeichnet. Ein Staat, in dem dieses Recht nicht grundsätzlich garantiert ist, kann nicht frei und demokratisch sein. Der literaturgewordene Schlachtruf dazu stammt von Friedrich Schiller aus dem Drama „Don Karlos“, in dem der Marquis von Posa an König Philipp II. von Spanien gerichtet ausruft „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Aus der gleichen Zeit stammt wohl ursprünglich der Text zu dem Lied „Die Gedanken sind frei“, das derzeit als Hymne zahlreicher Verschwörungsbewegungen missbraucht wird.

Es lässt sich generell beobachten, dass Meinungsfreiheit und die dahinterstehenden Werte der Aufklärung derzeit nicht zuletzt von denjenigen mit Inbrunst hochgehalten werden, die sich dafür rechtfertigen wollen, ignorant oder rücksichtslos zu sein. Das gilt für Leugner*innen der Klimakrise ebenso wie für Boris Palmers Auftritt bei der so genannten Migrationskonferenz Anfang Mai in Frankfurt. Mit beeindruckender Penetranz wiederholte Palmer dort das N-Wort vor protestierenden Student*innen ebenso wie später erneut auf der Bühne der Konferenz, schlicht weil er das Recht dazu hat. Mit der gleichen Haltung werden wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet, Menschen diskriminiert und beschimpft. Der Satz „Das ist meine Meinung.“ ist zur Universalrechtfertigung geworden, jedem alles zu sagen und alles zu behaupten. Dabei entsteht der Eindruck, viele dieser Dinge würden nicht zuletzt deshalb gesagt und behauptet, um zu demonstrieren, dass man sie sagen darf. Wenn Palmer vor mehreren nicht-weißen Student*innen ohne erkennbaren Grund das N-Wort wiederholt, dann handelt es sich dabei rein um die Demonstration seines Rechts, genau das zu tun – Meinungsfreiheit wird zum Selbstzweck.

Freiheit trotz juristischer Grenzen

Das Recht soll und darf ihm juristisch auch nicht verwehrt werden. Genauso wenig darf grundsätzlich rechtlich verboten werden, faktisch falsche Ansichten zu verbreiten. Gleichzeitig gibt es aber auch in einem Staat mit Meinungsfreiheit wie Deutschland juristische Grenzen. Beleidigungen können beispielsweise Strafen nach sich ziehen, gleiches gilt für den Tatbestand der Volksverhetzung, der unter anderem die Leugnung der Shoa miteinschließt. Meinungsfreiheit ist also selbst in einem freien, demokratischen Staat, in dem keine Zensur ausgeübt wird und das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, zumindest juristisch gesehen kein Selbstzweck. Dennoch kann man festhalten, dass hierzulande erst einmal fast alles gesagt oder anderweitig geäußert werden kann. 

Wie sehr diese Tatsache aber inzwischen in Vergessenheit geraten ist oder generell in Abrede gestellt wird, offenbarte vor wenigen Tagen erst der vielleicht beliebteste deutsche Fußballtrainer Jürgen Klopp. In einem langen Gespräch im Podcast Hotel Matze äußerte er seine Sorge um Meinungsfreiheit, insbesondere für Menschen in den Medien. “Wer hat denn die Freiheit, zu sagen, was er will?”, fragte er mit Blick auf Comedians unter anderem wie Dieter Nuhr. An solchen Äußerungen lässt sich ablesen, welche Verschiebung eines zentralen Begriffs stattgefunden hat. Die Meinungsfreiheit von Dieter Nuhr, der eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat, und allen anderen steht außer Frage. Meinungsfreiheit geht gerade auch in Deutschland mitunter sogar sehr weit.

Das gilt zum Beispiel auch für Produktion und Verkauf von sternförmigen Aufklebern, auf denen auf gelbem Hintergrund die Aufschrift „Dieselfahrer“ abgebildet ist und die an die so genannten Judensterne erinnern. Die Staatsanwaltschaft Halle stellte eine Anzeige gegen den Verkauf dieser Aufkleber mit der Begründung ein, es handle sich um eine zulässige, frei geäußerte Meinung. Unabhängig davon, wie in den Rechtswissenschaften solche Fälle diskutiert werden, kann man also feststellen: Das Grundgesetz hält, die Meinungsfreiheit steht, eine Zensur findet nicht statt. Von einem juristischen Standpunkt aus, würden das selbst diejenigen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen, wohl kaum bestreiten. Vielmehr fühlen sie sich von einer gesellschaftlichen Stimmung angegriffen, die mit harscher Kritik und Protest reagiert, wenn das N-Wort ausgesprochen oder geschrieben wird, wenn sich erwachsene Menschen als amerikanische Ur-Einwohner*innen verkleiden oder wenn trans Menschen ihre Identität oder gleich ihre Existenz abgesprochen wird. Man dürfe ja nichts mehr sagen, man traue sich ja gar nicht mehr auszusprechen, was man denkt, man betreibe Selbstzensur – es herrscht die „Cancel Culture“ und Deutschland ist „Wokeistan“. Das erscheint nicht zuletzt deshalb absurd, weil diejenigen, die meisten Menschen, die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen, gesamtgesellschaftlich weiterhin in der Mehrheit sind und die Machtpositionen der Gesellschaft innehaben. Dennoch sind es nicht zuletzt oft Politiker*innen in eben jenen Machtpositionen, die vor “Cancel Culture” und der so genannten “Wokeness” warnen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verkündete beispielsweise stolz, in Bayern dürfe man – anders als in Berlin – “sagen und singen, was man will”. Dass seine Partei im Bundestag sitzt und de facto auch ohne Regierungsbeteiligung Macht hat, spielt offenbar keine Rolle. Bei der Freiheit, alles sagen zu dürfen, ging es zwar immer schon um Macht; allerdings vor allem darum, keine Angst haben zu müssen, sich gegen die Mächtigen zur Wehr zu setzen. 

Eine einfache Forderung

Dabei kann man sich durchaus und mit Recht fragen, wo eigentlich das Problem liegt. Menschen, die Diskriminierung erleben, sagen anderen, verwendet bitte nicht dieses oder jenes Wort, macht keine Witze über uns, nehmt uns ernst, erkennt unsere Identität an, sonst verletzt ihr uns. Letztlich steckt hinter dem gesamten Diskurs ein berechtigter Anspruch auf Rücksichtnahme, auf einen Wert also, der essentiell ist für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Und hier kommt wieder die Aussage von Elon Musk ins Spiel „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Denn, wo das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, herrscht noch kein Zwang zur Meinungsäußerung. Genauso wie Musk mit Blick auf seine ökonomischen Interessen darauf verzichten könnte, Verschwörungserzählungen zu äußern, also sich selbst nicht zu schaden, könnten andere Menschen aus Rücksichtnahme auf andere auf das N-Wort verzichten oder darauf einer trans Frau zu sagen, sie sei in Wahrheit ein Mann. Sie könnten darauf verzichten, anderen zu schaden, indem sie Rücksicht nehmen.

Diese Form der Selbstbeherrschung, die manche als Selbstzensur empfinden, ist ein grundlegender Bestandteil unseres Zusammenlebens. Niemand sagt immer alles, was er denkt und meint, darauf haben wir uns als Gesellschaft geeinigt, auch wenn wir es nicht durch Gesetze geregelt haben. Die meisten von uns würden ihrem Unmut über langes Warten nicht lautstark Ausdruck verleihen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die Person an der Kasse gerade richtig lahmarschig arbeitet. Die meisten von uns sagen auch fremden Menschen im Aufzug nicht, dass wir ihr Outfit ausgesprochen geschmacklos finden und dass der Pickel auf ihrer Nase richtig eklig aussieht, auch wenn das unsere Meinung ist. Meinungen sind teilweise unverschämt, beleidigend und sogar falsch und es gehört zu den Grundregeln zwischenmenschlicher Kommunikation und einem funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenleben nicht alles zu sagen, was man denkt und meint, auch wenn man es darf. Letztlich geht es dabei um Anstand und Respekt, Werte, die gerade in konservativeren Kreisen immer wieder gefordert werden. Es hätte aber auch mit Anstand und Respekt zu tun, auf das N-Wort zu verzichten, sich nicht als amerikanischen Ureinwohner zu verkleiden oder anzuerkennen, dass auch Menschen, die nicht der eigenen Vorstellung von Männlichkeit entsprechen, männlich sein können. Denn letztlich geht es dabei um nichts anderes als darum, andere Menschen nicht zu verletzen.

Die absolute Freiheit des einen ist die Einschränkung des anderen

Deswegen erscheint der Kampf, den derzeit viele um Meinungsfreiheit führen, in sein Gegenteil verkehrt worden zu sein. Der zentrale Wert der Aufklärung wird zum Instrument, um die Freiheit diskriminierter Gruppen zu beschneiden. Die Freiheit, das N-Wort zu sagen, geht am Ende zu Lasten der Freiheit der Menschen, die dadurch verletzt werden. Sich mit Elementen anderer Kulturen zu verkleiden, ohne deren Bedeutung zu respektieren oder gar zu kennen, greift in die Freiheit der Menschen ein, ihre Identität und Kultur in ihrem Sinne zu repräsentieren. Man kann also tatsächlich nicht ohne Konsequenzen alles sagen oder tun, was man möchte. Das kann auch zu Unsicherheit führen und zur Angst davor, das Falsche zu sagen. Wer das aber als Einschränkungen der Meinungsfreiheit deklariert, verkennt die Komplexität von Freiheiten. Es ist eine der größten Herausforderungen, die es für eine Gesellschaft geben kann, das Zusammenleben so zu gestalten, dass möglichst vielen Menschen, möglichst viele Freiheiten zukommen. Deswegen ist es so elementar, dass Freiheiten mit Verantwortung, Respekt und Rücksicht verbunden werden. Es kann deswegen hilfreich sein, sich zu fragen, warum man etwas sagen oder tun möchte, und was passieren würde, wenn man darauf verzichtet. Denn Freiheiten sind meistens eine Sache der Aushandlung, die auf der Überlegung basiert, welche Konsequenzen die freiwillige Einschränkung der eigenen Freiheit hätte. Man kann sich fragen, ob der Verzicht auf ein Wort, für das es einen Ersatz gibt, wirklich schwerer wiegt, als die Freiheit anderer. Oder ob die eigene Auswahl eines Kostüms relevanter ist, als die Repräsentation einer Kultur. Ebenso kann man, bevor eine Aussage trifft, für einen Moment innehalten und die eigene Meinung in Frage stellen. Es sollte nicht zu viel verlangt sein, auch lang gehegte Ansichten oder vermeintliches Wissen zu hinterfragen. Wenn die Antwort auf diese Frage dann lediglich darin besteht, zu sagen “Ich darf das“, hat man es sich wahrscheinlich zu leicht gemacht. 

Es kann also gute Gründe geben, nicht alles zu sagen, was man sagen will. Dazu gehören rein egoistische Gründe, wie, dass man seine Anleger*innen und Werbekund*innen nicht verprellen will, ebenso wie, dass man anderen Menschen durch eigene Aussagen kein Leid zufügen will. Selbst die elementarsten Freiheiten, die juristisch garantiert sind, stehen im Kontext eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das nur mit Rücksichtnahme funktionieren kann. Die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung vorzuschieben, um einfach alles zu sagen, was man sagen möchte, egal, welchen Schaden man damit anrichtet, zeugt hingegen von Respektlosigkeit gegenüber den Werten von Freiheit und Demokratie. Dadurch verkommt eine der zentralsten Voraussetzungen für eine freie Gesellschaft zu einer leeren Hülle, unter der sich jeder verstecken kann, der sich angegriffen fühlt, weil ihm Kritik oder Widerspruch entgegenschlägt, oder dem gesagt wird, seine Äußerungen seien diskriminierend. Das ist nicht nur den Menschen gegenüber respektlos, die diskriminiert werden oder denen ihre Identität abgesprochen wird, sondern auch denen gegenüber, die in repressiven und diktatorischen Staaten wie dem Iran oder China darum kämpfen, nicht für ihre freie Meinungsäußerung verfolgt, gefoltert und getötet zu werden. Denn auch wenn Voltaire vieles nicht gesagt hat, was ihm zugeschrieben wird, dürfte sein Verständnis von Meinungsfreiheit vor allem darauf gezielt haben, gegen staatliche Unterdrückung vorzugehen.

Übrigens ist Voltaire trotzdem kein guter Gewährsmann für Freiheit und Demokratie. Seine Schriften sind voll von zweifelsfrei antisemitischen und zutiefst rassistischen Aussagen, die heutzutage vermutlich sogar unter Volksverhetzung laufen würden und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt wären. Voltaire dürfte heute wirklich nicht alles sagen, was er meinte, und selbst das wäre richtig so. Man muss – um Evelyn Beatrice Hall Aussage zu variieren – wahrlich nicht für jede Meinung bereit sein zu sterben.

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Barbiecore und der Kampf gegen das Patriarchat: Trägt die neue feministische Welle pink?

von Katharina Walser

“Wie Barbie zur feministischen Ikone wurde”, erklärt ein Artikel im Icon. Dass der Barbie Film in der Mode noch “Spuren hinterlassen” werde, mahnt ein Artikel in der Annabelle an, und “Warum Barbie und Pink jetzt als Feminismus-Symbole gefeiert werden” will das Emotion-Magazin erklären. So oder so ähnlich stand es in den vergangenen Monaten in zahllosen Artikeln in Lifestyle-Magazinen, Feuilletons und Newslettern. Die oft wiederholten Kernaussagen all dieser Texte wirken erst einmal simpel, aber einiges daran lohnt einen zweiten Blick. Am vordergründigsten die folgenden zwei Behauptungen: (1.) die zeitliche Chronologie und logische Kausalität “Barbie-Film führt zu Mode-Trend” und (2.) Greta Gerwigs kinematografischer Ausflug in Barbies Traumland ebenso wie der Modetrend selbst seien feministisch. 

Schauen wir uns das Ganze genauer an: Was war zuerst da? Die Barbiecore-Henne oder das Barbie-Film-Ei? Und was genau ist an beiden potenziell “feministisch”? Und zuallererst: Was um alles in der Welt ist eigentlich Barbiecore?

Wurzeln des Barbiecore im “Dopamin Dressing” und Y2K Revival

Wer den Begriff “Barbiecore” als Hashtag bei TikTok eingibt, stellt fest, dass es zu dem Schlagwort die absurde Zahl von über 500 Millionen Aufrufe gibt. Schnell erfasst man die große Palette an Produkten, die sich hinter dem Mode-Trend verbirgt: von knallpinken Kleidern über durchsichtige Plastik-Accessoires, Glitzer-Schuhen im Mules Stil (das sind die Peep-Toe-Pumps, die hinten wie ein Flip-Flop offen sind) bis hin zu allen anderen Kleidungsstücken, die geradewegs aus der Garderobe der ikonischen Plastik-Puppe stammen könnten. Aber man findet auch Beauty Trends wie den “Barbie Girl Blush” (eine sanft-pinke Rouge-Tönung) oder die “Barbie Nails”, die mal mit aufgesetzten Perlen-Details, mal mit aufgeklebten Barbie “B’s” vor allem dem Motto folgen: make it pink and make it bright! 

@namvoglow

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♬ Puff – Hany Beats

Aber ist der Trend, der so augenscheinlich die Ästhetik der Barbie-Puppe imitiert, wirklich eine direkte Folge auf Greta Gerwigs Barbie-Film, in dem wir Margot Robbie, Ryan Gosling und Co. durch eine detailreich inszenierte Spielzeuglandschaft wandeln sehen – unbiegsame Plastikwellen und abgehobene Fersen inklusive?

Ganz so einfach ist es mit keinem Modetrend. Denn Trends werden nicht einfach so geboren, sie sind lang gewachsene und kompliziert verwobene Netze des Zeitgeistes. Natürlich stimmt es, dass die Ankündigung des Barbie-Filmes im Juni 2022 wie ein Brennglas auf alles pinke und glitzernde funktionierte. Das schweizerische Lifestylemagazin Annabelle berichtete etwa, dass nach der Veröffentlichung des ersten Trailers laut der Shopping-App Lyst die Suchanfragen nach Mules, um 115 Prozent und die Anfragen nach pinker Mode um 80 Prozent höher waren als noch am Vortag. Die Google-Suche zu Haar-Blondierungen habe sich außerdem über Nacht verdreifacht. Und trotzdem – kein Trend der Welt kann so schnell durch eine Filmankündigung hochkochen, wenn er nicht schon vorher vor sich hin gebrodelt hatte.

Und es brodelte auch vor Trailer-Release stark im Barbie-Dreamland – sowohl bei Content-Creator:innen in den sozialen Medien als bei den Houte-Couture-Schauen einiger Luxus-Labels, die ihre Frühjahrs-/Sommer-Kollektionen 2022 der pinken Renaissance widmeten. Wohl mit am eindrucksvollsten ist die Valentino “Pink PP Collection”, für die ein individueller Pink-Ton entwickelt wurde, den es so nur bei Valentino geben sollte. Wer High-Fashion-Fashion-Schauen eher weniger verfolgt, erinnert sich vielleicht trotzdem an Florence Pugh, die bei der Vorstellung der Kollektion in Rom in einem transparenten pinken Tüll-Traum auftauchte (und daraufhin in den sozialen Medien für ihre Freizügigkeit angegangen wurde). 

Ähnliche Entwürfe sah man auch bei Chanel, Marine Serre, Versace, Moschino oder Pucci und die pinken Designs hatten schnell weitere prominente Schirmherrschaft, mit Sängerin Lizzo, die das Valentino Pink auf Instagram bewarb, oder Kim Kardashian, die sich (zugegebenermaßen pünktlich zum Trailer-Release) im Juni 2022 in einem pinken Ganzkörper-Anzug auf rosafarbener Satin-Bettwäsche räkelte. Sängerin Dua Lipa – die dem Soundtrack zum Barbie-Film ihre Stimme leiht und auch einen Cameo Auftritt im Film selbst hat – hat mit Donatella Versace im Rahmen ihrer “La Vacanza” Kollektion einen Bikini entworfen, der Barbie neidisch machen würde, und Hailey Bieber ist quasi seit einem Jahr eine wandelnde pinke Werbetafel. 

Da man die Barbie-Ästhetik nun so häufig sieht, vergisst man auch schnell, dass sie absolut kein neues Phänomen ist. Schließlich hat Moschino bereits 2015 den Barbie-Style im Rahmen der Frühjahr/Sommerschauen neu zum Leben erweckt und prominente Frauen wie Britney Spears oder Paris Hilton haben aus dem Barbie-Image schon in den 2000er Jahren Ruhm und finanzielle Imperien aufgebaut. Allerdings wurden sie dabei entweder abschätzig belächelt oder als nicht ernstzunehmende, kurzweilige popkulturelle Referenz abgetan (wie bei Moschino). Woher kommt nun also das Überschwappen vom Laufsteg zu TikTok, Instagram und den High-Street-Retailern der Welt? Denn der Barbiecore-Trend gewinnt dieses Jahr auch deshalb so richtig an Fahrt, weil die pinken Glitzerteile längst nicht mehr nur bei Valentino und anderen Luxusmarken zu kriegen sind, sondern auch bei H&M, Asos, Zara und Co. 

Der endgültige Durchbruch des Barbiecore-Trends ist, wie eigentlich alle Trends, dem richtigen Timing geschuldet. In diesem Fall spielen auch Post-Pandemie-Trends – Stichwort “Dopamin Dressing” – und das Y2K-Revival der Gen Z eine elementare Rolle. Aber auch die über Jahre erstarkte feministische Debatte um stereotypisierte Weiblichkeit.

“Dopamin Dressing” ist schnell erklärt: Nach den extrem auf Reduktion ausgerichteten Mode-Bewegungen während der Pandemie – wir erinnern uns an einen Einheitsbrei von farblich zusammenpassenden Loungewear-Twinsets in Beigetönen und farblose Trends wie die monochrome “Vanilla Girl Ästhetik” inklusive Nude-Make-up und “natürlich” gesträhnten Blondtönen, die 2021/2022 überall zu sehen war – folgte nach der Pandemie, wie es einige Modeexpert:innen bereits prophezeit hatten, die Rückkehr auf die Laufstege und das Street-Style-Leben mit einem Knall: sowohl farblich als auch, was die ausladenden, asymmetrischen Schnitte und hypertransparenten Stoffe anging. 

Beinahe gleichzeitig entdeckte die Gen Z die Mode der Nullerjahre wieder für sich: enge Croptops zu Baggy Jeans kamen zurück, genauso wie Hüftketten, Strassverzierungen und lange Baguette-Taschen. Also eigentlich alles, was Carrie Bradshaw in den ersten drei Staffeln “Sex and the City” getragen hatte.

Und, was Spears und Hilton um die Jahrtausendwende auf dem roten Teppich zeigten. Barbiecore ist quasi die unausweichliche Folge aus beiden Trendbewegungen. Und wie bei jedem Revival kommt es zu einer Umdeutung einiger Bestandteile des ursprünglichen Trends. Im Falle des Barbiecore ist es die Dekonstruktion seiner vermeintlichen Banalität und angeblich fehlenden Authentizität.

Die feministische Rückeroberung des Glamours

Wie funktioniert das feministische Rebranding des Barbiecore Trends, von dem TikTok- Creator:innen und Modeketten sprechen? Antworten findet man bei unserer lokalen Schirmherrin des Barbiecore – quasi bei unserer “Spitzenreiterin” (so auch der Titel ihres Romans) des pinken Trends: bei Autorin Jovana Reisinger. 

Nicht nur das Cover ihres aktuellen Buches “Enjoy Schatz”, eine kluge Verwebung der Themen Lust, Kapitalismus und Patriarchat, leuchtet strahlend pink,  auch im semi-privaten Raum auf Instagram und bei Lesungen lebt die Autorin den “Tussi-Lifestyle”, wie sie selbst sagt. Dass Tussi und Barbie nur zwei Begriffsseiten derselben Medaille sind, zeigt Reisinger schon durch die synonyme Verwendung des Begriffs in ihrem Text “Die subversive Kraft der Tussi, oder: In Barbiecore gegen das Patriarchat” für Vogue Germany. Darin erklärt sie, worin die empowernde Kraft eines Lifestyles zwischen gemachten Nägeln, blondierten Haaren und Glitzer-Tops liegen kann. Nämlich in der Rückeroberung eines misogyn gelabelten, “hyperfemininen” Looks. Es ist höchste Zeit, denn Reisinger zeigt in ihrem Text, wie unhaltbar und verheerend die Vorstellung ist, jemand, der:die dem klassischen “Tussi-Bild”entspreche, könne nicht clever, weltgewandt und interessant sein und zeigt deutlich, dass sich hinter dieser Parallelisierung in den letzten Jahrzehnten eine große antifeministische Agenda versteckte.

Aber sie zeigt ebenso auf, dass ein großes Potenzial darin liegen kann, auf diese Weise unterschätzt zu werden und zitiert am Ende ihres Essays eine befreundete Schriftstellerin, die ihr gesagt habe, “harmlos eingeschätzt zu werden, hat auch seine Vorteile – die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, wenn wir sie zerlegen.” Die, das sind diejenigen, die Profit daraus schlagen, Ästhetiken, die als “typisch weiblich” gelabelt werden,  abzuwerten. Die moderne Barbie zelebriert also den Glamour neu, den das Patriarchat ewig als “unauthentisch”, “hohl” und “fake” gelabelt hat – vielleicht nicht als Rache, aber doch als Abrechnung mit diesem unterkomplexen Stereotyp. Fun Fact Nummer 1: Glamour ist ursprünglich ein Begriff, mit dem unredliche Zauber oder Hexereien bezeichnet wurden, und ist somit geradezu prädestiniert misogyn besetzt zu werden. Fun Fact Nummer 2: 1993 vertauschten US-amerikanische feministische Aktivist:innen in verschiedenen Spielzeugläden die Stimmen der Barbie-Puppe mit der im Inneren der Militär-Action-Figur G.I. Joe, woraufhin Barbie auf Knopfdruck ​“vengeance is mine” rief. 

Barbie als Antitypus des Pick-Me-Girls

Barbiecore ist, wenn man ihn denkt wie Reisinger, auch die ultimative Versöhnung mit allen Britneys und Parises, die nicht nur von Männern im Patriarchat abgewertet wurden, sondern auch von Frauen, die zu lange versucht haben, dem Male Gaze gefällig zu sein. Hier kommt die dritte Säule ins Spiel, die der Rückkehr des Barbiecore mit seiner neuen politischen Schlagkraft die Bühne bereitet hat. Nämlich die Debatte um eine der größten Antagonistinnen der vierten feministische Welle: das Pick-Me-Girl. 

In feministischen Kreisen, die sich aktiv den Schnittstellen von Kapitalismuskritik und Patriarchatskritik widmen, steht das Pick-Me-Girl synonym für eine Ellenbogen-Kultur mancher Frauen, die sie anwenden, um innerhalb eines patriarchalen Systems nach oben zu kommen, statt dieses selbst zu unterwandern. Typische Sätze des Pick-Me-Girls sind: “Ich bin nicht wie andere Frauen”, “Ich kann viel besser mit Männern, die machen weniger Drama” oder auch: “Eine Frauenquote finde ich unnötig – wer sich anstrengt kann alles schaffen”. Das Pick-Me-Girl ist der Antityp zu solidarischen Bewegungen und die (weibliche) Galionsfigur der Hustle Culture. 

Barbiecore entfaltet also feministisches Potenzial, indem die Träger:innen mal ernsthaft, mal spielerisch in alle Klischees eintauchen, die das Pick-Me-Girl ablehnt – inklusive pinker Stilettos und Gespräche über das beste Maniküre-Studio.

Der Barbiefilm als kapitalistische Vermarktungsmaschine

Und wenn wir schon bei Kapitalismuskritik in Verschränkung mit Feminismus sind, sind wir auch schon bei Greta Gerwigs Barbie-Blockbuster, beziehungsweise bei der nicht so leicht zu beantwortenden Frage, inwieweit in ihm feministisches Potenzial steckt. Vorneweg: ein Film ist niemals feministisch. Er kann feministische Figuren inszenieren, er kann sicherlich auch im Plot feministische Fragen verhandeln und implizit feministische Aussagen über das Schicksal seiner Figuren treffen – aber der Film selbt, insbesondere einer in der Größe wie Gerwigs “Barbie”, ist in erster Linie eine Vermarktungsmaschine. In diesem speziellen Fall vielleicht eine der besten Film-Vermarktungsmaschinen aller Zeiten. Inklusive Barbie-Filtern, mit dem jede:r Instagram-User:in eine individuelle Selfie-Version der Film-Poster erstellen kann, einem pinkes Dreamhouse, das Airbnb-Gäste ein paar Wochen vor Film-Release plötzlich in den Inseraten in Malibu entdeckten und legendären Press-Tour-Looks von Margot Robbie, deren Stylist für jede Premierenfeier ein anderes Outfit rekreierte, das die echte Barbie-Puppe in der Vergangenheit trug. 

Diese extreme Anstrengung, ein signifikantes popkulturelles Erlebnis zu schaffen, das über den Film hinausweisen soll, ist kein Wunder, bedenkt man, dass Mattel – der Spielzeughersteller der Barbie-Puppe – nicht nur Rechte für den Film freigegeben hat, sondern diesen initiiert und gesponsert hat. Mattel verfolgt mit dem Barbie-Film ein zeitgemäßes Rebranding seiner Puppen mit ökonomischem Kalkül. Ein Fakt, der spätestens nach einem Artikel des Time Magazine klar wird, das von Mattels Plänen berichtete, nach Barbie auch Polly Pocket, He Man und andere Plastik-Figuren aus dem Spielzeughaus ihren Weg auf die Leinwand finden.

Die Anstrengungen, Barbie wieder populär zu machen, leistet der Hersteller bereits seit 2014. Zuvor hatte das Unternehmen Rekord-Tiefs in seinen Umsatzzahlen verzeichnet – nicht zuletzt aufgrund von umfassender Kritik an dem problematischen Body/Diversitäts-Image, das die weiße, normschöne, dünne, cis-Puppe verkörpere.   Es folgten Schwarze Puppen, behinderte Puppen, Plus-Size Puppen, und jetzt eben ein Film, der von vornherein wusste, was er zu tun hatte, um als zeitgemäß zu gelten. 

Allen voran Greta Gerwig als Regisseurin einzusetzen, denn schon lange bevor der Trailer zum Film erschien, waren sich Content-Creator:innen in den sozialen Medien und Greta-Fans einig: der Film würde eine feministische Botschaft haben. Schließlich sei die Frau am Werk, die mit dem emanzipatorischen Coming-of-Age Film Lady Bird und der Neuerzählung des Historiendramas Little Women als Erfolgsgeschichte einer jungen Autorin, bekannt wurde. 

Auch die Plakate der Barbie-Film sprächen für eine feministische Botschaft, hieß es von allen Seiten. Diese zeigten nämlich nicht nur die verschiedenen Body-diversen Schauspieler:innen, die unterschiedliche Barbie und Ken-Versionen verkörpern sollten, von einer Schwarzen Schauspielerin zu einer trans Frau – sondern konzentrierten sich auch auf die Bewerbung des wohl feministischen Attributs der originalen Barbie-Puppe. Ihre Karriere. So waren die Protagonist:innen auf den Postern alle von ihrer (sehr angesehen) Berufsbezeichnung begleitet. “This Barbie is a doctor” (Hari Nef), “This Barbie has a Nobel Prize” (Emma Mackey), “This Barbie is a diplomat” (Nicola Coughlan). Die Ken Poster hingegen waren begleitet von den Phrasen “He is just Ken”, “He is also Ken”, “He is ken, too”. Es sei der ultimative Kommentar darauf, dass Ken schon immer bestenfalls ein menschliches Accessoire für Barbie war, während diese in ihrem langen Puppenleben schon in über 200 Karrieren brillierte. Als Astronauten-Barbie von 1986, als Piloten-Barbie 1991 oder als Sportlerin bei den olympischen Spielen 2001. 

Eines hat das Marketing in jedem Fall geschafft: Einen Hype kreiert – ob es darum ging, dass Personen in den sozialen Medien teilten, welches ihre erste Barbie war, oder Kolleg:innen in der Kaffeeküche davon sprachen, was sie zur Premiere tragen würden. Ein Hype der durch die Oppenheimer/Barbie-Memefication zu Barbenheimer (beide Filme wurden auf den 20.07. geplant) nur noch größer wurde. 

Aber kann eine Verfilmung, die bereits im Vorfeld so viel Erwartungen entfacht hat, das Versprechen des Barbiecores einlösen, wenn sie die Barbie bereits auf den Plakaten ausgerechnet als Girl Boss (übrigens die Schwester des Pick-me-Girls) und Ken als bloßes Beiwerk inszeniert, wo doch das neue Pink – zumindest im echten Leben – nicht nur eine Befreiung von veralteten Bildern zu Weiblichkeit sein soll (niemand muss mehr Anwältin, Mutter und Model zugleich sein), sondern darüber hinaus alle Formen von binären Genderstereotypen unterlaufen soll. Auch, und vielleicht sogar allen voran, die Vorstellung von Maskulinität. Denn das ist es schließlich, was die Idee des Pick-me-Girls aufrechterhält. Barbiecore ist Teil dieser unterlaufenen altmodischen Männlichkeit, ob in Harry Styles plüschiger Bühnenästhetik oder als Daniel Craig, der zur letzten Bondpremiere in einem fuchsiafarbenen Samtanzug erschien. Nicht zuletzt deshalb ist die Gleichsetzung des Barbiecores mit der Hyperfeminität, die man nun in zahlreichen Rezensionen liest, unzureichend.

Ab hier Spoiler-Warnung zum Film.

Ken muss also mindestens mit der Inszenierung seiner reinen Männlichkeit hadern, wenn Greta Gerwigs Film zeitgemäßen Feminismus porträtieren will. Und der Film muss clever mit dem Übertritt in die “echte Welt” arbeiten, den Barbie vollziehen muss, nachdem sich ihre Fersen absenken und sie plötzlich – statt wie sonst elegant schwebend – plump von ihrer Veranda neben ihr Cabrio zu Boden fällt. So verkündet es ihr zumindest die “weird Barbie”, die die Rolle eines Orakels einnimmt. Barbie müsse nun wählen, heißt es, zwischen ihrem alten, sorglosen Leben im Barbie-Matriachat (sie hält symbolisch einen pinkfarbenen Stiletto in die Höhe) und der Rettung des Mädchens, das im echten Leben (symbolisiert durch eine dunkelbraune Birkenstock-Latsche)  mit ihr spiele. Denn die seltsamen Vorkommnisse samt flacher Fersen, seien ein unweigerliches Indiz, dass es besagtem Mädchen im echten Leben nicht gut ginge. 

David Pfeifer vermutete bereits im September 2022 in der SZ, was hinter diesem Plot-Kniff stecken könnte: “Barbie muss Barbieland aufgrund ihrer Makel verlassen und stellt in der echten Welt fest, wie wenig äußere Schönheit bringt, wenn es drinnen nicht stimmt.” Das wäre – nicht nur für die Idee des Barbiecores, sondern auch aus feministischer Sicht – mehr als enttäuschend in seinem über simplifizierten Gegensatz von äußerer Ästhetik und inneren Werten. Und zum Glück kommt es im Film auch nicht zu dem vereinfachten Dualismus zwischen echter Welt und Barbieland – ebenso wenig, wie er sich darauf festnageln will, dass Barbie eine feminstische Heldin ist. 

Noch keine drei Minuten des Films sind vergangen, da hört man bereits Helen Mirren als Erzählerin sehr überspitzt formulieren, dass Barbie wirklich jedes Problem gelöst habe, das Frauen in der realen Welt so haben. Und wir gehen mit diesem schmunzelnden Bewusstsein in den Film, dass Barbie vielleicht eine Idee sein kann, aber eben auch nicht mehr als das. Unter diesen Vorzeichen begleiten wir sie dabei, wie sie in der echten Welt auf den CEO von Mattel und Entscheidungsträger über die neuen Barbies trifft, die auf den Markt kommen sollen und der es nicht für nötig erachtet, Frauen in seinem Führungsstab zu haben. Wir sehen, wie Ken in der echten Welt zum ersten Mal den für sich süßen Nektar des Patriarchats schmeckt – und ihn direkt mit ins Barbieland nimmt, um mit allen anderen Kens eine cowboyeske Parallelgesellschaft zu erschaffen. Und wir sehen, wie Barbie Barbieland von den Einflüssen der echten Welt wieder befreien will. 

Ob diese echte Welt gerettet wird, darum ging es nie – ebenso wenig darum, dass Barbie ihren Glamour ablegen muss, um das Patriarchat zu bekämpfen. Vielmehr war es die Rettung von Barbieland und der Idee Barbie, der sich “Stereotypical Barbie” annehmen muss, um dem sehr natürlichen, ernüchternden Prozess des Erwachsenwerdens als Frau entgegenzutreten. Sehr im Modus des Kindes auf der Schwelle zum Jugendalter ist es schließlich der Gedanke an den Tod, der Barbies erste Verbindung mit der echten Welt eröffnet, in der die Männer regieren und die Erfinderin der Barbie, Ruth Handler, nur noch in einem abgeschiedenen Zimmer in der Traumfabrik Mattel an einem kleinen Küchentisch vor sich hin denkt. 

Barbie als feministische Befreierin hat in diesem ernüchternden Prozess keinen Platz mehr, das macht ihr das Mädchen in der echten Welt schnell klar, die schon seit Jahren nicht mehr mit Barbie spiele, ebenso wie die Idee der reinen Männlichkeit, nicht mit Barbieland vereinbar ist, in dem nach der patriarchalen Kenifizierung Präsidentinnen-Barbie, Nobel-Preis-Barbie und Co. nur noch eisgekühlte Getränke servieren. Man ahnt es bereits in den ersten Szenen, lange vor dem finalen Kampf, der eigentlich ein Dance-Battle der Kens ist, dass in der Befreiung der Kens ein zentraler Schlüssel der neuen Barbie-Idee liegen muss, die zu Beginn des Filmes nur dann zusammenkommen, wenn es darum geht, Macht gegeneinander zu markieren. Der andere elementare Bestandteil der Überdauerung der Barbie-Idee kommt, wie sollte es auch sonst sein, von der einzigen Person in der Geschichte, die noch aktiv mit Puppen spielt, ihre Geschichten weiterdenkt und Barbie in ihren Mode-Skizzen neue Kostüme zurechtschneidert. Ihr Vorschlag: die Entwicklung einer “ordinary barbie”, die, so die menschliche Protagonistin des Filmes, einfach nur durch ihren Tag kommen will, vorzugsweise in einem cuten Top – also quasi die Anti-Girl-Boss-Barbie. Das ist alles sehr viel besser als die Vorstellung, dass Barbie in der echten Welt erkennen muss, dass ihre Barbie-Welt nichts als Schaum und Traum ist – und es wäre der natürlichen Bewegung von Kindheitsträumen und dem Identifikationsspiel mit Puppen auch nicht gerecht. 

Wenn der Film allerdings dieselbe Bewegung machen würde, wie der Barbiecore Trend, dann wäre es nicht Barbieland, was gerettet werden müsste, sondern es wäre Barbie, die, mit all ihrer Widersprüchlichkeit und pinkem Glitzer, die echte Welt rettet. Und Barbie würde, wenn sie sich zuletzt entscheidet, lieber in der echten Welt zu leben, auch nichts von ihrem Glitzer oder Make-up einbüßen müssen, wie sie es leider im Film letztlich tut. Über diese Enttäuschung tröstet dann leider auch nicht mehr das verkitschte Gespräch mit Ruth Handler hinweg, die ihr Dea ex Machina nach der Rettung des Barbielands begegnet, um ihr die Absolution zu erteilen, ein ordinäres Leben mit all seinen Höhen und Tiefen in der echten Welt zu leben. Nicht nur wird in dieser Szene ein durch und durch unangenehmer Mutter-Komplex auf den Plan gerufen, das Publikum wird außerdem noch einmal daran erinnert, dass der Film, so viel an ihm in feministischer Hinsicht aufgehen mag, auch zur aktiven Neuschreibung der Firmengeschichte Mattels durch die Inszenierung der Gründerin als sanftmütige Gerechtigkeitskämpferin dienen soll. 

Zumindest rettet “Steretypical Barbie” – im Kollektiv mit den anderen Barbies wohlgemerkt – Barbieland vor den Einflüssen des Patriarchats, das Ken aus der echten Welt miteingeschleppt hat. Die Erkenntnis, die das Kenoversum schließlich zum Bröckeln bringt, besteht darin, dass Ken (oder die Männlichkeit) nicht als Einheitsbrei funktionieren muss, sondern von der Vielzahl der individuellen Kens lebt, die die Kenergy aktiv selbst gestalten können. Und ganz am Ende bekommen die Barbiecore-Feminst:innen doch noch ein kleines metaphorisches Versöhnungsgeschenk-Geschenk in der echten Welt, wenn die ursprüngliche Wahl zwischen pinken Stilettos und Birkenstocks in Margot Robbies letztem Kostüm des Filmes in pinkfarbenen Glitzer-Latschen aufgelöst wird. Ganz so als sollten wir mit der Botschaft den Kinosaal verlassen, die auch Barbiecore mitliefert, nämlich dass wir – die Feminist:innen der Gegenwart – uns nicht entscheiden müssen zwischen einem glamourösen Leben und dem politischen Kampfgeist – beides geht zu gleichen Teilen und miteinander vielleicht sogar noch besser als vorher.

Foto von Avinash Kumar auf Unsplash

Vorsicht mit dem Porzellan

von Sontje Liebner

„Bloß nicht fallen lassen“, schießt es mir durch den Kopf. Behutsam räume ich die 12 Tassen, Teller, Kännchen & Co. aus dem Umzugskarton. Das weiße Porzellan ist hauchdünn, durchscheinend, es wirkt kostbar, wie aus der Zeit gefallen. Ganz anders als mein restliches Geschirr, das bunt ist, robust und vor allem: spülmaschinenfest. Ich schäle eine weitere Tasse aus vielen Schichten Küchenpapier, steige auf die Leiter und schiebe das fragile Familienstück ganz nach hinten in meinen Küchenschrank. Aus den Augen, doch nicht aus dem Sinn.

Der Weg von der Küche meiner Großeltern bis in meine war weit, von einer Kleinstadt im nördlichen Niedersachsen bis nach Berlin. Alles begann mit einem WhatsApp-Foto, gesendet von meiner Mutter: „Hast du Interesse an Giselas chinesischem Teeservice?“ Auf den Bildern zu sehen sind fein säuberlich gestapelte Tassen und Tellerchen in der Vitrine meiner Großeltern. Goldränder, üppige Vegetation und weite Landschaften. Bunte Figuren, Frauen mit schwarzen Haaren, festlichen Gewändern und gesenktem Blick. Stereotypische asiatische Darstellungen. Müsste ich die fantasievolle Bemalung in einem Wort zusammenfassen, wäre das wohl: exotisch. Alles in mir sträubt sich dagegen. Möchte ich etwas annehmen, das fernöstliche Klischees reproduziert? Nein, eigentlich nicht. Die Antwort an meine Mutter: „Ich nehme es sehr gerne.“ Mein Forscherinnengeist ist geweckt. Wieso steht bei meinen Großeltern ein vermeintlich chinesisches Teeservice? Woher mein innerer Widerstand – und kann ich diesen vielleicht sogar produktiv nutzen? Also, raus aus der Komfortzone, rein in die Recherche.

Wie zu Omas Zeiten

Ich telefoniere mit meiner Oma. Gisela ist im Umzugsstress. Das alte Haus mit großem Garten wird geräumt. Vieles muss weichen, wenn sich der Lebensraum verkleinert. Alte Schätze wie das Teeservice werden wiederentdeckt, anderes bleibt verschwunden. „Vielleicht taucht die Kanne noch auf“, überlegt Oma. Das Kernstück aus Porzellan ist unauffindbar. Das war mir bisher entgangen – doch natürlich gehört eine Kanne zum Kännchen.

Eigentlich hätte ich das wissen müssen. Mein Großvater ist Ostfriese und auch meine Großmutter ist im äußersten Nordwesten Niedersachsens aufgewachsen. In der Region Ostfriesland ist das Land flach, die Brise steif und die Sprache platt. Eine weitere Eigenheit ist die Liebe zum Tee. In Ostfriesland trinkt jede Person circa 300 Liter im Jahr. Die ostfriesische Teezeremonie gilt sogar als immaterielles UNESCO-Kulturerbe. Meine Oma dazu ganz pragmatisch: „Die Ostfriesen, die trinken immer Tee.“

Was ich bisher auch nicht wusste: Die ostfriesische Teezeremonie ist bis ins Detail durch orchestriert. Erst kommt ein Stück Kluntje in die Tasse – großer brauner oder weißer Kandis –, dann wird der Tee aufgegossen. „Der [Kluntje] muss fast aus dem Tee rausgucken“, merkt meine Oma an. Der bzw. die Gastgeber*in schenkt sich zuerst ein. Ist der Tee für die Gäste gut genug? Dann wird etwas Sahne mit einem kleinen Löffel, dem „Rohmlepel“, an den Tassenrand gestrichen. Hell trifft auf dunkel und hinterlässt eine „Wolke“, die „Wulkje“. Wichtig ist, dass die Sahne gegen den Uhrzeigersinn in die Tasse gegeben wird. Als Symbol dafür, dass die Zeit stehen bleibt. Denn Teezeit bedeutet Auszeit. Die Zuckerkristalle knistern, umgerührt wird nicht. Geschlürft wird Schicht für Schicht, so schmeckt der Tee erst mild, dann herb, dann süß – der ostfriesische Dreiklang. Für mich neu: „Dree is Oostfresenrecht“[1], drei Tassen sind Ostfriesenrecht. Die Tassen sind klein, nachgefüllt wird oft. Wer nicht mehr möchte, legt den Löffel in die Tasse. Dieser Brauch ist mir bekannt.

Blut ist dicker als Teewasser

Ich selbst trinke im Alltag selten Tee, Kaffee umso häufiger. Fairtrade aus der Bialetti mit Hafer-Soja-Barista. Lieber eine Tasse statt zwei, lieber vor statt nach 16 Uhr, lieber nicht auf leeren Magen, aber oft halt doch. Kaffee ist der Stoff, der mich durch den hektischen Alltag treibt. Damit bin ich nicht allein, Kaffee ist in Berlin der wohl kleinste gemeinsame Nenner. Der starke Stoff macht wach, ist wahlweise süß oder bitter und passt in das moderne Leben. In meinem Umfeld scheint schnöder Tee vom Aussterben bedroht, verdrängt von Cold Brew, Kombucha und Bubbletea. Ein Blick aus meiner Bubble in die weite Welt zeigt: Das ist Quatsch. Tee ist das am zweithäufigsten konsumierte Getränk überhaupt.[2]

Wenn ich meine Großeltern besuche, wird stets Ostfriesentee serviert. Das gehört einfach dazu, ein Ritual des familiären Beisammenseins. Auch bei meinen Eltern gibt es täglich schwarzen Tee. Vormittags, nach dem Aufstehen, den „Elführtje“. Und nachmittags, zur geselligen „Teetied“. Ich verbinde damit ein Gefühl von Heimat. Tee hat auf mich den gleichen Effekt wie Prousts Madeleines, nur gibt es in Ostfriesland Krollkuchen (Neujahrskuchen) statt französischen Feingebäcks.

Als ich vor acht Jahren aus dem Norden nach Berlin zog, geriet die geliebte Tradition in Vergessenheit. Aus Familienleben wurde Singlehaushalt, aus Teetasse wurde Kaffeepott. Das liegt auch am Geschmack, denn Schwarztee eignet sich nicht für kalkreiches Wasser. In Ostfriesland ist das Wasser weicher – und der Tee aromatischer. Echter Ostfriesentee besteht aus mehr als zehn verschiedenen Sorten mit kräftigem Assam. Er wird in Ostfriesland gemischt, in einem der drei großen Teehandelshäuser: Bünting, Thiele & Friese und Onno Behrends. In meiner Familie kommt nur Broken Silber von Thiele auf den Tisch und in die Tassen. Das Traditionsunternehmen mit Sitz in Emden wird als einziges im Familienbetrieb geführt.

Handel mit Tee im Wandel der Zeit

Emblematisch für die norddeutsche Teekultur ist die Ostfriesische Rose: Rosa Blüte auf grünen Blättern auf weißem Porzellan. Doch für meine Oma sollte es Anfang der 60er-Jahre unbedingt ein Service aus Japan sein. Japan, nicht China. Ein großer Unterschied, der uns auf den ersten Blick nicht aufgefallen war – weder mir noch meiner Familie. Gisela erzählt, dass das Motiv damals einfach Mode gewesen sei: „Ich habe mir das [Service] um ’63 gekauft – ich wollte unbedingt so ein japanisches haben.“

Dabei liegen zwischen der friesischen Gemeinde Zetel, in der meine Oma damals gelebt hat, und der japanischen Hauptstadt Tokio über 9.000 Kilometer Luftlinie. Achtung, Kitsch: Verbunden sind sie durch ihre Liebe zum Tee. Der Legende nach wurde grüner Tee vor etwa 4.500 Jahren in China kultiviert. Ab dem 15. Jahrhundert brachen mitteleuropäische Mächte zu Kolonialexpansionen auf. Sie erschlossen neue Regionen für den Handel, beherrschten und missionierten. Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie brachten Grüntee schließlich ab 1610 auch in die hiesigen Gefilde. Ab 1637 hatte jedes holländische Schiff einige Kisten chinesischen und japanischen Tee an Bord. Über Amsterdam eroberte das Wirtschaftsgut Ostfriesland. Das Rohprodukt wurde zur begehrten Kolonialware, ebenso wie Zucker, Gewürze – und Sklav*innen. Der Beginn eines Systems von Ausbeutung und Abhängigkeit, das bis heute nachwirkt.

Auch Deutschland wollte am Welthandel teilhaben. Darum gründete Friedrich II. 1750 die königlich-preußisch-asiatische Handlungs-Compagnie von Emden auf China. Schiffsladungen mit Tee, Seide und Porzellan gelangten in die ostfriesische Hafenstadt. Doch kurz darauf forderte der Siebenjährige Krieg viele Opfer – so auch die Auflösung der Ostindien-Kompanie. Daraufhin versuchte der preußische König den Ostfries*innen den teuren Teegenuss abzugewöhnen. Angeblich floss zu viel Geld ins Ausland. Keine Chance, das Volk wehrte sich mit Schmuggel, geheimem Teetrinken und zivilem Ungehorsam. In einem Brief der ostfriesischen Landstände von 1779 heißt es: „Der Gebrauch des Thee und Caffe ist hierzulande so allgemein und so tief eingewurtzelt, dass die Natur des Menschen schon durch eine schöpferische Kraft müßte umgekehrt werden, wenn sie diesen Getränken auf einmal gute Nacht sagen sollte.“[3]

Der japanische Tee-Weg

Nicht nur der Tee, auch die zugehörige Zeremonie kommt ursprünglich aus China. Zusammen mit der Zen-Philosophie wanderte das Ritual nach Japan. Dort wurde es zu einer eigenen Lebenskunst, einer Art Meditation, die schlichte Schönheit in den Alltag holt. Die japanische Zeremonie „Chanoyu“ („heißes Wasser für Tee“) ist geprägt von komplexen Regeln, die einst der Erleuchtung buddhistischer Mönche dienen sollten. Bei der formalen Teezeremonie wird nach einem festen Ablauf Grüntee serviert. Jeder Handgriff ist koordiniert, von der Vor- über die Zubereitung bis zur Reinigung. Von der Kleidung über die Sitzordnung bis zu den Gesprächen. Die Zeremonie beginnt, wenn die Gäste den Teegarten betreten, wird im Teehaus oder -raum fortgesetzt und dauert bis zu vier Stunden. Mit dem ostfriesischen Ritual hat das reichlich wenig zu tun. Die japanische und die deutsche Zeremonie haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Trotzdem erkenne ich die gemeinsamen Wurzeln: in der Gastfreundschaft und im Beisammensein, losgelöst vom Alltag. Im japanischen Teeraum sind Uhren verboten, in Ostfriesland hält der Löffel symbolisch die Zeit an. Die Zeremonie ist zeitlos – in beiden Kulturen.

Um einen besseren Einblick in die heutige Bedeutung der Teetradition zu bekommen, spreche ich mit Jana Roloff, Teemeisterin und Autorin des Buches „Zen in einer Schale Tee. Einführung in die japanische Teezeremonie“. Gleich in ihrer ersten E-Mail merkt sie an: „PS: Ich hatte im Übrigen auch eine ostfriesische Großmutter.“ Roloff beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Thema. Die Hannoveranerin hat statt Wohnzimmer ein Teezimmer, das komplett mit Reisstrohmatten ausgelegt und mit einem im Boden versenkten Kessel ausgestattet ist. Ich erkundige mich, welche Rolle Tee im heutigen Japan spielt, und lerne dabei, dass wohlhabende Japaner*innen mit traditionellen Häusern oft Teezimmer mit Teegarten haben. Die Ausbildung zur Teemeisterin bzw. zum Teemeister dauere jedoch mindestens 10 Jahre und sei ein ständiger Lernprozess. Eine zeitintensive Leidenschaft, das zeige sich auch darin, dass es immer schwieriger werde, junge Leute zu begeistern. Roloff erklärt, dass das Thema tief in der Alltagskultur verwurzelt sei. Es habe dort eine ganz andere Dimension als in Deutschland: „In Japan weiß jeder, was eine Teezeremonie ist. […] In Städten wie Hiroshima finden täglich mehrere Riesenveranstaltungen statt. Mit bis zu 500 Gästen.“ In Deutschland seien es hingegen maximal 30. Der Ablauf einer Teezeremonie werde oft über Generationen von Mutter zu Tochter weitergegeben. Doch die Teeschüler*innen der Cha-Do-Schule, der Roloff angehört, sind eine bunte Mischung aus Studierenden, Selbstständigen, Angestellten, Jung und Alt.

Sehnsuchtsbilder

Mit der ostfriesischen und der japanischen Teekultur bin ich nun vertraut. Auch die Handelsrouten habe ich bereist – zumindest im Kopf. Doch wie kam es zu den stereotypischen Darstellungen auf meinem Porzellan? Bis Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die kostbaren Gefäße ausschließlich aus China importiert. Jedoch haben chinesische und japanische Teeservices optisch rein gar nichts mit meinem gemeinsam. In Japan bevorzugt man zum Beispiel Steingut statt Porzellan, der Tee wird aus einer kleinen henkellosen Schale, einem „Chawan“ getrunken.

Dass die hiesigen Gefäße anders aussehen, liegt daran, dass die Hersteller ihre Exportprodukte dem europäischen Markt angepasst haben. Teedosen, Gewürzsäckchen und Porzellan wurden mit fernöstlichen Motiven verziert. Paradiesische Bilder, hingebungsvolle Asiat*innen, idyllische Plantagen, malerische Landschaften. Asien als kulturelles Konstrukt. Der geheimnisvolle Orient entsprach dem westlichen Wunsch nach Ruhe und Spiritualität. So entstand die europäische Vorliebe für koloniale Motive. Adel und Bürgertum servierten kostbaren Tee in kleinen Tassen und trugen ihre Weltgewandtheit zur Schau. Die Realität sah anders aus: Teeanbau war und ist zum Teil noch heute harte Handarbeit. Plantagenarbeiter, Teepflückerinnen und Kinder arbeiteten für wenig Geld zu unmenschlichen Konditionen. Die miserablen Produktionsbedingungen verschwanden hinter der Sehnsucht nach dem Fremden, einem imaginären Ideal.

Träger von Traditionen und Konventionen

Über Japan wusste ich bisher wenig. Der Inselstaat wird in Deutschland noch heute oft als verzerrtes Fremdes wahrgenommen. Als Karikatur einer lebendigen Kultur – wie auf meinem feinen Porzellan. Das Teeservice reproduziert und festigt rassistische Stereotypen. Es wurde für das europäische Auge, den hiesigen Durst, gefertigt. Die vermeintlich exotischen Bilder sind problematisch. Sie prägen sich als kulturelle Zeichen ein. So halten sich koloniale Denkmuster: die Asiatin als fügsam, höflich, gesichtslos. Die fernen Länder als prachtvoller Garten Eden. Natur gegen Kultur – ein Gegenentwurf zur eigenen Wirklichkeit, von Verkürzungen geprägt. Mit der Realität der japanischen Bevölkerung hat das wenig zu tun. Mein scheinbar unscheinbares Porzellan transportiert all diese Ideen. Manchmal hilft ein Blick in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen.

„Das darf nicht in die Spülmaschine“, betont meine Mutter mittlerweile zum dritten Mal. Auch meine Oma wiederholt dieses wichtige Anliegen. Klar, Kostbarkeiten werden mit Samthandschuhen angefasst, so geht nichts zu Bruch. Doch die Gefahr besteht hier nicht, das Teeservice ruht ganz hinten in meinem Schrank. Nur eine einzelne Tasse thront noch auf meinem Schreibtisch. Ein Mahnmal dafür, was Bilder bewirken und wie Traditionen über Kontinente wandern. Dafür, wie Alltagsgegenstände Bände sprechen und Seiten füllen können. Bei meiner Suche zwischen Familie und dem Fremden habe ich viel gelernt. Über Kitsch, Kommerz und Kultur. Darüber, dass die Grenzen oft verschwimmen – und ich Ambivalenz aushalten muss.

Morgens trinke ich noch immer Kaffee. Nachmittags jetzt immer öfter Tee. Schwarzen Ostfriesentee, drei Minuten gezogen, mit zwei Kluntjes und einem Wölkchen Hafermilch.


[1] Stepaniszczewa, Dinara (2018): Konzeptuelle Metaphern in den Bezeichnungen der Teekompositionen, Germanica Wratislaviensia 143, S. 383.

[2] Vgl. Rösemann, Ulrich (2016): Tee – das zweithäufigste Getränk des Menschen, Biologie in unserer Zeit 46, 6, S. 390ff.

[3] Johann Haddinga (1977): Das Buch vom ostfriesischen Tee, Leer: Schuster, S. 39.

Foto: Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / “Kandiszucker — 2018 — 3590” / CC BY-SA 4.0

Motherfuckers. Misanthropie im Anthropozän

von Carlotta Voß

Die Wissenschaft hat uns wieder einmal die Uhrzeit gesagt: nicht mehr fünf vor zwölf, nicht mehr zwölf, sondern fünf nach zwölf haben wir nun. Fünf Minuten nach zwölf, das heißt: High Noon ist vorbei mit Blick auf das Handlungsfenster, in dem Erderwärmung von zerstörerischem Ausmaß für die Lebensbedingungen des Menschen und vieler Tier- und Pflanzenarten verhindert werden kann. Es ist so weit gekommen, weil „die Menschheit“ bislang nicht gehandelt hat – so lautet die politische und moralische Botschaft, die das allgegenwärtige Bild von der Mittagsstunde vermitteln soll. Und es ist so weit gekommen, obwohl diese Menschheit doch schon lange bekundet, handeln zu wollen, in völkerrechtlichen Verträgen, Absichtserklärungen und in der Definition von „gefährlicher“ Erderwärmung durch das 1,5-Grad-Ziel.

Fünf nach zwölf wirft als Gegenwartserzählung ein ausgesprochen schlechtes Licht auf „den Menschen“. Und je näher die Einschläge des anthropogenen – also des durch “den Menschen” verursachten –  Klimawandels kommen, desto offener werden Zweifel an der Vernunftfähigkeit und den moralischen Qualitäten angemeldet, die ihm in der Moderne zugeschrieben wurden. Vielleicht ist der Mensch eigentlich unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch. Vielleicht ist er das größte und dümmste Raubtier der Erde, dem „hedonistischer Suizid“ – so der Schriftsteller Ilija Trojanow in der taz – vorbestimmt ist. Vielleicht hat die Polarökologin Nina Karnovsky recht, die uns, die Menschen, in einer Klimawandel-Sondersendung der Late Night Show Jimmy Kimmel live! als „motherfuckers“ bezeichnete. Vielleicht kann das Zeitalter, das wir stolz nach uns benennen, das „Anthropozän“, nur mit unserem selbstverschuldeten Untergang enden.

Der Philosoph Darrel Moellendorf bezeichnet in seinem neuen Buch diese Diskurentwicklung, in der ein negatives Menschenbild populär wird, als Gefahr des „Misanthropocene“ – ein Wortspiel, das „Misanthropie“ (Menschenfeindlichkeit) und „Anthropozän“ verbindet. Gefährlich ist dieses „Misanthropozän“ gemäß Moellendorf mit Blick auf die humanistischen Ideen, auf denen unser Wertegerüst, die Menschenrechte und die liberale Demokratie beruhen. Denn sollten wir kollektiv zu der Überzeugung kommen, dass wir als Menschen unfähig sind, gemeinsam an dem Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Welt mit mehr Wohlstand für alle zu arbeiten – wie können wir uns dann noch ernsthaft und überzeugend auf humanistische Vorstellungen beziehen? Kurz gesagt: Wenn sich der Mensch als unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch entpuppt, was sind dann noch Menschenrechte wert? Angesichts dieser bedrohlichen Perspektive sieht Moellendorf es als Aufgabe politischer Philosophie, „realistische Utopien“ zu formulieren, die Grundlage der Hoffnung auf eine nachhaltige und gerechte Zukunft sein und kollektives Handeln in diesem Sinne beflügeln können.

Auch im Klimaaktivismus und Klimajournalismus wird seit einiger Zeit, besorgt über lähmende Resignationserscheinungen in der Bevölkerung, auf Hoffnung gesetzt. Wie kann Wissenschaftskommunikation aussehen, die Hoffnung macht, ohne die Ernsthaftigkeit der Lage herunterzuspielen? Was dürfen, was können, (wie) sollen wir hoffen?, fragt man sich selbst und Psycholog*innen, Klimaforscher*innen, und Philosoph*innen. In vielen Medien endeten die Berichte über den neuen IPCC-Bericht mit den Worten des Vorsitzende des Weltklimarats, Hoesung Lee, der das im Bericht versammelte Wissen als “hoffnungsvolle Perspektive“ auswies: die Prognosen liegen auf dem Tisch, die Wirkungszusammenhänge wurden von uns, den Menschen, hinreichend verstanden, sodass kein Zweifel ist, was „wir“ tun müssen, um die Erderwärmung zu begrenzen. Jetzt müssen wir es nur noch tun.

Ein siebzig Jahre alter Vortrag des Philosophen Helmuth Plessner gibt indes zu denken, ob mit all den Hoffnungsforderungen und -beschwörungen nicht nur kurzfristig das Symptom einer misanthropischen Pathologie bekämpft wird, gegen die es vielmehr eine umfassende Immunisierung braucht – eine Impfkampagne gegen Verzweiflung des Menschen über den Menschen sozusagen. Lange bevor der Beweis der menschengemachten Erderwärmung zum Diskursgegenstand geworden ist, wird in diesem Vortrag (Titel: „Über Menschenverachtung“) Misanthropie als eine Gefahr beschrieben, die der Moderne als solcher innewohnt, und gegen die sich nur gewappnet werden kann, wenn man um die Bedingungen dieser Gefahr weiß. Eine Relektüre lohnt sich – schon deshalb, weil es Plessner in seinem Denken grundsätzlich um den „Menschen“ geht, der im „Anthropozän“ (wieder) zum Problem geworden ist.

Plessner entwickelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundzüge einer „Philosophischen Anthropologie“. Ihr Ziel ist es nicht, abschließend eine Summe von Eigenschaften des Menschen oder seine „Substanz“ zu bestimmen. Sondern zu fragen, wie über den Menschen in seiner Mehrdeutigkeit und Unergründlichkeit nachgedacht werden kann. Plessner sieht darin nicht nur eine philosophische Herausforderung, sondern auch eine moralisch-politische Aufgabe. Für ihn ist das Nachdenken über das Menschsein mit dem Begriff „Mensch“ die Voraussetzung dafür, dass Konzepte wie „Menschenwürde“, „Menschlichkeit“ oder „menschliche Verantwortung“ historisch entstehen konnten und wirksam geworden sind – und dass diese Konzepte hinterfragt werden können. Unter der Prämisse, dass sie politisch relevant bleiben sollten, geht es Plessner mit seiner Philosophischen Anthropologie auch darum, die humanistische Tradition wieder sinnvoll zu machen, deren natürliche Autorität spätestens Anfang des 20. Jahrhundert erschüttert ist.

Seinen vielen Kommentaren zum Zeitgeschehen liegt genau dieser Antrieb zugrunde, auch dem Vortrag „Über Menschenverachtung“. Plessner meint zu erkennen, dass in der (europäischen) Öffentlichkeit seiner Gegenwart, den 1950er Jahren, ein generalisierter Menschenhass als Ideologie um sich greift. Ausdrücklich geht es ihm nicht um Misanthropie als private Haltung. Sie ist für ihn ein möglicher und moralisch-politisch zunächst neutraler Ausdruck des Menschseins als „Mensch“.

Menschsein umfasst für Plessner das “Hier und Jetzt”, das ein körpergebundenes Leben auszeichnet, aber auch die Fähigkeit, dieses “Hier und Jetzt” zu reflektieren und sich auf ein anderes “Dort” hin zu entwerfen. Deshalb gehört zum Menschsein auch ein Verständnis von Zukunft. Auf der Ebene der Erfahrung beschreibt Plessner das so verstandene Menschsein als gleichzeitige Erfahrung von Macht und Ohnmacht: Der Macht, sich selbst zu entwerfen, und der Ohnmacht, im Entwurf und seiner Verwirklichung begrenzt zu sein. 

Folgen wir Plessner, dann äußert sich die Macht des modernen Menschen darin, dass er sich als „Mensch“ begreift, also als ein mächtiges Wesen mit Sonderstellung auf der Erde. Dieser Selbstentwurf hat viele wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Errungenschaften möglich gemacht. Aber auch die Erfahrung, dass der „Mensch“ beständig hinter seiner Idee von sich selbst, hinter seinen selbst gesetzten Idealen, zurückbleibt. Plessner nennt das die Erfahrung des „was der Mensch könnte, wenn er wollte“. Und er behauptet, dass sie erst Verbitterung und dann Hass auslöst. Dieser Hass kann sich gegen sich selbst oder einen konkreten Anderen richten – aber auch gegen den Menschen als solches bzw. gegen die Menschheit. Einer solche „Verschiebung des Hasses in die Sphäre des Allgemeinen“, der ideologisierten Misanthropie also, schreibt Plessner einen großen Vorteil zu: Sie macht es dem einzelnen Menschen nämlich möglich, dem konkreten Anderen im sozialen Miteinander (wieder) herzlich zu begegnen. Sofern der Andere ein Exemplar der Menschheit ist und diese Menschheit eben schlecht, kann der Andere schließlich nicht persönlich für seine Unzulänglichkeit verantwortlich gemacht werden. 

Es ist der Preis dieser Bewältigungsstrategie, dass moralischer oder politischer Fortschritt der „Menschheit“ nicht mehr gedacht werden kann, denn die „Menschheit“ ist vom Misanthropen bereits über ihre Schlechtigkeit definiert worden. Während Plessner darin kein Problem zu sehen scheint, sofern die Misanthropie eine Sache der privaten Überzeugungen bleibt, setzt hier seine Kritik an der Misanthropie als Ideologie an: Wenn das grundsätzliche Schlecht-Sein „der Menschheit“ zur Prämisse politischen Handelns wird, ist – so sorgt sich Plessner – auch die Menschenwürde in Gefahr, denn „so wie der Mensch sich sieht, wird er“.

Das Gegenmittel, das Plessner für diese Gefahr im Sinn hat, ist nicht etwa ein positives Menschenbild, in dem der Mensch mit seiner Macht und Vernünftigkeit identifiziert ist. Es besteht auch nicht in realistischen Utopien. Sondern darin, sich bei Objektivierungen des Menschseins immer wieder darauf zu besinnen, dass das Menschsein etwas auszeichnet, das jede Objektivierung in Frage stellt: ein Rest an Unverfügbarkeit sozusagen, eine absolute Unergründlichkeit, ein ewiges Geheimnis. 

In seinem Vortrag über Menschenverachtung führt Plessner diese Haltung des unaufhörlichen Fragens-nach-dem-Menschsein vor, indem er fragt, ob die Misanthropie-als-Ideologie nur eine mögliche, nämlich eine westlich-moderne Objektivierung des Menschen ist. Seine Antwort darauf ist positiv. Er erklärt die ideologische Misanthropie aus spezifisch modernen Lebenserfahrungen und Perspektiven auf das Menschsein. Zwei Charakteristika der Moderne sind für ihn in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Erstens, “Glaubenslosigkeit”. Gemeint ist damit, dass in der Moderne zwar der jüdisch-christliche Gedanke fortlebt, Menschsein bedeute, sündhafter Mensch zu sein. Nur ist dieser Gedanke entkernt um die Vorstellung, als Geschöpf Gottes Vergebung und Erlösung erfahren zu können. Übrig bleibt daher die Annahme: Der Mensch ist schlecht, und also eine pessimistische Grundstimmung. Zweitens zeichnet sich die Moderne für Plessner durch Strukturen aus, die es erschweren, anderen Menschen in ihrer ganzen Individualität und Unergründlichkeit zu begegnen – und die umgekehrt begünstigen, dass man andere und sich selbst nur als Exemplare der „Menschheit“ versteht. Konkret meint er: Die in der Moderne so häufig beklagte Anonymisierung des Zusammenlebens, Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über das Menschsein, und Beschleunigung.

2023 scheint Plessners Darstellung der Moderne nichts an Aktualität verloren zu haben. Nicht nur, aber auch, weil sich im Anthropozän als neuester moderner Welterzählung manches von dem zeigt, was Plessner beschreibt. Ganz im Sinne seiner Diagnose von der „Verwissenschaftlichung“ wird der Mensch hier radikal als „anthropos“ angesprochen, als Spezies. In der Konsequenz sind nicht nur die Spuren des Individuums verwischt, sondern auch – wie Stimmen aus dem globalen Süden oder der postkolonialen Forschung schon lange kritisch anmerken – die historischen Machtverhältnisse. Sie strukturieren unser Miteinander als Menschen und manifestieren sich auch darin, dass der übergroße Teil der erderwärmenden Treibhausgasemissionen mit dem Lebensstil und der kolonialen Geschichte der Länder im globalen Norden zusammenhängt.

Das Anthropozän ist auch „bürokratisch“ in dem Sinne, dass in ihm die Welt des Menschen mit dem Erdsystem identifiziert wird und dieses Erdsystem gemanagt und verwaltet werden soll. Auch „Glaubenslosigkeit“ drückt sich im Anthropozän aus, das die apokalyptische Idee eines Endes der Menschheit beinhaltet. Allerdings ist dieses Ende nicht im Sinne der christlichen Theologie von Gott bestimmt und bedeutet auch nicht den Einbruch von Gerechtigkeit, sondern es ist unwillentlich von der Menschheit herbeigeführt und realisiert Ungerechtigkeit. Schließlich ist die Verantwortung für dieses Ende temporal und räumlich, zwischen den Generationen und entlang der Nord-Süd-Achse, ungleich verteilt.

Vielleicht – das gibt Plessner zu denken auf – ist unsere anthropozäne Gegenwart also ein Nährboden für ideologische Misanthropie. Vielleicht droht diese Gegenwart immer und unabhängig von Erfolgen in der Klimapolitik ins Misanthropozän zu kippen. Realistische Utopien können als Gegengift dann weit besser wirken, wenn sie begleitet werden durch eine gesellschaftliche Reflexion und Verhandlung dieses Nährbodens.

Was Plessner angeht, so wünscht er ausdrücklich nicht, dass eine solche Verhandlung in die Ablehnung der Moderne mündet, in die kollektive Rückkehr zu Gottesglauben, vorstädtischen Gemeinschaften und vorindustriellem Gesellschaftstempo (das übrigens aus ökologischer Perspektive so nachhaltig wäre!). In der Moderne sieht er schließlich nicht nur die Gefahr zur Ideologisierung der Misanthrophie, sondern zugleich auch die Bedingung eines Handelns im Bewusstsein der Unverfügbarkeit und der radikalen Freiheit des Menschen.

Folgen wir Plessner, dann liegt der Zweck einer gesellschaftlichen Reflexion der (anthropozänen) Moderne darin, dass Menschen gemeinsam lernen können, mit der Ambivalenz der Moderne umzugehen, das heißt: eine Urteilskraft zu entwickeln, die es erlaubt, der Versuchung der Misanthropie zu widerstehen und Freiheit zu wählen. Sie wäre die Vorbedingung für realistische Utopien im Anthropozän oder einfacher gesagt: für Hoffnung, die “wir” haben können. “Wir” nicht als Exemplare der Spezies Anthropos, sondern als Personen, die miteinander darüber nachdenken, was es heißen kann, Mensch zu sein. 

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Im Western nichts Neues? Zur Aktualität eines Genres, das es in Deutschland schwer hat. 

von Oliver Pöttgen

Wenn ich Leute frage, ob sie Western mögen, winken sie oft ab. „Filme von Männern über Männer auf Pferden.“, spottete meine Freundin neulich, als ich vorschlug, die Serie Django zu schauen. Das Genre hat es gerade in Deutschland nicht leicht: Das Wort „Western“ ruft hier ein assoziatives Gemisch hervor, in dem sich Karl May, Bully Herbig, Bud Spencer oder Clint Eastwood und die Macho-Welt der Italo-Western versammeln. Ein Sammelsurium aus Winnetou, Der Schuh des Manitu, Vier Fäuste für ein Halleluja oder Spiel mir das Lied vom Tod. Im Osten Deutschlands kommen als Erbe des DDR-Kinos noch die sogenannten „DEFA-Indianerfilme“ hinzu, wie Spur des Falken oder Tödlicher Irrtum, denen zugutezuhalten ist, dass sie mit antikolonialistischem Ansatz die Perspektive von Nordamerikas Ureinwohner*innen ins Zentrum ihrer Erzählungen rückten. 

In dieser Gemengelage sind besonders die Karl-May-Stoffe ein Problemfeld, das mittlerweile auch politisch aufgeladen ist, wie 2022 die Winnetou-Debatte zeigte. Karl May und seine Geschichten aus fernen Regionen scheinen für manche ein Nationalschatz zu sein, der, um in der Sprache des Genres zu sprechen, bis aufs Messer verteidigt werden muss – gern auch im Winnetou-Kostüm. Als stünde die eigene, oft verklärte Kindheit am Pranger und als wäre die Unschuld sonntäglicher TV-Nachmittage bedroht, als Der Schatz im Silbersee im ZDF gezeigt wurde und der Winnetou-Darsteller Pierre Brice einer der größten Stars in Deutschland war. Als es noch kein Gendersternchen und keine oder wenig Kritik an diskriminierenden Begriffen gab; als Frauen noch von männlichen Helden gerettet werden mussten und unter den Glorreichen Sieben nur weiße Männer waren.

Western und ihre Ästhetiken haben Konjunktur

Hierzulande scheint der Western, gerade durch die Strahlkraft der Karl-May-Filme, ein Genre für die Boomer-Generation zu sein, das mitunter reaktionäre Fantasien bespielt oder zumindest durch solche vereinnahmt wird. „Winnetou würde AfD wählen.“, stand im September 2022 auf einem AfD-Banner. Ein solches Bild vom Western und seinen narrativen Welten verstellt den Blick darauf, dass sich in dem Genre in den vergangenen Jahren viel getan hat. Das „über die Maßen resiliente“ Western-Genre erlebt, nicht zum ersten Mal, ein Revival, auch abseits des Mediums Film. [1] Geradezu symbolhaft für das Revival des Westerns steht, dass der kürzlich verstorbene Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy vor seinem Tod noch ein Drehbuch zu seinem Western-Epos Blood Meridian schrieb und auch ausführender Produzent des geplanten Films sein sollte. Frühere Versuche der Verfilmung des bereits 1985 erschienenen Romans waren stets gescheitert.

Die Gründe für dieses Revival mögen mit, seit den Trump-Jahren sehr deutlich sichtbaren, soziopolitischen Entwicklungen in den USA zusammenhängen. Die Republikanische Partei radikalisiere sich immer mehr und stürze in den Faschismus ab, schreibt die USA-Expertin Annika Brockschmidt. Der Kampf zwischen Altem und Neuem tobt zur Zeit gerade dort besonders heftig – und ist ein wichtiges Thema von Western-Erzählungen. Historisch war der Western für die USA oft Medium zur Vermittlung und Verhandlung nationaler Geschichte und Identität. Er gilt als Nationalmythos und in einer sehr weißen Perspektive auf die Geschichte Nordamerikas als „ur-amerikanisch“. Western-Geschichten sind als Mittel US-amerikanischer Identitätsverhandlung etabliert und können deshalb besonders geeignet dafür sein, auch die US-Gegenwart erzählerisch zu verarbeiten. Über soziokulturelle Millieugrenzen hinweg kann das Genre Antworten auf die Frage „Wie wollen wir sein?“ liefern.

Medienübergreifend hat jedenfalls die Zahl der Veröffentlichungen zugenommen, die sich eindeutig als Western kategorisieren lassen oder die Anleihen im Genre nehmen und audiovisuell mit Western-Ästhetiken oder erzählerisch mit Western-Themen spielen. Solche Themen sind etwa die pionierhafte Eroberung neuer Lebenswelten und deren Ausbeutung, das Ringen des Menschen mit den Kräften der Natur oder das Streben des Individuums nach Besitz und Selbstbestimmung in einem „sozial immer prekären Raum.“ [2] Zu den prominentesten Beispielen für Western-Einflüsse zählen zwei der aktuell erfolgreichsten Serien: The Last of Us und The Mandalorian. Besonders in The Mandalorian sind die Anleihen so deutlich, dass die in der Star-Wars-Welt angesiedelte Serie als Weltraum-Western gilt. Eine Hauptrolle in beiden Serien spielt Pedro Pascal, der bald auch in dem Kurzfilm-Western Strange Way of Life zu sehen sein wird, an der Seite von Ethan Hawke und unter der Regie von Pedro Almodóvar. Der Film wird als queerer Western vermarktet, als Almodóvars Antwort auf Ang Lees Brokeback Mountain (2005), der von der Liebe zwischen zwei Cowboys erzählt. Um Homosexualität unter Männern und Männlichkeitsbilder geht es auch in The Power of the Dog (2021) mit Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst. Der Film lässt sich als revisionistischer Western lesen und sei ein Beispiel für den „wider trend of women reinventing the Western“, schreibt der Filmkritiker Eric Kohn. Autorin und Regisseurin des Films ist Jane Campion.

Weitere bekannte Schauspieler*innen, die sich in den vergangenen Jahren am Western-Genre versucht haben, sind Matthew McConaughey (Free State of Jones, 2016), Jessica Chastain (Woman Walks Ahead, 2017), Christian Bale (Hostiles, 2017) oder Rachel Brosnahan (Dead for a Dollar, 2022). In letzterem spielen auch Willem Dafoe und Christoph Waltz mit, der schon in Quentin Tarantinos Django Unchained (2012) auftrat. Die Altstars Anthony Hopkins und Ed Harris sind in Westworld (seit 2016) zu sehen: Die Serie ist, vor allem in den ersten zwei Staffeln, ein Sci-Fi-Western, in dem Besucher*innen eines gigantischen Western-Parks mit sehr vermenschlichten Androiden „Wilder Westen“ spielen können. Kevin Costner, der mit Dances with Wolves (1990) wohl einen der bekanntesten Western-Filme geschaffen hat, spielt seit 2018 eine Hauptrolle in der Neo-Western-Serie Yellowstone. Sie verhandelt Western-Themen in der Gegenwart und wird von manchen als reaktionär wahrgenommen, als „celebration of the old’s ruthless fight to retain what it has, and believes in“. An Yellowstone lässt sich das Western-Revival besonders deutlich festmachen. Ihr Erfolg hat bisher zu nicht weniger als drei Spin-off-Serien geführt: 1883 und 1923 sind bereits erschienen, 6666 könnte 2024 folgen. In den Spin-offs spielen unter anderem Helen Mirren, Harrison Ford und Sam Elliott mit.

Hart an der Grenze

2017 sorgte die Mini-Serie Godless für Aufsehen, weil sie von Netflix als feministischer Western beworben wurde. „Frauen können im Western niemals Helden sein. Das würde das Ende des Genres bedeuten.“, schrieb 1988 die Filmhistorikerin Pam Cook. [3] Bereits damals mag dieses Urteil etwas zu rigoros ausgefallen sein, schließlich nennt Cook selbst einige Filme, für die sie zumindest Ansätze weiblicher Held*innenschaft verzeichnet, wie Calamity Jane (1953) oder Hannie Caulder (1971). Das zentrale Kriterium für wirkliche Held*innenschaft scheint in Cooks Augen zu sein, inwiefern weibliche Figuren bis zum Schluss der Erzählungen tradierte Geschlechterrollen übertreten  dürfen, ob die Revolverheldin Revolverheldin bleibt oder schließlich doch zur Hausfrau und Mutter wird. Das ist eine, auch für Western, sehr diskutable Sicht auf Held*innenschaft, erklärt aber, warum es für Cook bis 1988 nur einen Western gegeben haben dürfte, bei dem sie zweifelsfrei von einer Heldin sprechen würde: Johnny Guitar (1954; mit Joan Crawford). Es sei der Film, mit dem „Hollywood einem feministischen Western am nächsten kam.“ [4] Sein deutscher Titel hat den Zusatz „Wenn Frauen hassen“, was wohl auf die vermeintliche Unerhörtheit dieses Zustands anspielen sollte.

US-Filmplakat für Johnny Guitar (1954)

Die Netflix-Serie Godless jedenfalls zeigt, wie vor ihr auch schon The Quick and the Dead (1995; mit Sharon Stone) oder Bandidas (2006; mit Salma Hayek und Penélope Cruz), dass Frauen sehr wohl Western-Heldinnen sein können – selbst wenn sie in Godless, wie bemängelt wurde, nicht ohne die Hilfe von Männern auskommen. Aus feministischer Sicht ist allein schon der große shoot-out bemerkenswert, bei dem Frauen ihren Ort gegen den Angriff einer Bande verteidigen. Western sind oft auch Action-Filme, manche mehr, andere weniger, und was Godless hier bietet, muss sich vor Sam Peckinpahs Genre-Klassiker The Wild Bunch (1969) nicht verstecken. Inwiefern Feminismus und todbringende Gewalt vereinbar sind, ist eine andere Frage. Sie stellt sich aber weniger, wenn Gewalt, wie hier, der Selbstverteidigung dient.

Western-Erzählungen haben also wieder Konjunktur. Sie waren zwar nie wirklich weg, wie auch die mitunter shakespearesk anmutende Serie Deadwood (2004-2006) zeigt, aber seit einigen Jahren blüht das Genre wieder besonders auf. Das gilt nicht nur für Filme oder Serien, auch bei Videospielen, hier sei vor allem Red Dead Redemption 2 (2018) genannt, und nicht zuletzt in der Belletristik ist eine Zunahme von Werken zu verzeichnen, die sich als Western ausgeben oder in denen Western-Einflüsse deutlich werden.

Für letzteres ist Robert Harris’ Roman Act of Oblivion (2022) ein Beispiel. Er spielt zwar im 17. Jahrhundert und an der Ostküste Nordamerikas, also in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, als Western es für gewöhnlich tun. Westernesk sind aber die Flucht der Hauptfiguren und die Jagd nach ihnen, ihr Verstecken und ihr Überlebenskampf in der Wildnis und an der besiedelten Grenze zu Gebieten, in die die Kolonialmächte noch nicht vorgedrungen waren – oder, um ein Schlüsselwort des Western-Diskurses aufzugreifen: an der Frontier. Hier zeigen sich Parallelen zu Filmen wie The Last of the Mohicans (1992) oder The Revenant (2015; mit Leonardo diCaprio), die zeitlich und örtlich ebenfalls nicht im „Wilden Westen“ spielen, aber mit ähnlicher Ästhetik und Erzählweise dieselben Themen haben wie Western, deren Geschichten sich genretypischer ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in westlichen Bundesstaaten der USA entfalten.

Es tut sich allerdings nicht nur quantitativ etwas, auch qualitativ ist einiges im Gang. Das Western-Genre entwickelt sich inhaltlich weiter und scheint sich dabei, zumindest in Teilen, erstaunlich gut mit Gegenwartsthemen verbinden zu lassen. Vielleicht würden nicht wenige, die das Genre bisher als altbacken wahrgenommen haben, staunen, was in Western-Erzählungen heute passiert. Für konservative und rechtsreaktionäre Rezipient*innen war das Genre lange Zeit ein sicherer Hafen, weil es ihre Sicht auf die Ordnung der Welt nur selten gestört hat. Stattdessen würde man sich heute nicht über US-Republikaner*innen wundern, die sich darüber echauffieren, der Western sei „woke“ geworden. 

Wenn Schwarze Öl finden: Western als Geschichten nicht-weißer Ermächtigung

Die Serie Django wurde im Februar 2023 auf Sky veröffentlicht und ist ein prägnantes Beispiel für Western-Serien, die aktuell auf Streaming-Plattformen laufen. Weitere sind Hell on Wheels (2011-2016), The Ballad of Buster Scruggs (2018) oder The Head Of Joaquín Murrieta (2023). Laut Sky ist Django eine „zeitgemäße Neuinterpretation“ der Django-Filme, die zu den bekanntesten Italo-Western zählen. Deren Hauptdarsteller Franco Nero hat in Django einen Gastauftritt als Priester. Die Figur des Django spielt Matthias Schoenaerts.

Noomi Rapace und Nicholas Pinnock in der seit Februar 2023 auf Sky laufenden Serie Django, © 2021 Cattleya Srl

Bemerkenswert ist Django im Rahmen dieses Textes vor allem, weil die Serie hinsichtlich Machtverhältnissen zwischen Geschlechtern und zwischen Hautfarben in Western ein Novum darstellen dürfte: Im Mittelpunkt steht kein Konflikt zwischen (weißen) Männern, sondern zwischen einem Schwarzen (John Ellis, gespielt von Nicholas Pinnock) und einer Weißen (Elizabeth, gespielt von Noomi Rapace). Als Patriarch und Matriarchin stehen sie ihren Familien und Gemeinden vor und sind ausgesprochene Machtmenschen. Das gilt besonders für Elizabeth, die als mehrdimensionale Bösewichtin angelegt ist, also einen Part einnimmt, der in Western meist männlichen Figuren vorbehalten war. Waffenkundig wie sie ist, lässt sie nicht nur töten, sondern tötet auch selbst. Sie ist eine christliche Fanatikerin, Rassistin und Anhängerin der Südstaaten, die kurz zuvor den Bürgerkrieg verloren haben. John Ellis hat darin als Offizier auf Seiten der Nordstaaten gekämpft, was auch in der US-Flagge zum Ausdruck kommt, die am Tor seiner Siedlung New Babylon in Texas weht. Hingegen flattert im Ort, den Elizabeth kontrolliert, die Flagge der Südstaaten. Ellis hat New Babylon, das an ein westerntypisches Fort erinnert und somit als Symbol für das Leben an einer Grenze steht, als Enklave für Ausgestoßene gegründet und führt es mit seinen Söhnen. Das als gesellschaftliche Utopie und idealisierte USA im Kleinen lesbare New Babylon ist Elizabeth ein Dorn im Auge, umso mehr, als dort Öl gefunden wird.

In Django sind Schwarze nicht nur Western-Helden, die weiße Banditen töten, sie haben auch Öl. Sie haben den Rohstoff, der ein Symbol für Macht und eine Quelle weißen Reichtums und nationalen Wohlstands der USA ist. Die Szene, in der plötzlich Öl aus dem Bohrloch schießt und auf Schwarze niederregnet, dürfte eine der erinnerungswürdigsten Öl-Fund-Szenen der Western-, wenn nicht Filmgeschichte sein. Ganz besonders diese Szene symbolisiert in Django, dass Western keine Geschichten mit vorwiegend weißen Held*innen mehr sind oder sein müssen. Schwarze als Hauptfiguren in Western sind zwar nicht völlig neu, siehe etwa Unforgiven (1992) oder die Blaxploitation-Western der 1970er-Jahre, bemerkenswert aber ist, gerade im Spiegel heutiger Machtverhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen, mit welcher Macht Schwarze in Django versehen sind und mit welcher Wucht sie als Kollektiv ihren Interessen nachgehen.

Queer mit Colt: Western als Widerstandserzählung für Marginalisierte 

Weitere Beispiele für die in Django sichtbare Diversifizierung von Figuren und Themen in Western-Erzählungen sind die Romane Outlawed (2021) von Anna North und The Thousand Crimes of Ming Tsu (2022) von Tom Lin. Für beide Romane sind Umsetzungen als TV-Serie geplant. Outlawed lässt sich als queerfeministischer Western lesen, der Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen heterosexueller cis Frauen mit denen queerer Figuren zusammendenkt. So eine Figur ist besonders „The Kid“, der*die als nicht-binär erzählt wird und Anführer*in der Bande ist, der sich Ada, die weibliche Hauptfigur, anschließt. Die Gruppe hat in der Wildnis ein Lager, das als safe space dient, als Schutzort für Ausgestoßene, die geschlechtlichen oder sexuellen Normen der Dominanzgesellschaft nicht entsprechen und verfolgt werden. Davon besonders betroffen sind gebährfähige Menschen, die sich der Fortpflanzung und der Mutterrolle verweigern. Die Geschichte kommt ohne Bösewicht*in in Form einer Figur aus: Die Bösewichtin ist, wenn man so will, die Dominanzgesellschaft, das Patriarchat, verkörpert insbesondere durch Sheriffs. 

Im Kleid des Westerns verhandelt Anna North in Outlawed sehr aktuelle Themen, wie ein Blick auf Entwicklungen in (nicht nur) den USA hinsichtlich Abtreibungsrecht oder Anti-Transgender-Politik zeigt. Dabei erzählt sie Marginalisierte nicht bloß als Opfer, sondern als Handelnde, als sich Organisierende und Wehrende, notfalls mit Waffen. Outlawed ist eine Geschichte über erfolgreichen, wenn nötig gewaltsamen Widerstand gegen Diskriminierung und Verfolgung, eine Geschichte über Ermächtigung und Überleben. Im Kontext gegenwärtiger politischer Ereignisse mag dieser Western ein Mutmacher für Marginalisierte sein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, wie sehr sich Outlawed und andere Western heute als Polizeikritik deuten lassen. Teils wirkt es, als führten die Debatten um polizeilichen Machtmissbrauch, Rassismus und Polizeigewalt zu einer in dieser Hinsicht kritischeren Darstellung von Western-Sheriffs.

„I’m not your Chinaman“: Western als Medium des Anti-Rassismus

Von Ermächtigung und Widerstand erzählt auch The Thousand Crimes of Ming Tsu. Im Roman von Tom Lin geht es um den Auftragskiller Ming Tsu, der chinesischer Abstammung ist und sich auf einen Rachefeldzug begibt, um seine weiße Frau, die er entführt wähnt, zu retten. Von Interesse ist neben der, wie bei Outlawed, hohen literarischen Qualität des durch magischen Realismus geprägten Romans auch seine Hauptfigur Ming Tsu. Mit ihr eignet sich Tom Lin als nicht-weißer Autor ein Genre an, das lange Zeit als sehr weiß galt. Zudem trägt er dazu bei, die Geschichte chinesischer Immigrant*innen und ihrer Nachkommen in den Nationalmythos der USA einzuschreiben.  

Ming Tsu ist als Kommentar gegen anti-asiatischen Rassismus lesbar. Die Figur bricht mit teils immer noch üblichen, klischeehaft-rassistischen Bildern von männlichen US-Amerikanern, die sich als chinese-american oder asian-american identifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es solche Begriffe noch nicht; im Roman fällt als Fremdzuschreibung oft der (abwertende) Ausdruck Chinaman. „I’m not your Chinaman.“, fährt Ming Tsu den Direktor an, der ihn als Begleitschutz für seine Zirkustruppe engagiert hat.

Der Bilderbruch besteht bei der Figur Ming Tsu darin, dass sie kein schwächlicher Nerd, namenloser Eisenbahn-Arbeiter oder durchtriebener Opportunist wie Mr. Wu in Deadwood ist. Ming Tsu ist mit Eigenschaften versehen, die vor allem weißen Western-Helden zugestanden wurden und werden. Er ist eine Kampfmaschine, die sich durch die Lande schießt; kaum ein Gegenspieler ist ihm gewachsen. Dabei bedient er sich – auch das ist ein Bruch mit Stereotypen – keiner ostasiatischen Kampfkunst, wie die Figur „Shanghai Joe“ in dem Italo-Martial-Arts-Western Der Mann mit der Kugelpeitsche (1974; italienischer Originaltitel: Il mio nome è Shanghai Joe), sondern nutzt Schusswaffen. Er ist ein Meister im Umgang mit ihnen und pflegt sie mit Liebe und Respekt. Damit macht sich die Figur ein Merkmal weißer Männlichkeit in den USA zu eigen, eines, auf dessen Ausbildung Western-Erzählungen signifikanten Einfluss gehabt haben dürften. Daneben ist Ming Tsu auch prinzipientreu, Liebhaber (weißer Frauen) und Ersatzvater; zudem zeichnen ihn Momente der Reue und Reflexion aus. Hier werden Spuren verletzlicher Männlichkeit sichtbar, die auch in der Serie Django eine Rolle spielt, etwa bei der Verarbeitung von Kriegstraumata oder der erotischen Annäherung zwischen Django und einer männlichen Nebenfigur.

Im Western viel Neues – aber wo sind die Ureinwohner*innen?

Bündelt man obige Eindrücke, spricht einiges dafür, dass das oft als wertkonservativ wahrgenommene Western-Genre eine Frischzellenkur durchläuft und seinen Weg in ein Heute findet, das um Inklusivität und ein anderes Verständnis von Männlichkeit bemüht ist. Die beschriebenen Phänomene sind zwar keine gänzlich neuen, haben sich in den zurückliegenden 10 Jahren aber verdichtet. Die Merkmale „weiß“ und „männlich“ sind heute bei Hauptfiguren (und Autor*innen von Western-Geschichten) weniger häufig anzutreffen und es ist zu beobachten, dass das Bewusstsein für die, historisch immer schon gegebene, Vielfalt menschlicher Sexualität und Geschlechtsidentitäten auch in Western-Erzählungen vermehrt Einzug hält. Hier zeigt besonders Outlawed von Anna North, wie kompatibel Queerness und Western-Narrative sein können, gerade hinsichtlich Themen wie der Behauptung gegenüber Autoritäten und dem Überleben in feindlich gesinnter Umwelt. 

In einem Bereich allerdings hat sich im Vergleich eher wenig getan: Die Repräsentation von Nordamerikas Ureinwohner*innen hat sich ab 1990, als Dances with Wolves hier neue Maßstäbe setzte, zwar deutlich verbessert, indigene Hauptfiguren sind aber nach wie vor selten. Und wenn es sie gibt, sind sie oft mit Veteran*innen wie Wes Studi besetzt, der vor allem durch seine Rollen in Geronimo (1993), Dances with Wolves, The Last of the Mohicans und zuletzt Hostiles der international bekannteste Darsteller indigener Charaktere in Western sein dürfte. Die Serie Yellowstone startete 2018 mit dem Anspruch, auch ein „authentic portrayal of Native life in America“ zu liefern. Nach nunmehr fünf Staffeln scheint das jedoch nur bedingt gelungen zu sein. Für Craig Falcon, Angehöriger der Blackfeet Nation in Montana und kultureller Berater bei The Revenant, ist Yellowstone ein Rückschritt: „We have a giant full-blood Native population here, but casting people and movie directors aren’t tapping into that population.“ Der Hollywood Diversity Report weist auch für 2022 einen verschwindend geringen Anteil indigener Menschen aus, die an der Produktion von Filmen und Serien beteiligt sind.

Es bleibt zu hoffen, dass das gegenwärtige Western-Revival dazu beiträgt, diese Situation zumindest etwas zu verbessern. Längst überfällig ist zum Beispiel eine Serie, die die Kolonialisierung des Westens der USA aus Sicht von Ureinwohner*innen erzählt. Als Genre hat der Western bei ihnen nach wie vor viel gutzumachen: „Aus der Vielfalt [indigener] Kulturen und Nationen, die in einem steten Austauschprozess begriffen waren, im Mittelpunkt einer ‚eigenen‘ Geschichte, wurde das statische Wesen [‚Ureinwohner*in‘], seiner Geschichte und Identität beraubt und zu einer Randerscheinung in der Geschichte der Weißen.“ [5]

[1] Anja Peltzer, Jörn Ahrens: Der Western der Gegenwart. Eine Einleitung, in: Anja Peltzer, Jörn Ahrens (Hrsg.): Politik der Grenze. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Frontier im Western der Gegenwart, Halem, Köln, 2021, S. 7-26, S. 9.

[2] Ebenda, S.10. 

[3] Pam Cook: Frauen und der Western, in: Bert Rebhandl (Hrsg.): Western. Genre und Geschichte, Zsolnay, Wien, 2007, S. 82-92, S. 88.

[4] Ebenda, S. 90.
[5] Georg Seeßlen: Filmwissen: Western. Grundlagen des populären Films, Schüren, Marburg, 2011, S. 12. Im Zitat wurde an zwei Stellen ein aus Kolonialzeiten stammender Begriff ersetzt, der heute als diskriminierend gilt und von den Gemeinten abgelehnt wird.

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