Kategorie: Gespräche

Ein Zweiter Frühling – Der Verlag Voland & Quist verschiebt sein aktuelles Programm

von Isabella Caldart (@isi_peazy)

 

Dass Voland & Quist äußerst kreativ und zugleich resilient ist, hat der Verlag in der Vergangenheit bereits mehrfach bewiesen. 12 Prozent des Jahresumsatzes gingen im vergangenen Jahr durch die KNV-Insolvenz verloren – also stellte Voland & Quist kurzerhand eine Benefizveranstaltung auf die Beine. Ebenfalls letztes Jahr kündigte der Verlag ein außergewöhnliches Imprint an, das im Herbst 2020 mit dem ersten Programm an den Start geht: V&Q Books wird deutschsprachige Literatur ins Englische übersetzen und in Großbritannien vertreiben. Da wundert es wenig, dass sich Voland & Quist auch von der Coronakrise nicht in die Knie zwingen ließ und stattdessen den Zweiten Frühling ausrief (dem sich hoffentlich viele Verlage anschließen werden): Das Frühjahrsprogramm wird im Herbst erneut aufgelegt. Bereits einen Tag zuvor hatte der Elif Verlag auf Facebook angekündigt, das Frühjahrsprogramm zu schieben, und den Börsenverein und die Kurt Wolff Stiftung dazu aufgerufen, diese Idee zu verbreiten. In vielen weiteren Verlagen wird intern bereits diskutiert, ob und wie eine Programmverschiebung gehandhabt werden kann. Weiterlesen

Rückblick auf 2019

Welches war das beste Buch, das du 2019 gelesen hast?

Matthias Warkus: Sachbuch – James Donovan: Shoot for the Moon; Essayband – Jia Tolentino: Trick Mirror
Johannes Franzen: Emily Nussbaum: “I like to Watch”
Berit Glanz: Ich fand “Rage Becomes Her: The Power of Women’s Anger” von Soraya Chemali sehr interessant, viel habe ich über “Vom Fischen und von der Liebe – Mein irisches Tagebuch” von Benoîte Groult nachgedacht und ich habe sehr gerne Nella Larsen und Karin Boye (wieder)gelesen. Außerdem hatte ich viel Freude daran “Zwei für mich, einer für dich” von Jörg Mühle vorzulesen.
Tilman Winterling: Ich hab 2019 durchaus ein paar sehr ordentlich Sachbücher gelesen. “Der Klang von Paris” von Volker Hagedorn hat mich angeregt, mir Spaß und mich neugierig gemacht.
Simon Sahner: Wirklich beeindruckt hat mich Maggie Nelson “The Argonauts”, das ist wirklich großartig.
Samuel Hamen: Jeanette Winterson: “Frankissstein” (bitte nicht vom albernen Titel blenden lassen)
Peter Hintz: “Eine Frau” von Annie Ernaux war wunderbar (wie alle ihre Bücher), sehr gut gefallen hat mir aber auch “Fliegen” von Albrecht Selge.
Elif Kavadar: “Unerhörte Stimmen” von Elif Shafak habe ich sehr gerne gelesen. Zuletzt hat mich “Loyalitäten” von Delphine de Vigan aber auch sehr beeindruckt. Nicht zu vergessen: “The Color Purple” von Alice Walker. Weiterlesen

Critical Westdeutschness – Teil 3 von 3: Gershwin und die Rentenangleichung

Dieses Gespräch haben Matthias Warkus (geboren 1981 in der Pfalz) und Peter Neumann (geboren 1987 in Mecklenburg) zwischen dem 4. Dezember 2018 und dem 13. April 2019 schriftlich geführt. Vorher hatten sie festgelegt: Es sollte ein Gespräch, kein Interview werden; und das Gespräch sollte ganz kathrinpassigmäßig asynchron und online verlaufen, damit sie aufkommende Themen, Links usw. beliebig recherchieren konnten. Peter Neumann ist Lyriker, Schriftsteller und Philosoph; er lebt in Berlin, arbeitet in Oldenburg und hat zuletzt im Siedler-Verlag Jena 1800. Die Republik der freien Geister veröffentlicht.

Teil III: Gershwin und die Rentenangleichung

Matthias Warkus: Ich möchte im letzten Teil dieses Gesprächs gerne etwas geradezu Anrüchiges tun und konstruktiv werden – zu Handlungsempfehlungen kommen: Was können wir als Ost- und Westdeutsche, insbesondere als irgendwie kulturbetrieblich oder journalistisch Tätige, tun, um es besser zu machen? Dabei gehe ich gleich mit zwei Vorschlägen in Vorlage.
Der erste ist nach dem bisherigen Gesprächsverlauf fast selbstverständlich: nämlich als WestdeutscheR darauf zu reflektieren, ob, was man als allgemein setzt, in Wirklichkeit doch nur ein rheinisches, ein Westphänomen ist – genauso, wie man beispielsweise auch immer darauf reflektieren sollte, ob, was man für eine »Generation« hält, in Wirklichkeit doch nur ein Milieu ist.
Der zweite Vorschlag braucht etwas mehr Anlauf. Ich habe Ende 2018 als zugezogener Wessi in Jena zwei Beobachtungen gemacht. Einmal: Es gibt hier ein hochgradig spießig anmutendes Aussichtslokal auf einem Hügel, das bis heute von einem Siedlerverein getragen wird, und in dem man als Westdeutscher kein Kulturprogramm erwarten würde, das über einen gelegentlichen Frühschoppen mit Blasmusik hinausgeht. Hier aber gibt es genau in diesem Lokal eine weit zurückreichende, lebendige Tradition von Blues- und Bluesrock-Liveauftritten. Dazu passt das zweite: Ich bin zufällig in das Adventskonzert eines Akkordeonorchesters hineingeraten (auch so etwas, was im Kontext viele sicherlich als »typisch ostdeutsch« belächeln würden, obwohl es natürlich auch im Westen Akkordeonorchester gibt), in dem ein Stück mit einer hochemotionalen Ansprache anmoderiert wurde; das Arrangement stammte schon aus den 60ern und konnte jahrzehntelang nicht aufgeführt werden. Es war »Summertime« aus »Porgy and Bess«, was nun vielen der Inbegriff einer ausgelutschten Nummer sein könnte – wir haben das schon im Schulmusikunterricht gesungen, meine ich. Dass ein Arrangement davon irgendwie Tragweite und Fallhöhe haben könnte, war mir bis zu diesem Moment fremd gewesen.
Also möchte ich dafür plädieren, zu akzeptieren, dass es originär ostdeutsche, geschichtlich bedingte Weisen gibt, sich zu bestimmten kulturellen Inhalten zu verhalten, die als solche ernst genommen werden müssen – ohne sie in die eine Schublade zu packen, in der Achim Menzel und Karsten Speck liegen, aber vor allem auch, ohne sie in die andere zu tun, in der Heiner Müller und Peter Hacks liegen.

Peter Neumann: Ich schließe einen dritten Vorschlag an: Ausgehend davon, dass es originäre ostdeutsche, geschichtlich bedingte Weisen gibt, sich zu bestimmten kulturellen Inhalten zu verhalten, müssen die bisherigen vor allem westdeutsch geprägten Zugänge neu erzählt werden. Ich denke, es reicht nicht aus, zu sagen, da gäbe es ›auch‹, nur eben dann eine ›ostdeutsche‹ Erzählung. Spannend wird es erst, wenn sich beide Erzählungen verbinden, widersprechen, in Dialog miteinander treten. Als ich am Wochenende im Haus der Berliner Festspiele war und mir ein Podium angehört habe, in dem es unter anderen um den Zusammenhang von Ost- und Migrationsfrage ging, da fiel der Satz: »Der erste Platz ist vergeben. Er ist in der Hand westdeutscher Eliten. Was gerade den Nationalismus von rechts wie von links im Osten so stark macht, ist dieser Kampf um den zweiten Platz.« Da muss meines Erachtens eine neue, eine irgendwie ›gesamtdeutsche‹ Erzählung ansetzen: Dass der erste Platz nicht nur nicht vergeben ist, sondern auch gar nicht besetzt werden kann. Das Problem am Phänomen des/der Osterklärer/in ist, dass er/sie in der Betonung der Originarität des Ostens das bestehende West-Narrativ nur forciert. Insofern würde ich hinzufügen: Geschichten nicht nur ernst nehmen, sondern – wie es Deinem Fall ja auch wirklich war – offen sein, die eigene Geschichte überschreiben zu lassen.

MW: Also die Begriffe »ostdeutsch« und »westdeutsch« gleichzeitig rehabilitieren (als legitime Zuschreibung und Analysekategorie) und destruieren (als ontische Bestimmung)? Bzw.: offenlegen, dass es grundsätzlich verschieden nuancierte Begriffe sind – dass es z.B. keine nennenswerte identitäre Verwendung von »westdeutsch« gibt, weil »westdeutsch« als der Regelfall konnotiert ist, vergleichbar mit Weißsein und Männlichkeit?

PN: Ja, so in etwa könnte es gehen: »Ostdeutsch« und »Westdeutsch« als Kategorien aufbauen, stark machen, um sie über ihre blinden Flecken jeweils zu desavouieren. Ein Buch, das das erstaunlich konsequent macht und auf das ich erst diese Woche gestoßen bin: Wolf Lepenies’ Folgen einer unerhörten Begebenheit, wobei der Titel insofern trügt, als es sich vielmehr – von alt-bundesrepublikanischer Seite – um die »Folgenlosigkeit einer unerhörten Begebenheit« handelt: »Überheblichkeit kommt in der Überzeugung zum Ausdruck, die DDR sei nun einmal ein totalitärer Staat gewesen, und daher biete der Osten des vereinten Deutschland heute in keinem Bereich der Politik, in keiner Sparte der Lebenswelt, in keinem einzigen Aspekt erlebter und erlittener historischer Erfahrung eine Alternative, über die im ganzen Deutschland ernsthaft nachzudenken sich lohne«. Worauf ich aber eigentlich hinaus will, ist die Rehabilitierung und Destruktion der Etiketten. Hier ein Beispiel, das – gerade in seiner Überzogenheit und ›typisch‹ deutschen Themenwahl – fast schon Teil einer (noch zu schreibenden) übergreifenden Geschichte der Mentalitäten wäre: »Westfahrer in Westautos sind langweilig; ihre Identitätsansprüche lassen sich bereits an den unterschiedlichen Automarken ablesen. Ostfahrer dagegen demonstrieren alle Stufen, in denen augenblicklich die deutschen Identitätswechsel vor sich gehen: Sie fahren in Ostautos mit alten Ostkennzeichen, in Westautos mit neuen Ostkennzeichen, in Ostautos mit Westkennzeichen, in Westautos mit Ostkennzeichen ohne Nationalitätenschild, in Ostautos mit Ostkennzeichen und übermalten DDR-Schild, in dem die beiden letzten Buchstaben unter unschuldigem Weiß verschwunden sind, in Ostautos mit Westkennzeichen und D-Schild und – unerlaubt, Gipfel der historischen Ironie und Ikone der Vergeblichkeit – in Westautos mit Westkennzeichen und altem DDR-Emblem. Sichtbar wird so ein Kaleidoskop deutscher Ungleichzeitigkeit.« (Ungleichzeitigkeit, darum geht es.)
Ein vierter Vorschlag wäre, zu überlegen, welche gesamtdeutsche Erzählung man überhaupt stiften möchte: Geht es um Deutschland, geht es um Europa? Die Einsicht, dass 89/90 zwei deutsche Staaten untergegangen sind, kann meines Erachtens nur bedeuten, an einem Narrativ zu arbeiten, das diese doppelte Geschichtserfahrung in sich einbezieht und die blinden Flecken, die es hier wie dort gibt, zum Motor ihrer eigenen Erzählung macht.
Und als fünfter Vorschlag, der allerdings über die Ebene kultureller Zuschreibungen hinausgeht, aber eben diese mehr bedingt als alles andere: Es wäre vermessen zu glauben, der Osten könnte es mit dem Westen aufnehmen, wenn es um die eigene Sprecherposition geht. Das wird auch in absehbarer Zeit nicht geschehen. Dennoch: Jedes Macht- und Herrschaftsgefälle hat eine materielle Basis. Insofern sollte man gerade diese Basis bei allen geschichts- und erinnerungspolitischen Fragen im Blick behalten. Dass die Rentenangleichung Ost-West 2025 kommen soll, ist angesichts der Zeit, die dann verstrichen ist, ja ein schlechter Scherz.
Hier ist übrigens eines der klügsten politischen Positionspapiere zum Thema, das ich seit Langem gelesen habe, und das viele unsere Punkte aufgreift.

MW: Dieses Grünen-Positionspapier habe ich noch nicht gründlich gelesen, aber es bringt mich auf eines meiner Lieblingsthemen zum ganzen Komplex Wende, Wiedervereinigung, Ost/West: Obwohl die Opposition in der DDR maßgeblich von der Umweltbewegung getragen wurde und die Umweltzerstörung maßgeblich zur Delegitimierung des Regimes beitrug, obwohl Ostdeutschland eine einzigartige natur- und umweltschützerische Erfolgsgeschichte darstellt, hat man heutzutage manchmal den Eindruck, dass das niemanden mehr interessiert, weder in Ost noch in West. Da gibt es auch anscheinend kaum Niederschlag in der jüngeren Literatur, bei Tellkamp ist es mal ein Seitenthema, mehr fällt mir da nicht ein.

PN: In der Gegend, aus der ich komme, Mecklenburger Seenplatte, ist der Natur- und Umweltschutz, so zumindest mein Eindruck, von vielen als Mittel zum Zweck wahrgenommen worden: Was funktioniert touristisch, vermarktungstechnisch. Wasserskianlage, Bootsanleger, Villen am See. Alle anderen Anliegen galten irgendwie als Luxusprobleme, da hieß es, die Grünen hätten im Stadtrat wieder diesen oder jenen Investor blockiert, und immer so weiter, bis sich niemand mehr für die Region interessiere. Arbeitslosigkeit war lange Zeit, bis in die Mitte der Nullerjahre hinein, einfach das bestimmende Thema.
Um es wieder mit einem Verweis auf ein Gespräch auszudrücken:
Das Integrationsparadigma forciert die Ungleichheiten mehr, als dass es ihnen entgegenarbeitet. Die These würde ich teilen! Die Frage ist nur, welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Wenn es nicht mehr die Leitidee der deutschen Einheit sein kann, die Ost und West zusammenhält, welche Erzählung ist es dann?

MW: Ich würde ja sagen, Einheitsideen braucht man überhaupt nicht. Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Staat, ein Staatenverbund, ein Planet eine Zweck-WG ist. Ost und West, jetzt als geographische Gebilde im weitesten Sinne gedacht und nicht irgendwie identitär, sind ja in sich auch wieder völlig heterogen. Ich finde rein verwaltende Staaten, die kategorial einfach eine Ebene von Gebietskörperschaften sind wie Städte oder Regierungsbezirke, eine sympathische Sache – sympathischer jedenfalls als Staaten, die Ideen und Missionen für sich beanspruchen. Die großen Ideen à la allgemeine Menschenrechte, Vervollkommnung des Menschengeschlechts usw. leben auch, wenn sie nicht mit Nationalstaaterei amalgamiert werden: Das ist m.E. doch eine der großen impliziten Botschaften der Weimarer Klassik.

PN: Was soll ich sagen: Durch unser Gespräch fühle ich mich ostsozialisierter denn je. Durch die Umkehrung der Blickrichtung ist für mich aber auch deutlich geworden, wie sehr diese (un-)ausgetragenen Mentalitätsgeschichten Raum schaffen können für etwas Drittes, Viertes, Fünftes. Ich glaube, hier liegt auch ein großes poetologisches Potenzial, gewissermaßen ein Plädoyer für ein achronales, polyperspektivisches, materialgesättigtes Erzählen: Erfahrungsmuster zu bedienen, und sie gleichzeitig zu unterlaufen.

Im Folgenden noch ein paar Links, die im Gespräch nicht mehr direkt thematisiert wurden:

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Critical Westdeutschness – Teil 2 von 3: Die Goethe-Reparatur und andere Übergriffe

Dieses Gespräch haben Matthias Warkus (geboren 1981 in der Pfalz) und Peter Neumann (geboren 1987 in Mecklenburg) zwischen dem 4. Dezember 2018 und dem 13. April 2019 schriftlich geführt. Vorher hatten sie festgelegt: Es sollte ein Gespräch, kein Interview werden; und das Gespräch sollte ganz kathrinpassigmäßig asynchron und online verlaufen, damit sie aufkommende Themen, Links usw. beliebig recherchieren konnten. Peter Neumann ist Lyriker, Schriftsteller und Philosoph; er lebt in Berlin, arbeitet in Oldenburg und hat zuletzt im Siedler-Verlag Jena 1800. Die Republik der freien Geister veröffentlicht.

Teil II: Die Goethe-Reparatur und andere Übergriffe

Peter Neumann: Matthias, du bist vor drei Jahren nach Jena gekommen, aus Marburg: Wie waren deine ersten Eindrücke, gab es vor Ort, in Jena, besondere Begegnungen, Pfalz, Marburg, konnte damit irgendwer etwas angefangen, und: Wie haben Menschen aus deinem Umfeld reagiert, als du ihnen gesagt hast, dass du ›rübermachst‹, in den Osten? Ich stehe ja kurz davor, nach Oldenburg zu gehen. Abgesehen davon, dass die meisten nicht auf Anhieb wissen, wo Oldenburg liegt, gibt es eigentlich relativ wenig Vorbehalte. Man wartet ab. Wenn ich auf Lesungen oder Tagungen in den alten Ländern bin und erzähle, dass ich aus Mecklenburg komme, bleibt es meistens bei dem netten, unkomplizierten ›Ach, schön, da bin ich auch schon mal durchgepaddelt‹. Würde ich ›Brandenburg‹, ›Sachsen‹ oder ›Sachsen-Anhalt‹ sagen, sähe die Sache sicher anders aus.

Matthias Warkus: Reaktionen auf die Nennung von Jena waren üblicherweise »Ist das nicht in Sachsen?« oder »Ich kenne das nur vom Vorbeifahren, ist das nicht furchtbar hässlich?«. Das ist jetzt nicht ostspezifisch. Ich habe mich einmal mit einem bekannten Satiriker unterhalten, der ernsthaft davon überrascht war, dass in Jena günstige Wohnungen knapp sind (»Waaas, ist da nicht einfach alles völlig leer?«), das fand ich recht erschütternd. In meinem Umfeld gibt es jemanden, der sich vom Bauernsohn mit Volksschulabschluss bis zum Klinikmanager hochgearbeitet hat und auch geschäftlich nach der Wende viel im Osten zu tun hatte – bei dem fand ich die Redeweise über »diese Ossis« immer ziemlich kolonial. Ich habe Vergleichbares auch von anderen Westdeutschen bestätigt bekommen; das gönnerhafte Reden über »die da« ist auch nach fast 30 Jahren immer noch völlig üblich. Ansonsten fand ich die eine oder andere Reaktion interessant, die es als Indiz für eine Art »neue Normalität« genommen hat, dass ich »in den Osten« gehe, mit der Implikation, vor 10–20 Jahren sei das ja so noch nicht möglich gewesen. Wenn ich erkläre, wo ich herkomme, führt das weder im Westen noch im Osten zu großen Reaktionen, weil der langweilige, weinlose und strukturschwache Teil der Pfalz, aus dem ich stamme, hier wie da niemandem bekannt ist.

PN: Bei der Redeweise über Ost und West fällt mir auf, dass man im Fall der alten Länder viel eher bereit ist zu differenzieren, also regionale Unterschiede in die eigene Beurteilung miteinzubeziehen, sich auf Mentalitätsgeschichten, die oftmals sehr weit in die Vergangenheit zurückreichen, einzulassen. Niemand würde auf die Idee kommen, die rheinische und bayerische Provinz umstandslos in einen Topf zu werfen. Man kann sie höchstens in eine geschichtliche Konstellation setzen: Ich habe mich neulich erst gefragt, was aus der Rheinischen Republik geworden wäre, hätte es sie gegeben. Und wie viel Geist von dieser separatistischen Bewegung in die junge Bundesrepublik eingeflossen ist. Adenauer hatte sich ja Ende der 1910er-Jahre, wenn er auch nicht aktiv an ihr beteiligt war, positiv zu ihr bekannt, als Gegengewicht zur preußischen Hegemonialstellung, eine Tradition, die heute zweifelhafterweise eher von der CSU fortgesetzt wird. Mit anderen Worten: Es gibt ungeheuer viel Geschichte aufzuarbeiten und diese Geschichte ist präsent. Beim Osten ist das anders. Als ich im Radio über Jena 1800 interviewt wurde, kam einmal aus einem Kölner Studio die Frage: »Herr Neumann, damals, um 1800, war Jena ein geistig-kulturelles Zentrum Europas, heute blickt man mit Sorge auf den Osten. Hat das für Ihre Arbeit eine Rolle gespielt?« Was soll man auf Fragen wie diese antworten? Fragen, die so ungeheuer voraussetzungsreich sind, weil sie den Osten bloß als Singular kennen, ohne geschichtliche Tiefendimensionen. Du sagst, du hättest die Redeweise über den Osten immer ziemlich ›kolonial‹ empfunden: Kannst du das spezifizieren?

MW: Das hat für mich zwei Hauptaspekte: erst einmal das Gönnerhafte, das nett oder lustig gemeinte Abwertende – »die da« geben sich ja Mühe, aber die Mentalität, das kriegt man aus denen nicht raus, die könnten so viel aus sich und ihren Ressourcen machen und tun es nicht. Das hat man, meine ich, durchaus auch in der Rede erfolgreicher Ostdeutschen über ihre »Landsleute«. Der andere Aspekt ist, davon abgeleitet, sozusagen die Selbstverständlichkeit des Verfügens über die ostdeutschen Ressourcen. Das ist das, was ich damit meinte, dass über Altbauwohnungen in Leipzig oder Berlin nie als von Wohnungen von Ostdeutschen gesprochen wird, sondern immer nur als Chance für Zugezogene.

PN: Apropos ›ostdeutsche Ressourcen‹, auch eine für mich exemplarische Geschichte, die mit Weimar als gesamtdeutschem Erinnerungsort zusammenhängt, der natürlich insbesondere nach 1990 umkämpft war. Mir ist neulich der FAZ-Artikel von Thomas Steinfeld vom 18.3.1999, also mitten aus dem Kulturhauptstadtjahr, in die Hände gefallen: »Sonderakte Goethe. Eine Trophäe für den Sozialismus: Wie die DDR die sterblichen Überreste Johann Wolfgang von Goethes unsterblich machen wollte«. Es geht um wiederaufgetauchte Akten, die belegen, dass Experten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 1970 Goethes Sarg öffneten, aus konservatorischen Gründen weiche Gewebereste entfernten und den Lorbeerkranz, der noch immer auf dem Kopf saß, mit Kunststoff verstärkten. Bei Steinfeld liest sich das wie ein Angriff auf ein nationales Heiligtum, als Versündigung, als Akt größter Brutalität, mit der man in der DDR versucht habe, eine »Trophäe« herzustellen, Geschichte sich zurechtzubasteln. Fakt ist: Die Akten waren frei zugänglich und unterlagen nicht der Geheimhaltung. Und: Die konservatorischen Maßnahmen, die von Franz Bolck, dem damaligen leitenden Pathologen und Rektor der Universität Jena durchgeführt wurden, wären auch nach heutigen Maßstäben zu rechtfertigen. Insofern: Natürlich hätte die Klassik-Stiftung souveräner mit ihrer Informationspolitik umgehen können, es war ja klar, dass so etwas früher oder später ans Licht kommt, jetzt, da es keine Auflagen mehr für westdeutsche Bundesbürger im Goethe- und Schiller-Archiv gab. Die Skandalisierung und an den Haaren herbeigezogene Unterstellung, hier zeige sich einmal mehr, dass die DDR eine »Gesellschaft von Verschwörern« gewesen sei, wirkt allerdings wie der Versuch, ›deutsche‹ Geschichte, über die man so lange Zeit in Westdeutschland nicht verfügen konnte, materiell nicht verfügen konnte, sich nun gewaltsam zurückzuholen, Deutungshoheit zurückzugewinnen.
Ich glaube, dass in diesem Akt westdeutscher Übergriffigkeit schon viel kulturkonservative Empörung über Gendersternchen und andere Diversitätsmarker drinsteckt – die frühe Kapitulation vor dem Gedanken, es könnte eine Geschichte geben, die womöglich ebenso viel Relevanz hat wie die eigene, von der man lange Zeit glaubte, sie sei die einzig mögliche. Ich denke ja, dass die spezifisch westdeutsche Signatur der Neuen Rechten bisher völlig verkannt wurde. Jana Hensel hat einmal die These aufgestellt, der Erfolg der AfD stelle die größte Emanzipationsleistung der Ostdeutschen dar (vgl. Hensel zu den Landtagswahlen, bezeichnenderweise austauschbar mit einem Bild aus Sachsen-Anhalt illustriert, obwohl dort gar nicht gewählt wird). Ich würde das Gegenteil behaupten: Die Etablierung einer Partei rechts der Union stellt die größte Emanzipationsleistung eines tief im anti-demokratischen Denken des wilhelminischen Obrigkeitsstaats verwurzelten westdeutschen Konservatismus nach 1945 dar. Aber bevor ich dazu irgendetwas sage: Gibt es für dich etwas, etwas, das du aus deiner eigenen westdeutschen Sozialisation kennst, von dem du sagen würdest: Das hat lange unter der Oberfläche gegoren und tritt jetzt offen zutage?

MW: Der Erfolg der AfD, deren überregionale Exponenten quasi allesamt 150%ige Wessis sind (Gauland, Weidel, Höcke, Tillschneider usw.), ist ungefähr so sehr eine ostdeutsche Emanzipationsgeschichte, wie es der Erfolg der CDU bei der Volkskammerwahl 1990 war, möchte ich behaupten. – Die Frage danach, was jetzt spezifisch Westdeutsches hochkommt, ist eine sehr gute! Aus der hohlen Hand heraus möchte ich mal vermuten: das ganze Thema Sozialstaatschauvinismus und »rohe Bürgerlichkeit«. Dass ein Freund von mir (katholisch, Vater Finanzbeamter) Anfang der 90er jemanden aus unserem Jahrgang als »Sohn eines Arbeitslosen« beschimpfte, dass ich engagierten Widerspruch erntete, und zwar nicht von irgendwelchen »Leistungsträgern«, sondern von alternativ angehauchten Kiffertypen, als ich, Zivi beim Sozialamt, ihnen erklärte, dass die allermeisten Hilfebezieherinnen alleinerziehende Mütter sind und Leistungsmissbrauch ein Randphänomen ist – das haben ja nicht die Ostdeutschen erfunden und in die Pfalz exportiert.

PN: Woher, glaubst du, kommt diese ›rohe Bürgerlichkeit‹, wann ist sie entstanden? In der Literatur taucht der Begriff, soweit ich sehe, ab den 90er-Jahren auf. Könnte das ein westdeutsches Nachwendephänomen sein oder ist das – wie gesagt – älter und lässt sich tiefer in der alten Bundesrepublik verorten? (Ich frage das, weil ich so etwas aus meiner Mecklenburger Landjugend in den 90ern gar nicht kenne, diesen Klassismus von oben.)

MW: Ich bin jetzt auch kein Fachmann für das ganze Thema bürgerliche Abwertung von »Minderleistern« usw., aber die ersten medialen Diskussionen um die angebliche Hängemattenfunktion von Transferleistungen in Westdeutschland datieren weit vor 1990: »Gemeinnützige Beschäftigung von Sozialhilfeempfängern: eine Art Arbeitsdienst oder ein Weg zur Humanisierung und Rationalisierung des Sozialstaates?« Großes Cave dabei: Das ganze Thema »rohe Bürgerlichkeit«, oder wie auch immer man es nennen will, ist ja zuerst einmal völlig vermint, weil man sich schon mit dem Ansatz einer Beschreibung in bestimmte Großtheorien einkauft. Ich persönlich habe aber z.B. keine Lust, mir zuschreiben zu lassen, ich hielte die Warenform für die Wurzel allen Übels. Zum zweiten scheint es sich ja um ein vielschichtiges Phänomen zu handeln, an dem sich derzeit Legionen von SozialwissenschaftlerInnen abarbeiten, ich weiß gar nicht, ob man da überhaupt Richtiges sagen kann, wenn man nicht tief eingelesen ist, oder ob man nicht riskiert, da genauso rettungslos zu vereinfachen wie die Leute, von denen man sich eigentlich abgrenzen möchte. Die DDR, in der ja kulturell das verkleinbürgerlichte Proletariat hegemonial war (während es im Westen kurz vor 1990 pi mal Daumen eher das akademisiert-aufsteigerische Angestellten-Bürgertum war: der Zeit lesende Elektroingenieur, der Studienrat mit Ferienhaus im Périgord, alle mit ihrem Alessi-Wasserkessel), kannte auch Abwertungsdiskurse gegen als arbeitsunwillig Wahrgenommene, nur dass es da die Figur von der staatlichen Hängematte nicht geben konnte. Möglicherweise hat sich da eine Art Zangenbewegung ergeben – die liberal-studierte Abwertung von der einen Seite, die blaumanntragende von der anderen.
Was sich sicher zügig um/nach 1990 ergeben hat, ist diese Verschmelzung von Abwertung vermeintlich Arbeitsunwilliger und vermeintlich Bildungsunwilliger. Das Hängemattenzitat von Kohl ist von 1993; noch 1992 schreibt Dirk Kurbjuweit eine lange Reportage über Sozialhilfe, die ganz ohne die Klischees von erblicher Verwahrlosung auskommt. Dann kommt aber schon bald diese Kulturalisierung und letztlich Rassifizierung, dass man anfängt, »die da« als aus familiären, erblichen kulturellen Faktoren heraus träge und unnütz zu zeichnen, was sich spätestens Anfang der Nullerjahre dann völlig stabilisiert hat. Ich glaube übrigens, dass sich da auch Klischees über westdeutschen »Sozialadel« und über arbeitslose Ostdeutsche miteinander vermengt haben.
Und man vergisst wohl auch gerne: Als die Mauer fiel, war das Phänomen Massenarbeitslosigkeit in Westdeutschland noch keine zehn Jahre alt – zwischen 1980 und 1982 hat sich die Arbeitslosenzahl auf 1,8 Millionen verdoppelt, erst kurz vor 1990 sinkt sie erstmals wieder ein wenig. Die Wellenlänge der Diskurse über sowas ist aber ungeheuer – an dem Kurbjuweit-Artikel sieht man, dass bestimmte Topoi in der Diskussion um Transferleistungen mehr als ein Vierteljahrhundert alt sind. Medial gesehen ist Arbeitslosigkeit als Großthema also gerade höchstens ein bisschen im Abklingen, dann kommt die Wiedervereinigung und hebt sie zumindest medial zu apokalyptischen Ausmaßen empor. Das hat derartigen Nachhall, dass man noch heute in sozialen Medien regelmäßig Kommentare sehen kann, in denen behauptet wird, die verdeckte Arbeitslosigkeit in Deutschland habe ein Ausmaß, das die Zeiten der Weltwirtschaftskrise in den Schatten stelle. Also, ganz kurz und unwissenschaftlich (und belegt durch meine eigene beschränkte Lebenserfahrung): Zwischen 1990 und 2005 vollzieht sich eine Kulturalisierung und Para-Rassifizierung von Transferleistungsempfängern. Dann kommt ohnehin Hartz IV, was ja vor allem das sichtbar macht, was ohnehin schon geschieht (sanktionsbewehrte Arbeitspflichten gab es z.B. schon längst vorher), aber dem Ganzen noch einmal ein Etikett und gesonderte Aufmerksamkeit gibt. Mit »Fordern und Fördern« ist der staatliche Umgang mit Transferleistungsempfängern interessanterweise auch sehr kolonial: bis hin zur mehr oder minder offenen Forderung, man müsse »denen« ihre Kinder wegnehmen. Das kulturalistisch-genetisch Abwertende, das Koloniale, die Assoziation mit der legendären Bestie Massenarbeitslosigkeit, das spielt alles gegen arme Westdeutsche wie gegen die Ostdeutschen insgesamt.

PN: Weil du den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland Anfang der 80er-Jahre erwähnt hast: Die erste Hängematte war noch eine Sänfte und stammt von Erich Riedl von der CSU, der 1981 im Bundestag meinte, das soziale Netz sei für viele »eine Sänfte geworden, in der man sich von den Steuern und Sozialabgaben zahlenden Bürgern unseres Landes von Demonstration zu Demonstration, von Hausbesetzung zu Hausbesetzung, von Molotow-Cocktail-Party zu Molotow-Cocktail-Party und dann zum Schluss zur Erholung nach Mallorca tragen lasse«. (Mir gefällt die Detailliertheit der Ausführungen. Mir war auch gar nicht klar, dass Mallorca schon damals das deutsche Urlaubsparadies war. Hielt das bisher immer für ein 90er-Jahre-Phänomen.) Erstaunlicherweise ist das aber gar kein dezidiert konservativer Standpunkt Anfang der 80er, auch SPD-Leute wie Heinz Westphal denunzieren ganz offen den Sozialstaat, und das geht dann weiter über Kohls »kollektiven Freizeitpark« 1993 bis hin zu Schröders »Es gibt kein Recht auf Faulheit« 2001, das zurzeit durch Andrea Nahles‘ Äußerungen zum Bedingungslosen Grundeinkommen ein trauriges Comeback feiert. Insofern halte ich die Reportage von Kurbjuweit für eine absolute Ausnahme. Es scheint, als hätte sich um 1990 schon einiges an altbundesrepublikanischer Hässlichkeit angestaut, das sich dann großräumig Luft verschafft und sich natürlich auch über die arbeitsunwilligen, bildungsfernen Ostdeutschen ergießt. Wenn man eine solche Genealogie zeichnet, bekommt so jemand wie Sarrazin, der ja das kulturalistisch-genetisch Abwertende völlig ungeschützt als vermeintliches Argument gebraucht, eine ganz andere geschichtliche Tiefendimension.

MW: Ja, dem möchte ich gar nicht widersprechen – mir geht es nur darum, dass der endgültige Umschwung hin dazu, Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug als eine Art erblichen Makel zu sehen, m.E. erst deutlich nach der Wiedervereinigung kommt (dazu hier ein aufschlussreiches Diagramm). Noch ein Gedanke dazu, spezifisch zum Schluss: Ostdeutsch und westdeutsch – das sind insbesondere zwei verschiedene Arten des Sichsehnens nach einer in die Vergangenheit projizierten, imaginierten sozialen Wärme. Die Ostvariante davon ist völlig diskreditiert, die Westvariante ist bis in die Spitze des Kulturbetriebs nicht nur gängig, sondern wird regelrecht befördert (vgl. Illies, Seibt usw.). Wir müssen uns zuallererst darüber klarwerden, dass die Westdeutschen genauso in Retrotopien verhaftet sind wie die Ostdeutschen und das kritisch angehen.

PN: Und der springende Punkt an »Rhenish Supremacy« ist, dass die Verletzung im Osten relativ klar lokalisierbar ist, auch die Art der, wie es im Beitrag heißt, gegenwärtigen ›Retraumatisierung‹ durch Zuwanderung, Globalisierung etc., während die Wunde im Westen noch nicht einmal wahrgenommen bzw. einfach anders besetzt und dadurch verdrängt wird. Als besonders ›wütend‹, ›verdrossen‹ und ›roh‹ gilt dann nur die eine Seite. – Eine Sache, auf die ich noch zu sprechen kommen wollte: Als ich danach fragte, was gegenwärtig alles so Westdeutsches hochkommt, hatte ich noch etwas anderes im Sinn als die ›rohe Bürgerlichkeit‹. Mir scheint auch der völkische Nationalismus der Neuen Rechten sehr tief in die Geschichte der alten Bundesrepublik zurückzureichen und mit der Frage zusammenzuhängen, wie man nach 1945 als Konservativer überhaupt noch ›deutsch‹ sein konnte, ohne sich damit nicht verdächtig zu machen. Die unseligen Diskussionen über eine ›Dreiteilung‹ Deutschlands, die verlorenen Ostprovinzen, ›geistige Heimat‹, wie man das nannte, diese Diskussionen, die im Westen bis in die 80er-Jahre reichten (schlagend auch die Selbstverständlichkeit, mit der in dem Zeit-Artikel von 1984 von der ›ehemaligen Reichshauptstadt‹ Berlin gesprochen wird, ohne das zu kontextualisieren), waren ja nach der Wiedervereinigung nicht aus der Welt, sondern waren doch gerade bis dahin aufgeschoben worden, weil erst ein zukünftiger gesamtdeutscher Souverän über die Außengrenzen des Landes entscheiden sollte.

MW: Dazu passt übrigens perfekt dieser Aufsatz von Fritz-Gerd Mittelstädt über die Konstruktion von Heimat in der westdeutschen Nachkriegszeit…

PN: Absolut relevant! Und wie gut, dass er die Sache explizit mit der Frage nach Zeitgenossenschaft verbindet. ›Deutschland in den Grenzen von 1937‹ war ein gängiger Topos im Westen. Wenn man sich anschaut, was Gauland so als klassischer CDU-Konservativer, der er vielleicht mal gewesen ist, in den 90er-Jahren veröffentlicht hat, dann ist da viel von ›Konservativismus‹ und ›deutschen Traditionen‹ zu lesen.

MW: Ich weiß gar nicht, ob Gauland so klassisch CDU ist, immerhin hat er sich seinerzeit in Frankfurt für die Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge eingesetzt. Oder war so etwas damals klassisch CDU-konservativ, weil transatlantisch? – Dass die heutigen Neurechten zumindest auf der Führungsebene ein weitgehend westdeutsches Projekt sind, steht m.E. außer Frage (geradezu klischeehaft steht dafür der schwäbelnde, ostentativ katholische Kubitschek), und das hat natürlich auch vor 1990 angefangen. Hochinteressant zu den ganzen Vorgängen auf dem rechten Flügel seit 1990 ist übrigens die Personalie Rainer Zitelmann. Ich kannte den vom Namen über eine frühere Mitarbeiterin seiner Immobilienagentur, bevor ich irgendetwas anderes erfahren habe. Der ist eine Figur wie aus einem amerikanischen Roman – Strippenzieher der rechten Erneuerungsversuche nach der Wende, reich geworden mit irgendwas mit Immobilien, Bodybuilder und seit Neuestem »Reichtumsforscher«, das glaubt einem ja keiner.

PN: Ob Gauland nun ein klassischer CDU-Konservativer war hin oder her: Ich behaupte nur, dass die Suche nach einer großen deutschen Erzählung ein spezifisch westdeutsches Projekt war und ist, und dass die Gründe mit dem Geschichtsbild der beiden deutschen Staaten zusammenhängen. Während man im Westen bald zum überheblichen ›Wir sind wieder wer‹ überging, fing man im Osten an, stumpfsinnig Städte zu planieren, radikal geschichtslos zu werden.

MW: Was ich mich da frage, ist, ob die Wiederentdeckung des Nationalen in der DDR in den 80ern (»Sachsens Glanz und Preußens Gloria«, historische Rekonstruktionen usw.) mitgeholfen hat, den Boden dafür zu bereiten, was dann nach der Wende passiert ist.

PN: Es gab im Osten in jedem Fall eine Leerstelle im geschichtlichen Selbstverständnis, die durch keinen historischen Materialismus, keine Internationale aufzufüllen war. Interessant ist, worauf Bezug genommen wird: »Sachsens Glanz und Preußens Gloria« ist vom Gestus nicht so weit von der Weimarer Klassik entfernt. Und die hatte, davon erzählt die Bibliothek deutscher Klassiker, die noch heute jedes Ost-Antiquariat verstopft, in der DDR Hochkonjunktur. Klar, die Literatur der (westdeutschen) Gegenwart war im Handel nicht so frei erhältlich. Trotzdem frage ich mich, ob es darüber hinaus Gründe gab, genau auf diese Geschichte sich zu berufen.

MW: Ich habe übrigens noch Faktoiden für die koloniale Deutung: Soweit ich weiß, ist in der erdrückenden Mehrzahl der Ost-West-Ehen seit der Wende der Mann aus dem Westen und die Frau aus dem Osten. Und ich habe kürzlich bei den »Zeitfragen« auf DLF Kultur eine Diskussion über 25 Jahre Deutschlandradio gehört, in der u.a. Auszüge aus Befragungen von und mit Schülerinnen Ost- und Westberliner Schulen 1992 eingespielt wurden. Ich fand weniger die Inhalte bemerkenswert (Ossis dumm und faul, Wessis arrogant) als die Sprechweise – die Westberliner bemühen sich hörbar, unberlinisch, hochdeutsch-norddeutsch, schnöselig, erwachsen zu sprechen; die Ostberliner sprechen schweren Dialekt und hören sich viel jugendlicher an. Mag Zufall sein, wäre schade.

PN: Die rechten Wahlergebnisse zeigen jedenfalls Kontinuitäten bis zurück vor 1945. Im Osten wie im Westen.

(Der abschließende Teil 3 folgt voraussichtlich am 31. August.)

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Critical Westdeutschness – Teil 1 von 3: Der westdeutscheste Mensch

Dieses Gespräch haben Matthias Warkus (geboren 1981 in der Pfalz) und Peter Neumann (geboren 1987 in Mecklenburg) zwischen dem 4. Dezember 2018 und dem 13. April 2019 schriftlich geführt. Vorher hatten sie festgelegt: Es sollte ein Gespräch, kein Interview werden; und das Gespräch sollte ganz kathrinpassigmäßig asynchron und online verlaufen, damit sie aufkommende Themen, Links usw. beliebig recherchieren konnten. Peter Neumann ist Lyriker, Schriftsteller und Philosoph; er lebt in Berlin, arbeitet in Oldenburg und hat zuletzt im Siedler-Verlag Jena 1800. Die Republik der freien Geister veröffentlicht.

Teil I: Der westdeutscheste Mensch

Peter Neumann: Du hast einmal zu mir gesagt, du seist der westdeutscheste Mensch, den man sich vorstellen könne. Ich weiß nicht, ob ein Ostdeutscher das gleiche von sich behaupten könnte, weil überhaupt nicht klar wäre, auf welchen Zeit- bzw. Erfahrungsraum er sich damit bezieht. Es gab ja sehr unterschiedliche Weisen, in und mit dem Staat DDR zu leben. Und das gilt erst recht, seit dieser eine deutsche Staat nicht mehr existiert. Davon abgesehen: Ich kann schon mit der Kategorie ›Ostdeutschland‹ kaum etwas anfangen. Je mehr man über ›Ostdeutschland‹ liest, desto mehr bekommt man den Eindruck, es handelte sich tatsächlich um ein richtiges Land. Also: Was macht dich zum Westdeutschen par exellence?

Matthias Warkus: Da gibt es mehrere Punkte, die aber alle miteinander zusammenhängen. Ich komme aus einer Mittelschichtfamilie, ich bin das Kind zweier Bildungsaufsteiger, ich bin in einem Einfamilienhaus aufgewachsen, bei uns gab es schon im Kindergarten Kinder aus aller Herren Länder, obwohl ich aus der krassesten pfälzischen Provinz komme. Dass »alle« getauft sind und dass es einen irgendwie wichtigen Unterschied zwischen Katholiken und Evangelischen gibt (»protestantisch« sagt man bei uns nicht), war selbstverständlich, ich war auch in einem kirchlichen Kindergarten. Meine Mutter hat immer nur in Teilzeit gearbeitet, der erste Freund meiner Schwester war ein Pfarrerssohn. Das alles links des Rheins, nahe an der Westgrenze, mit starker Präsenz des (west-)deutschen, amerikanischen und früher auch französischen Militärs. Ich weiß genau, wo ich am 28. August 1988 war. Ich hatte eine Großtante in der DDR und Angst vor dem Atomkrieg. Und das alles war überlagert von einer (bis weit in meine Zwanziger hinein) völlig unerschütterlichen Überzeugung davon, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die soziale Marktwirtschaft so etwas sind wie das Ende der Geschichte.

PN: Dass du vom ›Ende der Geschichte‹ sprichst, finde ich bezeichnend: Denn wenn man eines mit Sicherheit über die 80er, also die späten Jahre der DDR sagen kann, dann, dass die Geschichte wieder ins Rollen kam, nicht nur in der DDR, im gesamten Ostblock, ganz prominent ja auch in Polen.

MW: Interessant, dass du Polen erwähnst. Ich denke mir die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1980 immer als den Punkt, ab dem endgültig klar gewesen sein muss, dass der Ostblock keine Zukunft mehr hatte.

PN: Auch der Letzte hatte begriffen, dass es politisch, ökonomisch, gesellschaftlich so nicht weitergehen konnte. Ich stelle mir die 80er Jahre immer als einen riesigen Gärballon vor. Und als dann die Menschen auf die Straße gingen, die Ausreisebewegungen über Ungarn und die Tschechoslowakei einsetzten, selbst da gab es kein klar definiertes Ziel, es ging vielmehr um eine Form der Selbstermächtigung: Geschichte sollte wieder verhandelbar werden. Manchmal kommt es mir vor, als wäre der Westen erst durch Schröder und die Agenda 2010 aus seinem altbundesrepublikanischen Schlummer erwacht, als klar wurde, dass die soziale Marktwirtschaft, der rheinische Kapitalismus, nicht das Ende der Geschichte ist. Und trotzdem ist immer noch etwas von dieser unerschütterlichen Sorglosigkeit zu spüren, dass alles gut werde, solange man sich an die bewährten, die altbekannten Erfahrungsmuster hält. Wo warst du denn am 28. August 1988? Ich muss zugeben, ich musste das Datum googeln und bin dann auf YouTube hängengeblieben. Das »Durchstoßene Herz«, als wäre es eine schlechte Headline, geradezu boulevardesk.

MW: Ich war bei einer Familienfeier bei meinem Onkel in der Vorderpfalz.

PN: Und wie hat euch die Nachricht erreicht?

MW: Ich weiß nicht mehr genau, wo die Nachricht ursprünglich herkam, aber mein Cousin erzählte auf einmal, da sei ein Unglück passiert mit irgendwelchen Raketen, er hielt die Flugzeuge für Raketen. Die Tragweite habe ich als Kind nie verstanden, sie ist mir erst nachträglich klargeworden. In Ramstein bin ich öfters gewesen, ich hatte manchmal außer der Reihe dort Klavierunterricht, in einer Schule mit unfassbar breiten Fluren, die Teppichboden hatten. Teppichboden! – Rammstein nehme ich ihren Namen übrigens bis heute erheblich übel, ich glaube, da geht es noch vielen anderen aus unserer Gegend so.

PN: Was dem Westen sein Teppich, war dem Osten sein Linoleum. Eigentlich wollten wir uns ja nicht über Stereotypen, Vorurteile unterhalten, aber anscheinend folgen Gespräche wie dieses einem eingeschriebenen kulturellen Code, bei dem bestimmte Marker zwangsläufig auftauchen müssen. Der Teppich ist ein großartiges Symbol für die alte BRD: irgendwie dumpf, irgendwie flauschig. Das einzige Mal, dass ich diesen markanten stechenden Geruch des DDR-Linoleums wahrgenommen habe, war im Schuhmuseum im Schloss Augustusburg in Weißenfels. Da gab es zumindest vor einiger Zeit noch eine Schuh-Ausstellung zu besichtigen, die original aus der DDR stammte, samt Bodenbelag.

MW: Bodenbeläge und charakteristische Putzmittelgerüche sind einfach etwas Atmosphärisches, was auf merkwürdige Weise regional und national abweicht, ohne dass es müsste. Frankreich hat z.B. eine ganz bestimmte Art, nach Putzmittel zu riechen. Im Treppenhaus zur alten Wohnung meiner Frau roch es wie in einer Kirche, vermutlich, weil auch dort Naturstein mit irgendetwas Traditionellem poliert wurde.

PN: Du hast vorhin gesagt, du hättest erst mit etwas Mitte Zwanzig deine unerschütterliche Überzeugung an deine Westsozialisierung verloren. Gab es dafür einen konkreten Auslöser, oder ging es darum, dass man ab einem bestimmten Alter beginnt, sich selbst historisch zu werden, Dinge noch einmal auf ganz andere Weise zu hinterfragen?

MW: Die Überzeugung ist eigentlich immer noch ziemlich stark, ich bin ja ein Mesoebenen- und Institutionen-Spezi und finde, dass vieles am deutschen Staats- und Gemeinwesen gar nicht so schlecht geregelt ist. Aber in den Nullerjahren bin ich auf Umwegen immer wieder mit linker Theorie in Berührung gekommen, hauptsächlich über Mensaflyer und Blogs mehr oder minder antideutscher Gruppen. Mein erster antideutscher Flyer 2003 hat sich mir bis heute eingeprägt: Es ging um die Proteste gegen den Irakkrieg. Joschka Fischer war für die Gruppe, die da schrieb, jemand, der den Holocaust vollenden wollte, weil er gegen den Irakkrieg war. Hannes Wader war jemand, der den globalen Atomkrieg herbeisehnte. Da wurde alles auf den Kopf gestellt oder auf die Füße oder worauf auch immer. Aber die Agenda 2010, das nur fürs Protokoll, hat mich nicht erschüttert. Ich habe meinen Zivildienst auf dem Sozialamt gemacht und hatte da von Anfang an einen differenzierten Blick. Witzigerweise habe ich indirekt für die Agenda gestimmt – ich habe auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Cottbus damals die Hand für den Leitantrag gehoben. Überrascht dich denn irgendetwas an meiner Schilderung oder ist das alles so, wie man sich das vorstellt? Und ist das so, weil Westdeutschsein halt irgendwie die langweilige, aber komfortable und akzeptierte Normalform des Deutschseins ist?

PN: Mich überrascht, wie deutlich die Gegensätze hervortreten: Ich könnte nicht von mir behaupten, dass ich mit einem großen Vertrauen in das deutsche Staats- und Gemeinwesen, in die Art, wie die Dinge in Deutschland laufen, groß geworden wäre. Das gab immer ein großes Unbehagen. Als ich 2015 auf der großen Gegendemonstration in Leipzig zum ersten Mal die Pegida-Slogans wahrgenommen habe, dachte ich: Den Sprech kennst du, und zwar aus der frühesten Kindheit, aus den 90er-Jahren, vielleicht nicht so sehr aus meiner Familie, aber aus meinem erweiterten Bekanntenkreis, als Stimmung in der Stadt, die vielleicht irgendwann einmal auf irgendetwas stolz war, Kinder bekam, aber aus gewissen Gründen dies in jüngster Vergangenheit besser sein ließ. Da liefen alle mit einer gebrochenen Biografie herum. Die geschlossene Erzählung, die gab es nicht. Insofern war ich erstaunt, als ich mitbekam, dass es im Westen so etwas wie ungebrochenes Deutschsein gibt, eine ungeteilte Identität, die sich noch nicht einmal als glückliche Ausnahme versteht, denn dann wäre sie ja wieder gebrochen, sondern als unausgesprochene Prämisse geschichtlicher Deutungshoheit. Was: Deine Mutter hat bloß in Teilzeit gearbeitet? Bei uns haben alle Mütter in Vollzeit gearbeitet, zu Hause blieben nur die, die keine Arbeit hatten. Was: Du bist in einen kirchlichen Kindergarten gegangen? Zum ersten Mal ernsthaft über Religion nachgedacht habe ich im Philosophieunterricht. Was: Es gab eine starker Präsenz alliierten Militärs? Die Kaserne, in der mein Vater gedient hat, war ein ehemaliges sowjetisches Speziallager und früheres Kriegsgefangenenlager, heute sind dort Geflüchtete untergebracht. Mich verblüfft die gnadenlose Selbstverständlichkeit, mit der Westdeutschsein zum Maßstab geschichtlicher Erfahrungen im gesamtdeutschen Kontext erhoben wird. Eine Art »Rhenish Supremacy«. Siehe dazu jüngst Sophie Passmann. 

MW: Emblematisch ist hier bestimmt auch, dass die erste (und lange einzige) Demonstration, von der ich so ein bisschen was live mitbekam, mit dem Einverständnis unserer Lehrer und unserer Schulleitung stattfand (es ging um irgendeine Bildungsreform, was sonst, langweilige landespolitische Sauce). Also sogar im Auf-die-Straße-Gehen herrschte irgendwie Ordnung und Zuversicht. Die gebrochenen Biografien gab es natürlich auch im Westen. Aber man konnte sie eben wegschieben, ich habe beim Sozialamt daran ja richtig tatkräftig mitgewirkt. Der Pultnachbar meines Vaters im Orchesterverein war ganz überrascht, als er erfuhr, dass es in unserer Gemeinde gar nicht so wenige Asylbewerber gab – na klar, die waren ja auch alle sorgsam in angemieteten Wohnungen untergebracht, und wenn es Stress gab, weil eine unserer »Kundinnen«, der etwas zu erklären sich nie jemand die Mühe gemacht hatte, den Putzeimer aufs Laminat leerte und den Boden ruinierte, gab es vom Amt halt Geld und beruhigende Worte für den Vermieter. Man sah nichts davon. Irgendwann (ich glaube, sogar noch vor 2015) haben sie aus der vor kurzem geschlossenen Bundeswehrkaserne eine Erstaufnahmeeinrichtung gemacht, spätestens da war dann alles sichtbar. Meine Eltern waren natürlich beide irgendwie in Flüchtlingshilfe involviert oder sind es heute noch.
Das hegemoniale Westdeutschsein ist eben auch nach innen hegemonial, es grenzt sich ja nicht nur gegen den Osten ab, sondern auch gegen die eigenen Merkwürdigen. Es gibt da sozusagen auch intersektionale Phänomene – wie westdeutsch ist Berlin-Mitte? Aber eine Leitdifferenz ist, dass gebrochene Biografien sich eben als Ausnahme verstehen. Deutschsein als Westdeutschsein (und das prägt sich ganz sicher bei Sophie Passmann in seiner höchsten Form aus) bedeutet vor allem erst einmal: keine Brüche, keine Uneindeutigkeiten. Das muss gar nicht einmal Spießertum im klassischen Sinne (oder in seiner Berliner Neo-Form) bedeuten. Es ist kein Zufall, dass das zutiefst westdeutsche, universell gestellte »Wir« zum Beispiel konstituiert wird, indem Gustav Seibt »So ist es gewesen« zu einem Buch sagt, das wie selbstverständlich vom Leser erwartet, dass er sich mit einer rheinländischen Reihenhausjugend identifizieren kann. Das »Wir« sind die Einfamilienhausmenschen – die z.B. wissen, was es heißt, »einen gemischten Kasten« aus dem Getränkemarkt mitzubringen, und die glauben, dass es etwas bedeutet, das zu wissen. Das »Wir« sind Leute wie ich und nicht Leute wie du, das ist ganz hart. Ich frage mich: Wie viel am Westdeutschsein ist einfach bräsiger Wohlstand? Kann man noch richtig westdeutsch sein, wenn man arm ist? Oder ist es kultureller, als man meint? Und wenn ja, wie? (Ich muss gerade an Bodentiefe Fenster denken und an das neue Buch von Anke Stelling, wo es ja anscheinend auch irgendwie wieder um Wohnen und Küchenfußböden geht, und über das die Kritik angemerkt hat, dass da doch irgendwie »Marzahn« als Sinnbild alles Fremden aufgebaut wird.)

PN: Der bräsige Wohlstand hat natürlich auch in den neuen Bundesländern Einzug gehalten. Ich kenne auch das Einfamilienhaus-Wir, die Bildungsaufsteiger, die Hecken, Zäune und Vorgärten, das große »Man macht das halt so«. Aber der Unterschied ist vermutlich, dass die Ausnahmen vom Wir immer noch Teil der Gesamterzählung sind. Selbst diejenigen, die sich nach 1990 ganz gut zurecht fanden, haben ein Bewusstsein dafür, dass es auch hätte anders kommen können. Insofern halte ich das Westdeutschsein tatsächlich zunächst einmal für ein kulturelles Phänomen, eine Frage der Sozialisation. Was nicht heißt, dass ökonomische Fragen, Fragen der gleichen Bezahlung, Fragen der Infrastruktur eine geringere Rolle spielten.

MW: Ganz direkt: Hast du im Hochschulbetrieb, im Literaturbetrieb, sonstwo das Gefühl, Anpassungsleistungen erbringen zu müssen, weil du nicht westdeutsch bist?

PN: Ich habe nicht das Gefühl gehabt, besondere Anpassungsleistungen erbringen zu müssen, auch wenn ich gerade im akademischen Kontext westdeutsche Habitus immer sehr bewusst wahrgenommen habe. Aber ich kenne viele Kommiliton*innen, Kolleg*innen, denen es damit anders geht. Was ich im Literaturbetrieb beobachte: Es gibt eine Verengung der Lesart: Wenn ich über ländlichen Gegenden in den neuen Bundesländern schreibe, weil mich der ländliche Raum, die latente, soziale Gewalt der Provinz eben interessiert, dann gilt man gleich als »Exponent einer wie auch immer beschaffenen ostdeutschen Nach-DDR-Literatur«. Und wenn man ein Buch über »Jena 1800« schreibt, dann kommt früher oder später die Frage nach »Chemnitz 2018«, als wäre Jena um 1800 ›ostdeutsche‹ Provinz. Dann frage ich zurück: Wie war es denn in Tübingen um 1800, im Evangelischen Stift, wie war es an der Karlsschule in Stuttgart? Es gibt einen blinden Fleck in der westdeutschen Geschichtsbetrachtung.

MW: Dergestalt, dass »Ostdeutschland« auch historisch gar nicht mehr anders als als »zukünftige ehemalige DDR« gesehen wird? Oder wie meinst du das?

PN: Ja, und der blinde Fleck der westdeutschen Geschichtsbetrachtung wird insbesondere dann sichtbar, wenn man die Blickrichtung einmal umkehrt: Dann ist auch »Westdeutschland« nichts anderes als eine »zukünftige ehemalige BRD«. Also ziemlich öde.

MW: Würdest du meine These unterschreiben, dass der westdeutsche gefärbte Blick auf Ostdeutschland (oder das Konstrukt davon) nicht davon zu trennen ist, wie (West-)Deutschland allgemein auf Unterschiede zwischen Stadt und Provinz blickt? »Ostdeutschland« wird immer rein auf Provinz reduziert, die Städte werden von vornherein ausgeklammert (Berlin, Leipzig, in geringem Maße auch Jena) oder auf provinzielle Aspekte (Nazidemos, Tristesse, leerstehende Plattenbauten) reduziert. Ein vollwertiges ostdeutsches urbanes Leben wird gar nicht anerkannt. Der Ostdeutsche an sich ist ein Dorfbewohner oder ein Insasse prononciert anti-urbaner (also im heutigen Sinne: bioladen- und cocktailbarloser, von Kettenläden geprägter) städtischer Siedlungen. Komisch auch, dass man sich den Ostdeutschen immer als Plattenbaubewohner vorstellt, während man die Gegenden, in denen er wohnt, jahrzehntelang als ein Eldorado von Altbauten betrachtet hat. Fast so, als sei es das Vorrecht der aus dem Westen Zugezogenen, in die Altbauten zu ziehen – vergleiche wieder »Marzahn« als Chiffre für das Andersartige bei Stelling, die 1991 von Stuttgart nach Berlin gezogen ist und Leipzig als Provinz betrachtet. Entsprechend wird ja auch Lukas Rietzschels Lausitz-Jugendroman »Mit der Faust in die Welt schlagen« als große Ostdeutschlanderklärung gelesen, obwohl es hauptsächlich eben ein Buch über Jungen in der Provinz ist. Weil Provinz halt irgendwie quintessenziell ostdeutsch ist. Wobei interessanterweise westdeutsch sein auch heißt, auf eine bestimmte Weise prononciert, zumindest von der Herkunft her kein Großstadtmensch zu sein. Hegemoniale Westdeutschheit ist auch provinziell markiert, allerdings eher mittelstädtisch als dörflich. Richtige Metropolen zu bewohnen ist vielleicht überhaupt nicht mit den etablierten Schablonen des hundertprozentigen Deutschseins zu vereinbaren.

PN: ›Provinz‹ meint zunächst einmal gar keine bestimmte Landschaft, schon gar keine eindeutig lokalisierbare Gegend, sondern eine spezifische Denk- und Lebensform, der man dann dieses oder jenes Etikett verpasst, zumeist natürlich negativ (rückständig, engstirnig, spießig). Ich will nicht bestreiten, dass es zwischen dem ländlichen Raum und spezifischen Provinzphänomenen (»Isso!«) starke Korrelationen gibt, das aber kurzzuschließen und damit einmal mehr den Gegensatz zwischen prononciert-aufgeklärtem Stadtleben und dumpf-zurückgebliebener Provinzexistenz zu zementieren, der im Grunde überhaupt kein Gegensatz ist, widerstrebt mir nicht nur, es widerspricht auch meinen Erfahrungen, die ich in und mit der Provinz gemacht habe. Provinz, das ist auch Geduld, Konzentration, Liebe zum Detail, gerade auf dem Land, aber nicht nur. Und jetzt kommt zu dem schiefen Gegensatz von Stadt und Provinz auch noch der schiefe Gegensatz zwischen West und Ost hinzu, und man braucht nur mit der Bahn am Rhein entlang zu fahren, um genau jenes Gefühl dumpfer Beklemmung zu bekommen, das vielfach mit der Provinz und dem Leben in neuen Bundesländern, in »Dunkeldeutschland« assoziiert wird. Am Rhein ist es stockfinster. Frank Witzel und Philipp Felsch haben das mit »BRD Noir« auf den Begriff gebracht: Wer heute in die alten Bundesländer reist, wird den Eindruck nicht los, in eine von der Geschichte abgehängte Provinz zu kommen, in eine Wostalgieblase. Und wenn dann, wie du sagst, »Ostdeutschland« auf Provinz reduziert wird, als gäbe es das im Westen nicht auch, als hätte es das nicht immer schon gegeben, als gäbe es nicht auch Städte wie Hildesheim, Pforzheim, Fulda, die eine echte Herausforderung darstellen, wenn man dort, aus welchen Gründen auch immer, ›heimisch‹ werden möchte, dann drückt sich darin ein sehr altes Verständnis von Provinzialität aus, womit wir endlich zu dem Vorrecht der Zugezogenen und den herrlichen Altbauvierteln in Leipzig und Berlin kommen: die (römische) Provinz als erobertes und beherrschtes Gebiet.
Und spätestens an dieser Stelle wird dann deutlich, dass es bei »Rhenish Supremacy« nicht um bloße Vorurteile in die eine oder andere Richtung geht, sondern um reale Macht- und Herrschaftsfragen. Natürlich: Es gibt auch den kritischen Blick auf die westdeutsche Provinz, gerade in der Literatur: Jan Brandt, Georg Klein, Frank Witzel. Nur sind das eben Ausnahmen. Und es kommt neben der von Dir schon benannten Übergriffigkeit eines ›So ist es gewesen‹, auch vielfach zu einer Verklärung eben jener westdeutschen Landstriche. (Wo steckt die Hausfrau bloß?) Florian Illies, der aus Schlitz bei Fulda stammt, ist da vielleicht das beste Beispiel: Man braucht nur Ortsgespräche (2006) aufzuschlagen und die witzig gemeinte Überschrift des 1. Kapitels zu lesen: »Geschlossene Ortschaft. In welchem erzählt wird, wie Tante Do die Marilyn Monroe der Schlitzerländer wurde und wie dieses gallische Dorf erst dem Kaiser, dann den Russen und den Amerikanern und schließlich auch der Moderne widerstand. Und wie es fast gelungen wäre, den Siegeszug der Eisenbahn und des Autos zu verhindern. Nebst einem Lobgesang auf Arschbomben, dreistellige Telefonnummern, Schnauzer und den Sirenenalarm samstags um zwölf«. Oh, Sirenengesang!

MW: Ha, Sirenenalarm. Ich bin ja unter Tieffliegern groß geworden. Ich weine den Sirenen keine Träne nach! Als Kind war mir schon irgendwie klar, dass Tiefflieger und Sirenenalarm irgendetwas miteinander zu tun hat, furchtbare Angst hatte ich vor beidem. – Wir können also festhalten, dass wir es mit mehreren Unterscheidungsachsen zu tun haben, nämlich Stadt–Land, Provinz–Metropole, gut–schlecht, normal–unnormal, Ost–West, die eben meistens gleichgesetzt werden, nur nicht immer – indem zum Beispiel die westdeutsche Provinz, wiederum reduziert auf Klischees von Mittelschichtwohlstand und tief in den 50ern verwurzelter Ordentlichbürgerlichkeit, eben als paradigmatisch gesehen wird. Das verbaut dann auch den Blick auf die spezifisch westdeutschen Probleme – neben der Schwierigkeit, sich in Hildesheim, Pforzheim, Fulda niederzulassen, fällt mir da die spezifische ästhetische Kaputtheit vieler westdeutscher Dörfer ein, die dadurch gekennzeichnet sind, dass bis in die 80er hinein von privater Seite unfassbar geschmacklos gebaut und renoviert wurde, während die Gemeinden sich durch überdimensionierte Bürgerhäuser, Schulzentren und allerlei Waschbetonaccessoires hervortaten.

(Teil 2 folgt voraussichtlich am 29. August. Zum Ausdruck »Critical (West-)Deutschness« vgl. auch den Beitrag von Julia Schramm in diesem Sammelband.)

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Die Freiheit, Last und Unmöglichkeit „Ich” zu sagen – Ein Gespräch über das Schreiben zwischen Identitätsdiskursen und Buchmarkt

Ein Beitrag von Asal Dardan, Berit Glanz und Simon Sahner

Im Frühjahr 2014 startete Florian Kessler mit dem Vorabdruck eines Anthologie-Beitrags eine Debatte in der ZEIT, in der er die Zusammensetzung der Studierendenschaft an der noch jungen Schreibschule in Hildesheim und an dem bereits 1955 gegründeten Literaturinstitut in Leipzig kritisierte und die Studierenden demselben saturierten Milieu” zuordnete. Auch wenn Kessler selbst mittlerweile etwas zurückgerudert ist und seine Thesen als hölzerne Polemik” bezeichnet, so hat die als Arztsohn-Debatte bekannt gewordene Diskussion doch einigen Nachhall erzeugt, stellt sie doch konkrete Fragen nach der Diversität der Autor*innen an Schreibschulen, die als Nachwuchs wesentlich die Gegenwartsliteratur beeinflussen. Eben diese Diversitätsfrage brannte im Juli 2017 wieder auf, als zunächst am Hildesheimer Institut und anschließend  in Beiträgen auf dem Blog der Zeitschrift Merkur eine Debatte zu Sexismus an Schreibschulen begann, die in den sozialen Medien mit dem Hashtag #WriteWhatWeKnow versehen wurde. Anhand dieses Schreibschulmantras, das in zahlreichen Schreibratgebern und Leitfäden eine zentrale Position einnimmt und dementsprechend intensiv diskutiert wird, wollen wir uns zu dritt darüber austauschen, was das Paradigma, nur darüber zu schreiben, was man kennt, für Schreibende bedeutet und welche Auswirkungen es auf Literatur und Buchmarkt hat. Wir haben uns entschieden, dieses Thema als Dialog zu bearbeiten, weil wir uns sicher sind, dass auch Fragestellungen, die eine Meta-Ebene der Literatur- und Literaturbetriebskritik betreffen, am besten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Gerade der Austausch untereinander hat erheblich zur Schärfung unserer eigenen Überlegungen beigetragen.

BERIT:
Das Verhältnis der Autor*innenbiographie zu den produzierten literarischen Texten ist im Jahr Zehn nach Knausgaard in aller Munde. Besonders in den identitätspolitisch aufgeheizten Debatten der letzten Monate müssen auch Schreibende es sich gefallen lassen, dass literarische Texte in ein Verhältnis zu ihrer Identität gesetzt werden. Dieses Verhältnis wurde in der Arztsohn-Debatte bereits implizit mitgedacht, könnte man doch auf Kesslers Feststellung eines saturierten Herkunftsmilieus der Schreibschüler*innen auch entgegnen, dass nicht nur die individuelle Identität der Schreibenden, sondern auch das Konzept eines Autors Konstrukte sind, die nicht notwendigerweise Einfluss auf die Rezeption eines Textes haben sollten. Dieser Konflikt zwischen einem identitätsorientierten und einem konstruktivistischen Zugang zu literarischen Texten wurde erst kürzlich im New Yorker diskutiert:

If it is a game, then, does it really matter who wrote it? The old literature-professor response was that authorship, like identity, is a construction, and so it doesn’t. The response of what Miller calls “the new identitarians” is that we should not accept representations of experiences that the author could not have known, and so it does. Both arguments are provocations. They should get us thinking about what we mean by things like authenticity and identity.”
(Louis Menand: Literary Hoaxes and the Ethics of Authorship.” New Yorker, 10.12.2018)

Das Schlachtfeld von Identität, Wirklichkeit, Narration, Rezeption, Authentizität, Wahrheit und dem narrativen Eigentumsrecht von Individuen und Gruppen verdient es also näher betrachtet zu werden, möchte man nicht bei einem schlichten write what you know” verharren.  

SIMON:
Es zeigt sich vor allem deutlich, dass – unabhängig von dem Grund, aus dem eine Person sich selbst oder einen Teil ihrer Identität zum literarischen Thema macht – ein gesteigertes Interesse an vermeintlich authentischen Geschichten besteht und dass es sich bei dem Wunsch nach Authentizität offenbar um ein aktuelles Paradigma des deutschsprachigen Literaturbetriebs handelt, das sich auch in einigen anderen Ländern deutlich wiederfindet. Nicht allein das Phänomen Knausgaard, der offensichtlich autofiktional schreibt – der Untertitel der deutschen Ausgabe Das autobiographische Projekt suggeriert gar eine autobiographische Lesart – sondern auch der große Erfolg, den Elena Ferrante mit ihren Romanen in den USA und Europa erfahren hat, sind ein Beispiel dafür, dass der Wunsch nach Erzählungen, die in Bezug zu ihrem*r Verfasser*in stehen, sehr groß ist. Das zeigt sich gerade bei Romanen wie denen von Ferrante, die anders als die Werke von Knausgaard nicht ganz so offensichtlich eine autofiktionale Lektüre forcieren. Doch obwohl es sich hier deutlicher um einen Roman, einen also per Definition fiktionalen Text handelt, wurde schnell die Vermutung angestellt, es handele sich um die Geschichte der Autorin, was auch damit zusammenhing, dass durch Verschleierung ihrer Identität ein großes Augenmerk auf die Identität der Verfasserin selbst gelegt wurde. Um ein letztes Beispiel zu nennen: auch der Umgang mit dem Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen von Lukas Rietzschel, der im Zuge der Marketingkampagne des Verlags in ein direktes Verhältnis zu seinem Roman gestellt und zum vermeintlichen Experten in der Frage zur Entstehung und Verbreitung rassistischen und neo-nazistischen Gedankenguts in den neuen Bundesländern erklärt wurde, weist auf ein Bedürfnis hin, den literarischen Text durch die Brille der Autor*innenidentität wahrzunehmen. Dieses erkennbare Suchen nach autobiographischen Hintergründen von an sich fiktionalen Texten, wird einerseits vom Literaturbetrieb dankend als Möglichkeit zur Aufmerksamkeitserzeugung aufgegriffen, und andererseits befeuert es das Entstehen von Texten, die eine solche Lesart ermöglichen.

 

Die Freiheit, Ich” zu sagen

In those days, in the late 1970s, nearly all of the children’s literature that was available in Moroccan bookstores was still in French. The characters’ names, their homes, their cities, their lives were wholly different from my own, and yet, because of my constant exposure to them, they had grown utterly familiar. These images invaded my imaginary world to such an extent that I never thought they came from an alien place. Over time, the fantasy in the books came to define normalcy, while my own reality somehow seemed foreign. Like my country, my imagination had been colonized.”
(Laila Lalami: So To Speak, World Literature Today, September 2009)

BERIT:
Diese von Simon angesprochene aktuelle häufig anzutreffende Rezeption von Romanen mit übergroßem Fokus auf die Verfasser*innen zieht einige Fragen nach sich. Im Spannungsfeld aktueller identitätspolitischer Debatten wird oft über das Eigentumsrecht von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen an ihrer Geschichte gesprochen, hierbei geht es vor allem darum, welches Recht Schreibende haben eine Geschichte zu erzählen. Darf beispielsweise ein deutscher Autor eine Geschichte aus der Perspektive einer syrischen Geflüchteten erzählen? Mit welchem Recht können Autor*innen die traumatischen Erlebnisse bestimmter Gesellschaftsgruppen aufgreifen und fiktional verarbeiten? In der Vergangenheit gab zu diesem Problemfeld einer möglichen narrativen Enteignung einige große Skandale. Johannes Franzen schreibt dazu:

Auch die fiktionale Verarbeitung bestimmter Stoffe unterliegt also einem Autorisierungsgebot, das nur durch biographische Betroffenheit erfüllt werden kann.”
(Johannes Franzen:
Indiskrete Fiktionen. S. 333)

Dieses Eigentumsrecht lässt sich insofern um die Forderung erweitern, dass Gruppen von Menschen, die bisher im Literaturbetrieb kaum eine Chance dazu bekamen, ihre Geschichten selbst erzählen sollten. Obwohl einige Autor*innen mit dem Verweis auf die Freiheit der Fiktion das Argument vertreten, dass beispielsweise auch ein weißer männlicher Autor aus der Perspektive einer jungen schwarzen Frau schreiben darf, denke ich, dass es ein starkes Argument dafür gibt, eine Vielfalt an Stimmen direkt zu Wort kommen zu lassen. Das Recht auch literarisch Ich” zu sagen, das Recht auf Nabelschau und auf Thematisierung der subjektiven Identität wurde ja in einem Literaturbetrieb, der lange wesentlich die Texte weißer Männer veröffentlichte und kanonisierte, großen Gesellschaftsgruppen vorenthalten.

SIMON:
Das spricht einen wichtigen Punkt an. Es geht in dieser Frage ja nicht darum, dass alle Ich” sagen, sondern darum, dass Menschen, die Gruppen angehören, die bisher wenig bis gar nicht literarisch zu Wort kamen, ihrer eigenen Geschichte eine Stimme geben. Niemand wird fordern, dass der sogenannte alte weiße Mann endlich seine Geschichte aufschreibt. Im Gegenteil, die Forderung, dass bisher kaum vernehmbare Stimmen mit ihren Erzählungen Ich” schreiben, impliziert auch eine Absage an das Ich” der weißen Männer. Ebenso ist das vermeintliche Verbot, die Perspektive anderer einzunehmen, auch – zurecht – kein ausgeglichenes. Aus dem Blickwinkel einer anderer Person zu schreiben, ist immer eine Machtgeste. Man eignet sich die Gedanken, Emotionen und die Sprache eines anderen Menschen an und äußert gleichzeitig, dass man in der Lage sei, diese adäquat wiederzugeben. Mit Blick auf die Vergangenheit ist eine solche Machtgeste eines weißen Mannes gegenüber eines Menschen, aus einer gesellschaftlich weniger privilegierten Gruppe, problematisch. Aus einer ethischen Perspektive werden damit gerade weißen Männern, also auch mir, berechtigterweise Möglichkeiten des fiktionalen Erzählens genommen – das Spektrum möglicher Geschichten aus der Feder weißer Männer wird kleiner.

ASAL:
Das Spektrum wird in der Tat kleiner, weil nun alle, also auch die weiße, männliche Stimme, die bisher als Autorität für fast alles gelten konnte, auf sich selbst und ihre Limitationen zurückgeführt werden. Das ist verständlicherweise ein schmerzlicher Prozess für den Einzelnen. Doch den Schmerz, nicht immer und überall Gehör zu finden, nicht zu jedem Thema sprechen zu dürfen oder auf das reduziert zu werden, was man ist, den kennen bisher marginalisierte Menschen nur zu gut. Nun teilen wir diesen Schmerz – das ist auch eine Geschichte, die man erzählen kann.

Niemand braucht ein Sprachrohr, stattdessen bedarf es Zugang zu einem Publikum, das hören und lesen möchte. Aber diese Geschichten müssen von jenen, deren Stimmen bisher keinen Raum fanden, auch erst einmal entdeckt werden. Sie müssen ihr eigenes Vokabular finden, neue Bilder entwerfen, andere literarische Wege einschlagen. Das Ich” findet nämlich nicht nur Ausdruck in neuen Geschichten, es muss sich eine ganze Sprache zu Eigen machen und sich von den bestehenden Narrativen befreien. Meine Geschichte lässt sich nicht erzählen wie die von Wolfgang Herrndorf, ebenso wie meine Geschichten sich nicht wie seine anhören werden. Das ist eine immense Herausforderung für die Schreibenden, ebenso wie für den Literaturbetrieb und die Leserschaft, die sich öffnen und umgewöhnen müssen. Sucht der Literaturbetrieb jedoch nur Menschen, die bestimmte neue Kriterien erfüllen, sich aber in die tradierten Marketingmuster und den etablierten Habitus drängen lassen, dann haben wir vielleicht etwas mehr Abwechslung bei den Identitätsentwürfen, aber eine Veränderung der Machtverhältnisse findet damit noch lange nicht statt. Der Markt verleibt sich ja nur zu gern Neues ein, reduziert dabei aber die Komplexität von Themen und Lebenswelten. Diese Gefahr sehe ich derzeit bei all den Büchern, die zu stark auf die Person und Biografie der Autor*innen zurückgeführt werden. Das kann man den Schreibenden nur selten vorwerfen, sie wollen schreiben, sie wollen gehört werden und sie wollen vor allem auch von etwas leben. Die Frage ist, wie viele von ihnen veröffentlicht und gelesen würden, wenn sie sich stärker widersetzten und versuchten, über etwas zu schreiben, das nicht auf den ersten Blick in ihren Gesichtern, Körpern und Biografien abgelesen werden kann.

 

Die Last, Ich” sagen zu müssen

Ein Schriftsteller, der über Dinge schreibt, die er nicht kennt, ist wie ein Stierkämpfer, der die Bewegungen macht, ohne daß ein Stier da ist.”
(William S. Burroughs über Jack Kerouac, zitiert nach Jörg Fauser: „Die Legende des Duluoz.” In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959 – 1987, Berlin 2014, S. 391)

BERIT:
Als Saša Stanišić 2014 seinen Roman Vor dem Fest veröffentlichte, wurde er von Maxim Biller in der ZEIT für seinen antibiografischen Themenwechsel” kritisiert. Am 31. Mai 2016 begründete Biller in der taz seine Kritik folgenderweise:

Weil er keine Ahnung von der Uckermark hat – und wenn, dann nur wie ein Tourist, wie ein siebengescheiter Reiseschriftsteller. Er war natürlich richtig sauer auf mich. Es gibt immer wieder Menschen, die nach Deutschland kommen, und die wollen dann unbedingt dazugehören. Aber wenn sie älter werden, werden sie schon merken, dass das nicht funktioniert. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, versuchen sie sozusagen ihre Gesichter weiß zu malen.”

Ich frage mich jedoch inzwischen, ob sich aus diesem Recht an der eigenen Geschichte umgekehrt auch eine Verpflichtung auf das Erzählen eben dieser Geschichten ableitet. Wenn Maxim Biller seine Kritik an Saša Stanišićs Uckermark-Roman damit begründet, dass dieser keine Ahnung von der Uckermark haben könne und stattdessen anerkennen müsse, dass er nicht dazu gehöre, dann wird eben ein Schriftsteller anhand eines sehr engen biographischen Rahmens auf eine Geschichte festgelegt und ihm so letztlich auch die Freiheit genommen, andere Geschichten zu erzählen als die eigene.

ASAL:
Kein Mensch hat bloß eine Geschichte zu erzählen und vielleicht ist jene, die er über sich selbst zu erzählen hat noch nicht einmal die beste. Billers Kritik an Stanišić besteht allerdings aus einer literarisch-ästhetischen und einer politischen Ebene, die nicht unbedingt zusammen gehören. Zum einen steht die Frage im Raum, welche Geschichten man erzählen darf und soll, wie viel von einem selbst in diesen Geschichten sein muss. Was bedeutet es schon, eine Ahnung von der Uckermark zu haben? Wie viele Tage, Jahre, Generationen muss man dort verbracht haben, um etwas über sie schreiben zu dürfen? Auch wenn ich verstehe, dass Biller sich mit seiner Kritik lange vor der Publikation von Max Czolleks Desintegriert Euch! (2018) gegen die Anpassung an die dominante Kultur wehrt, erscheint mir sein Ansatz recht deutsch, deutscher als ich es ihm zugetraut hätte. Es steckt doch schon eine extreme Mythologisierung und Romantisierung darin, so auf die Beziehung eines Menschen zu einem Ort, zu einer Herkunft, zu blicken. Und das ist die zweite Ebene der Kritik, nämlich die Frage nach der gesellschaftlichen Verortung eines Menschen, der nicht in diesem Land geboren wurde. Er spricht von Zugehörigkeit, als sei Gleichheit ihre Voraussetzung und übernimmt damit die Idee, dass das konservative Leitkultur-Wir eine Entsprechung in der Realität hätte. Aber es ist ein Konstrukt, das man eben nicht nur dadurch auflösen kann, indem man als Marginalisierte von der eigenen Marginalisierung spricht, sondern auch, wenn man wie Stanišić sagt, ich schreib mal  über eure Uckermark, weil es auch meine Uckermark ist. Es gibt einen Unterschied zwischen write what you know” und write what you are”, und der ist in dieser Frage gravierend.

BERIT:
Genau deswegen finde ich es so spannend, wenn marginalisierte Stimmen nicht nur auf die eine Geschichte festgelegt werden, für die sie mit ausreichend autobiographischem Kapital bürgen können. Wenn man für jede erzählte Geschichte biographischen Rückhalt haben muss, also qua Identität auf ein Alleinstellungsmerkmal festgelegt wird, dann wird einem eben auch der Raum genommen sich mit Fiktionen an der Realität abzuarbeiten. Vielleicht bin ich aus diesem Grund skeptisch, wenn es um die autofiktionale Bearbeitung biographischer Traumata geht, besonders dann, wenn Autor*innen aufgrund ihrer Identität auf diese Narrative festgelegt zu werden scheinen. So werden seelische Verwundungen auf ein Reservoir für literarische Bearbeitungen reduziert, begründet durch beinahe fetischisierte Vorstellungen von Authentizität und mit einem voyeuristischen Beigeschmack. Für mich kommt das überspitzt gesagt einer Art narrativer Selbstausbeutung gleich, bei der die Teilhabe am Literatur- oder Kulturbetrieb mit dem Leiden der Schreibenden legitimiert werden muss. Es liegt eine subversive Kraft darin, die eigene Geschichte erzählen zu können, nicht sprachlos bleiben zu müssen, aber was passiert, wenn man nur auf diese eine Geschichte festgelegt wird? Wird dann die Identität zu einem Korsett für das eigene Schreiben?

ASAL:
In einem sehenswerten Gespräch mit Günter Grass erzählte der erst kurz zuvor aus der DDR ausgereiste Thomas Brasch, wie deprimierend er es als Dissident und Autor finde, dass solange man die Erwartungen der Öffentlichkeit bediene, niemand sage lieber Freund, da ist der Stil nicht gut.” Ich möchte dir also zustimmen, nicht zuletzt weil ich immer wieder merke, wie mir dieses Korsett angelegt wird oder ich es mir selbst anlege. Aber ich zögere auch, weil ich mich frage, ob man die Werke von Jeanette Winterson von der Armut in Manchester und die von Derek Walcott vom postkolonialen St. Lucia trennen kann oder ob Audre Lorde nicht immer wieder darauf hätte hinweisen sollen, dass sie eine Schwarze lesbische Poetin ist? An welcher Realität soll man sich abarbeiten, wenn nicht an der eigenen? Aber es stimmt, ohne identitätspolitische Schubladen kommt man heute nur sehr schwer weiter. Sie haben eine wichtige politische Funktion, von der sie allerdings nicht getrennt werden sollten. Sonst werden sie schnell zu einem Instrument der Reduktion anstelle der Weitung. Die Selbstausbeutung, von der du sprichst, ist eine von außen auferlegte. Was soll man tun, wenn man schreiben will und muss, wenn man das geschriebene Wort gewählt hat, um in die Welt zu treten? Das Dilemma ist, gehört werden zu wollen, aber auf Ohren zu treffen, die nur gewisse Klänge wahrnehmen möchten. Und selbst, wenn man es schafft, daraus auszubrechen, kommt einer um die Ecke und sagt, schreib doch lieber über dich selbst, du bist doch hier nur Tourist*in.

SIMON:
Die Anforderung an eine*n Autor*in, über sich selbst zu schreiben, ist in diesem Fall ja meist eine Forderung, die eigenen Traumata literarisch aufzuarbeiten. Daher auch die Ansicht, dass jemand wie Stanišić eben über seine Rolle als Kriegsgeflüchteter aus Bosnien-Herzegowina schreiben solle, auch wenn er vermutlich genauso über anderes aus eigener Erfahrung schreiben könnte – auch über die Uckermark, wenn er eine zeitlang dort verbracht hat. Es handelt sich hierbei, denke ich, um einen Blick auf das Schreiben, der das Erzählen der eigenen Geschichte zum Einen als Verarbeitung eines belastenden Ereignisses denkt, zum Anderen aber auch als politisch oder gesellschaftlich wichtigen Akt, im Sinne einer Forderung nach Aufklärung durch die Betroffenen. Im ersten Fall ist es auch der Wunsch des Publikums und des Literaturbetriebs sich selbst mit dem erfahrenen Leid, das nun vermeintlich literarisch verarbeitet wird, zu schmücken, indem man es honoriert. Der Nachweis der Bedeutung dieser Texte ist dann – wie Du, Asal, das mit dem Zitat von Brasch ja auch gesagt hast – nicht die literarische Qualität, sondern ihre Authentifizierung durch eigenes  Leid. Es ist die vermeintliche Nähe zum Leben einer anderen Person, die Leid erfahren hat, an dem man durch das Lesen dieser Erzählung teilnimmt. Die Honorierung dieser Geschichte ist dann gleichzeitig wieder in gewisser Weise ein selbstnobilitierender Vorgang.

BERIT:
Natürlich kann Literatur auch eine politische und gesellschaftliche Funktion erfüllen, es ist jedoch ein Problem, wenn bei den Texten bestimmter Autor*innen immer diese Funktion dominieren muss. Dann kommt es beinahe zwangsläufig zu einer Gleichförmigkeit sowohl in der Narration, nur bestimmte Themen und Erzählmuster werden diesen Autor*innen vom Literaturbetrieb gestattet, als auch in der Rezeption, indem jeder Text auf Bezüge zur Autor*innenbiographie heruntergebrochen und nicht mehr als vieldeutiger ästhetischer Texte rezipiert wird. Und die sehr eng abgesteckte Nische, die dann bestimmten Gruppen zum Publizieren ermöglicht wird, limitiert dann eben auch die Möglichkeiten dieser Autor*innen eine genuin eigene Stimme zu entwickeln. Es soll schon politisch sein, aber gleichzeitig muss es auch gefällig sein, nicht zu wütend, nicht zu bitter und schon gar nicht desillusioniert. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass Anke Stelling, eine der Autorinnen mit wirklich eigener Stimme zum Thema Mutterschaft, die sich in ihren Romanen mit der ganzen emotionalen und sozialen Komplexität der Angelegenheit befasst, es schwer hatte, für diese Texte einen Platz in einem Literaturbetrieb zu finden, der diesem Thema viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt:

“In den Ablehnungen ging es nie um den literarischen Wert, erzählt Stelling. Stets war von Aufhängern die Rede, die man für Buchhandlungen, Kritik, Leserinnen finden müsse. Für die Verlage war die Inzestgeschichte offenkundig ein absolutes no-no gewesen. Aber auch Mutterschaft als Thema schien ein Problem, jedenfalls dann, wenn die Erzählung die negativen Seiten, freundlich gesagt, nicht verschweigt.”
(Ekkehard Knörer: Fata, Libelli. Literaturkolumne. 20.2.2018)

Ich bin oft überrascht, wie abwesend Kinder und Mütter in vielen Romanen sind und wenn sie überhaupt als Nebenfiguren auftauchen dürfen, wie stereotyp dann über sie geschrieben wird. Dabei würde die Erfahrung von Elternschaft, in all ihrer großartigen Ambivalenz, der intensiven Liebe, der gehirnzerfressenden Langeweile und der körperlich wahrnehmbaren Erfahrung des Würgegriffs gesellschaftlicher Strukturen, ein großartiges und spannungsreiches Erzählfeld bieten. Doch dazu bedarf es einer Stimmenvielfalt, die weit über die Grenzen der bürgerlichen Kleinfamilie hinausgeht, deren Rahmen noch das Erzählen von Elternschaft dominiert. Gerade am Beispiel der Erzählung von Mutterschaft wird sehr deutlich, wie dominante Narrative eine Komplexität und Vielfalt, die dem Thema angemessen und dringend nötig wäre, unterdrücken.

 

Die Unmöglichkeit, weiter so  Ich” zu sagen, wie bisher

„Mein Ziel ist eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit. Sartre hat gesagt, engagierte Literatur, das ist die Freiheit, sich zuzuwenden. Ich möchte etwas anderes. Ich möchte eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit, in der er lebt.”
(Édouard Louis im DLF Kultur 23.7.2018)

SIMON:
Wenn ich an meine Jugend denke, die sich größtenteils in einer südwestdeutschen Kleinstadt in den Nullerjahren abgespielt hat, tauchen sofort bestimmte Bilder auf: Sommernächte an Flussufern, heiße Augustnachmittage auf Wiesen, weite Felder in der Sommerhitze, vertrödelte Nachmittage nach der Schule. Die gleichen Bilder kenne ich aus Romanen – vorrangig von Männern, die in den 80er und 90ern ihre Jugend erlebt haben – wie Wolfgang Herrndorfs In Plüschgewittern und Thomas Klupps Paradiso. Diese beiden Romane sind nur die ersten, die mir einfallen, aber Erzählungen von Männern, die zwischen 1965 und 1985 geboren wurden und über eine Jugend schreiben, die ihre sein könnte, sind in den letzten zwanzig Jahren unzählige erschienen, flankiert von Filmen, die ähnliche Geschichten erzählen (beispielsweise Schule (2000)). Diese Romane affirmieren das Bild einer heilen Kindheits- und Jugendwelt in den 80er und 90er Jahren. Insbesondere durch Rückblicke der inzwischen erwachsenen Erzähler, die meist im gleichen Alter und Umfeld wie die Autoren sind, werden diese westdeutschen Idyllen aufgerufen:

In meiner frühsten Erinnerung läuft meine Mutter mit nackten Füßen durch den Garten auf mich zu. Sie trägt ein gelbes Kleid aus Leinen und um den Hals eine Kette aus rotem Gold. Wenn ich an diese ersten Jahre meines Lebens zurückdenke, ist immer später Sommer, und es kommt mir vor, als hätten meine Eltern viele Feste gefeiert, auf denen sie Bier aus braunen Flaschen tranken und wir Kinder Limonade, die Schwip Schwap hieß.
(Takis Würger: Der Club (Kein & Aber 2017)

Durch die Omnipräsenz dieser Geschichten, die einem ganz bestimmten Schema einer idealisierten Jugend und Kindheit in einer vermeintlich sicheren Umwelt folgen, habe ich das Gefühl, dass meine eigenen Erinnerungen in diese angelesenen, kollektiven Erinnerungen eingebettet werden, sie werden in gewisser Weise zu einem Teil einer großen Erzählung einer Mittelstandsjugend in Westdeutschland. Das führt in meiner Wahrnehmung zu zwei Phänomenen: Zum Einen führt es dazu, dass ich mir teilweise meiner eigenen Erinnerung nicht mehr sicher bin – spielen Felder in der Sommerhitze wirklich eine so große Rolle in meiner Jugenderinnerung oder ist das eine Verklärung anhand von angelesenen, vergleichbaren Erzählungen? Zum Anderen führt es dazu, dass das Erzählen meiner eigenen Geschichte beinahe unmöglich wird. Sie ist schon x-mal erzählt worden. Der erste Kuss auf einer Party im Sommer, während die anderen um das Lagerfeuer sitzen – das könnte auch Benjamin von Stuckrad-Barre erzählen, man würde es ihm glauben. Ist das noch meine Geschichte oder ist es einfach eine mögliche von tausenden ähnlichen?

ASAL:
Mir kommen diese Bücher und Filme und diese westdeutschen Urbilder, die sie kreieren, ebenfalls vertraut vor, wenngleich meine eigene Kindheit und Jugend an den Rändern dessen stattfanden, was dort beschrieben wird. Eben deshalb habe ich geschrieben, dass es einer neuen Sprache bedarf, nicht nur neuer Erzählender.

Für mich, die ja auch in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert hat, steckt hier eine doppelte Erdrückung. Zum einen, weil mir als Heranwachsende meine Lebenswelt nirgends gespiegelt wurde, ich mich in keinen Büchern, Filmen und anderen Darstellungen wiederfand. Ich fühlte mich nicht gesehen und sah auch niemanden, dem ich mich nah fühlen konnte. In Hildesheim bewarb ich mich mit einem Text über einen politischen Häftling im Iran, der einen Brief an eine geliebte Person schreibt. Er erzählt darin, wie er immer wieder eine Waffe an den Kopf gehalten kriegt und jedes Mal wünscht, es möge nun doch endlich vorbei sein. Vermutlich alles etwas melodramatisch, aber ich war zwanzig Jahre alt und hatte fast ein Jahr in der internationalen Nachrichtenredaktion von CNN.com gearbeitet, wo die Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg zu meinem täglichen Job gehörte. Ich wollte über meinen Vater schreiben, aber das hätte ich damals noch nicht geschafft. Der Prüfer sagte mir dann, es klinge alles ein wenig wie Peter Maffays Über Sieben Brücken Musst Du Gehen. Ich wurde dennoch angenommen, geweint habe ich an dem Tag aber nicht aus Freude. Ich war eine wütende Studentin, aber ich war auch gut. Und obwohl ich das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören, saß ich mit den Leuten, die Florian Kessler in seinem Artikel erwähnt, in denselben Räumen und habe meistens innerlich, ganz selten auch öffentlich, gezetert über diese bürgerlichen Geschichten, die immer wieder wie Variationen der gleichen Geschichte wirkten. Irgendwann blieb ich diesen Schreibseminaren fern und konzentrierte mich auf jene, wo ich gehört und gefördert wurde. Im Anschluss an mein Studium in Hildesheim habe ich viele Jahre nicht geschrieben. Es ging einfach nicht. Erst mit Florian Kesslers Artikel, den ich sehr befreiend fand, und den ich ganz und gar nicht als hölzerne Polemik empfinde, wurde in mir eine Tür geöffnet. Ja, ein weißer, bürgerlicher Jungautor hat das für mich gemacht, weil meine eigenen Worte in der Zwischenzeit verschüttet wurden. Es hätten vielleicht meine sein können. Heute finde ich den Text von Selim Özdogan, der vor kurzem hier auf dem Blog veröffentlicht wurde, wesentlich wichtiger und dringlicher. Inzwischen schreibe ich auch wieder. Und werde schreiben und schreiben.

BERIT:
Es bedarf dann jedoch nicht nur einer neuen Sprache, wie du es ausführst Asal, sondern auch eines Literaturbetriebs, der sich solchen Schreibweisen öffnet und die Vermittlung neuer Ästhetiken unterstützt. Eine solche Öffnung kann jedoch nicht nur darauf basieren, dass neuen Stimmen wieder ähnlich festgelegte Narrative aufgedrückt werden, wir also der Erzählung einer westdeutschen Vorortkindheit nur einige neue statische Muster an die Seite stellen.

Es spricht im übrigen ja gar nichts dagegen, dass bestimmte gehäufte Weltzugänge und -wahrnehmungen sich auch in zahlreichen Texten wiederfinden, schwierig wird es dann, wenn Literatur zunehmend die Funktion einer Weltsichtbestätigung der Leser*innen erfüllt und es nicht mehr vermag diese zu Durchbrechen. Natürlich ist eine Bestätigung der eigenen Weltdeutung durch konventionalisierte Erzählverfahren und inhaltliche Stereotype etwas, das den Bedürfnissen vieler Menschen entspricht. Nicht zufällig verkaufen sich bestimmte Genreromane, die immer wieder die gleichen Erzählmuster mit kleinen Abweichungen durchspielen, hervorragend. Das ist auch nicht grundsätzlich negativ, manchmal möchte man eben einfach ausgelatschte Hausschuhe tragen oder sich in seine Lieblingskuscheldecke wickeln, nicht jeder literarische Text muss aufrütteln oder verstören. Texte können uns durch Vorhersehbarkeit auch ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, von einer Welt die nach geordneten Regeln funktioniert, in der die Guten gewinnen, die Bösen bestraft und die armen Stieftöchter zu Prinzessinnen werden können. Auch die Realitätsflucht durch Immersion in eine spannende Erzählung erfüllt eine Funktion für die Lesenden. Dennoch ist es zu kritisieren, wenn ein verstärkt unter ökonomischen Druck geratener Buchmarkt immer mehr auf wahlweise solche Kuscheldeckenliteratur setzt oder auf Romane, deren Autor*innen uns autobiographisch rückkoppelbar die Welt erklären sollen, weil solche Bücher ein größeres Marktpotenzial haben. Dieser durch Marktlogiken begründete Fokus äußert sich dann eben einerseits inhaltlich, indem bestimmte Geschichten wieder und wieder erzählt und Autor*innen qua ihrer Identität auf bestimmte Erzählmuster festgelegt werden, aber auch ästhetisch, beispielsweise in der Dominanz realistischer Erzählverfahren.

SIMON:
Es bleibt noch die Frage im Raum stehen, was weiße Mittelstandsmänner dann aktuell noch schreiben können, ohne wiederholt in die gleichen Muster einer westdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend zu fallen oder sich die Erzählungen von Menschen aus marginalisierten Gruppen anzueignen. Für mich sind an dieser Stelle die Romane und die darin angewendeten Erzählverfahren von Jakob Nolte eine mögliche Variante, sich neue Inhalte und Strategien des Erzählens zu erschreiben. Der Roman Alff (2014) erschien zunächst frei zugänglich auf der digitalen Leseplattform fiktion.cc und erst später im Verlag Matthes & Seitz. Mit parataktischer Sprache und filmischer Erzählweise, die die schnellen Schnitte amerikanischer Kinder- und Jugendserien der 80er und 90er Jahre imitiert, wird die Geschichte einer Mordserie an einer US-amerikanischen Highschool erzählt. Der Text ist beinahe überladen von Referenzen an die Popkultur der letzten dreißig Jahre und entfernt sich deutlich von realistischen Erzählmustern. Damit schafft Nolte einen Verweisraum, der sich zwar auf seine eigene Kindheit und Jugend bezieht, sich jedoch deutlich abkoppelt von den Schreibweisen und Zugängen der oben genannten Autoren und auch nicht im wiederholten Nacherzählen der eigenen Kindheitsidylle verharrt. Der zweite Roman Schreckliche Gewalten (2017) erweitert diesen Verweisraum auf die durch Hyperlinks geprägten Gedankensprünge und Querverweise im digitalen Raum. Diese und ähnliche Romane – auch die letzten beiden von Clemens Setz würde ich an dieser Stelle nennen – sind Beispiele für Auseinandersetzungen weißer, männlicher Autoren mit ihrer Lebenswelt und ihrer Jugend, die neue Wege suchen, diese literarisch umzusetzen.

ASAL:
In dem, was du schreibst, Simon, zeigt sich, dass es sich hier nicht bloß um eine Umkehrung handelt, in der nun jene Autor*innen verdrängt werden sollen, die bisher dominierten. Vielmehr geht es in dem, was wir hier gemeinsam herausgearbeitet haben darum, wie  wichtig es auch im Literaturbetrieb ist, eine Vielfalt herzustellen, in der so viele Stimmen wie möglich Platz haben.

BERIT:
Dafür bedarf es einer wirklichen Bibliodiversität nicht nur in der Verlagslandschaft, sondern auch in den Verlagsprogrammen, den Förder- und Stipendienstrukturen und den Zielgruppen der Literaturvermittlung.

 

Jahresrückblickssause 2018, bastelt mit!

Das Team von 54books hat sich zusammengesetzt, um das Jahr 2018 Revue passieren zu lassen. Der geneigte Leser möchte, so er sich dazu berufen fühlt, gerne aufgeworfene Fragen ebenso in den Kommentaren beantworten. Wir bedanken uns für die Aufmerksamkeit, den Zuspruch und das Mitlesen in 2018 und im Voraus für dasselbe in den kommenden Jahren.

1. Welches war das beste Buch, das du 2018 gelesen hast?

Tilman: Der Eindruck ist noch frisch, das beste Buch ’18 las ich gerade erst: Maya Angelou – Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Das hat mir die Schuhe ausgezogen. Außerdem mochte ich Tante Julia und der Kunstschreiber bzw. (in der neuen Übersetzung) Tante Julia und der Schreibkünstler von Vargas Llosa sehr. Das habe ich mal vor hundert Jahren gelesen und hatte es jetzt für meine Reise nach Peru im Gepäck. Gute Unterhaltung ohne platt zu sein. Apropos Ausland, nach Peru war ich in Bolivien, daher las ich vorher Die Affekte von Rodrigo Hasbún, das knallt!

Simon: Am meisten beeindruckt und zum Nachdenken gebracht hat mich Bettina Wilperts nichts, was uns passiert. Ob es DAS beste Buch war, kann ich nicht sagen, aber es ist mir am meisten positiv im Kopf geblieben aus diesem Jahr.

Katharina: Habe dieses Jahr sehr viele sehr gute Bücher gelesen, und dann habe ich gerade mal wieder „A Christmas Carol“ von Dickens gelesen. Dickens. Man sollte nur noch Dickens lesen. Allein wie der Häuser beschreibt.

Samuel: Heinz Helles „Die Überwindung der Schwerkraft“

Berit: Ich habe, nachdem ich es ewig geplant hatte, endlich Audre Lordes Sister Outsider. Essays and Speeches by Audre Lorde gelesen und es war großartig. Danach hatte ich die Gelegenheit mit einigen Freundinnen und Bekannten in einem Gruppenchat via Skype über das Buch zu sprechen und es war wirklich bewegend, wie sehr es alle berührt hatte. Außerdem hat das Buch Match Deleted: Tinder Shorts von Sarah Berger bei mir nachhaltigen Eindruck hinterlassen, weil ich die Erzählweise innovativ und inspirierend fand.

Elif: Am meisten beeindruckt hat mich Bleib bei mir von Ayòbámi Adébáyò. Mit Du wolltest es doch von Louise O’Neill und Was ist schon normal? von Holly Bourne sind aber auch ein paar eindrucksvolle Jugendromane erschienen, die sich mit Themen wie Rape Culture und Feminismus auseinandersetzen. Max Czolleks Desintegriert euch! zähle ich auch dazu, hat mir sehr gut gefallen.

Matthias: Ich lese ja nicht so wahnsinnig viel. Das Buch, das mich 2018 am meisten fasziniert hat, habe ich vor 2018 angefangen und werde ich dieses Jahr nicht mehr abschließen, nämlich Uwe Johnsons Jahrestage. Max Czollek fand ich aber auch sehr klasse.

2. Welches war das schlechteste Buch, das du 2018 gelesen hast?

Simon: Ohne wenn und aber Andreas Eschbachs NSA – Nationales Sicherheits-Amt, das hat in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht den Vogel abgeschossen.

Tilman: Boah, gab schon paar schlechte. Die siebte Sprachfunktion hat mich enttäuscht. Vieles war einfach so ein Grundrauschen, was nicht so richtig schlecht war, aber eben auch nicht gut.

Katharina: Habe ich alle rechtzeitig abgebrochen.

Samuel: Christian Torklers „Der Platz an der Sonne“

Berit: Mir hat Donna Haraways Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän nicht gefallen, das mag aber auch an mir liegen.

Elif: Ohne Zweifel Peter Stamms Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. So nichtssagend. Ja, er spielt mit Zukunft und Vergangenheit und bla, aber im Grunde will ein alter Typ nur die ganze Zeit was mit einer jungen Frau haben und ist ganz melancholisch. Wie gefühlt jede 0815-Geschichte eines weißen, (mittel)alten Mannes. Vielleicht bin ich dadurch auch einfach nicht das Zielpublikum. Wäre auch meine Antwort für die nächste Frage, weil ich wirklich nichts aus diesem Buch ziehen konnte.

Matthias: Richard David Precht, Jäger, Hirten, Kritiker. Ein durchweg ärgerlicher, vorhersagbarer, schlecht gemachter und zu allem Überfluss heftig nach rechts anschlussfähiger Schinken. Den habe ich auch für 54books rezensiert.

Tilman: Ich muss mich hier nochmal einschalten und Bezug auf Elif nehmen. Ich war bei Peter Stamm völlig ratlos, was genau an diesem Buch erzählenswert ist, „nichtssagend“ trifft es perfekt.  Wäre Walser jünger, er schriebe Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt.

3. Das überflüssigste Buch 2018 war?

Tilman: Ich finde diese ganzen Aufgüsse von alten Texten immer fürchterlich überflüssig. Stuckrad-Barre nennt das selbstentlarvend immer Remix, verkauft sich wie geschnitten Brot, gönn ich ihm – aber wenn jetzt jeder Internetschreiberling anfängt nur seine alten (also die letzten zwei Jahre) Texte aus dem Internet zusammenzusuchen und zu drucken .. schade um das Papier und das Geld und die Zeit und das Internet.

Simon: Martin Walsers Gar alles oder Briefe an eine Unbekannte, das waren vermutlich einfach Texte, die Walser noch rumliegen hatte, die er irgendwie zusammengeschraubt hat und weil Martin Walser drauf steht, wirds gedruckt. Auch überflüssig fand ich Marc-Uwe Klings Qualityland, das war nur platte Pauschalkritik und banaler Hihi-Humor.

Katharina: „Zusammenleben“ von Leander Scholz, ein Buch, das so tut, als wäre ganz Deutschland eine Kleinfamilie aus der Mittelschicht.

Samuel: „Die Hungrigen und die Satten“ von Timur Vernes

Berit: Überflüssige Bücher gab es einige, mich ärgern besonders „Debattenbücher“ von Menschen, die mit einer sich verändernden Gesellschaft nicht klarkommen, der Schutzheilige dieser schmierigen Nische ist sicher Thilo Sarrazin.

Matthias: Im Zweifel immer der neue Maschmeyer.

Tilman: Es gibt einen neuen Maschmeyer?

4. Welches war die interessanteste Feuilleton-Debatte/der interessanteste Feuilleton-Artikel des Jahres?

Katharina: Ganz pauschal würde ich ja sagen, dass das Feuilleton an sich interessant ist und dass da viele, viele, viele interessante und lesenswerte Sachen geschrieben worden sind, dass es viele spannende Rezensionen gegeben hat und dass das Feuilleton halt häufig leider gerade da am uninteressantesten wird, wo es sich am meisten darum bemüht, interessant zu sein, eben deswegen, weil es oft sehr bemüht wirkt, wie Schattenboxen oder wie ein angestrengter Kompromiss.

Simon: Persönlich fand ich die Debatte – wenn man das in diesem Fall so nennen kann – im Anschluss an die Poetikvorlesung von Christian Kracht sehr interessant.

Berit: Ich habe gerne die Beiträge von Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski zu digitalen und Tech-Themen in der NZZ gelesen.

Matthias: »After the Fall«, Adam Gopniks gigantischer Rezensionsessay von Patrick Sharkeys Buch Uneasy Peace über das faszinierendste soziale Phänomen der letzten Jahrzehnte, nämlich den drastischen und nachhaltigen Rückgang der Kriminalität; und »Safer Spaces«, Jia Tolentinos Reportage über evidenzbasierte Maßnahmen, um sexuelle Übergriffe auf amerikanischen Hochschulcampi zu reduzieren. Beides natürlich im New Yorker. (Ist das Feuilleton? Ich behaupte einfach mal: Im New Yorker ist immer alles Feuilleton.)

5. Welches war die überflüssigste Feuillleton-Debatte/der überflüssigste Feuilleton-Artikel des Jahres? [Welches war die Feuilleton-Debatte, die am weitesten vom wirklichen Leser entfernt war?]

Katharina: Die „Debatte“ um Simon Strauß war ein phänomenaler Tiefflug, den zu unterbieten auch in kommender Zeit schwierig werden wird – immerhin haben sich in ihrem Kontext aber einige mühevoll als Ulknudeln positionieren können, die zwar Angst vor dem angenommenen Männlichkeitsbild von Simon Strauß haben, gerne aber öffentlich auf ihre Begeisterung für Haftbefehl hinweisen, als würden nicht tausende Teenager dessen „Rollenprosa“, sowohl die misogyne wie die antisemitische, sehr unironisch hören und auswendig lernen. Da sieht man halt, dass es eigentlich nicht so sehr um sachliche Fragen oder Inhalte ging, sondern viel mehr um die Positionierung im literarischen und kulturellen Feld.

Berit: Die Kollegah-Debatte hat mich sehr genervt und führte teilweise zu wirklichen Meisterwerken selbstgerechter Verblödung. Ich wäre dankbar, wenn ich in 2019 nie wieder Rollenprosageschwafel und Grenzüberschreitungsanhimmelei von saturierten Feuilletonbros hören muss.

Simon: Ich schließe mich hier Berit an!

Matthias: Wie seit Jahren war auch 2018 nahezu jede Äußerung des Feuilletons zu Verkehrsthemen großer Unfug, und den Vogel haben wie immer die Einlassungen von Ulf Poschardt zum Thema Autofahren abgeschossen. Möglicherweise hat auch Rainer Meyer, dem es aus mir komplett unverständlichen Gründen sogar von seriösen Medien gestattet wird, unter dem infantilen Pseudonym »Don Alphonso« zu schreiben, etwas zum Thema Auto gesagt, das könnte dann sogar noch schlimmer sein, ich traue mich aber nicht nachzuschauen, weil mich das dümmer machen würde.

6. Das beste/schlechteste lektürebegleitende Lebensmittel 2018?

Tilman: Habe mir gestern die Hände eingecremt – das war die Hölle, alle Seiten fettig.

Simon: Das beste war und ist ohne Frage heißer Ingwer mit Zitrone und Honig, aber so stark, dass es milchig ist, sonst kann man es auch lassen. Am schlechtesten alles, was fettig ist, da hat Tilman recht!

Katharina: Wenn man sich allerdings die Hände nicht eincremt und zu trockener Haut neigt und dann zu eingerissene Haut an den Fingern hat, die auch manchmal blutet, ist das auch nicht gut, dann hat man Blutflecken im Buch.

Samuel: Buttrige Artischockenblätter

Berit: Sehr gut und richtig sind Kaffee und Lakritz, sehr schlecht sind Lutschbonbons, die einem die Zähne zur Maulsperre zusammenkleben, wenn man abgelenkt beim Lesen darauf herumkaut.

Elif: Bei mir gibt es nur Mate. All day, every day.

Matthias: Ich esse und trinke eigentlich selten beim Lesen von Büchern. Beim Lesen am Bildschirm schaufle ich in mich hinein, was eben da ist, und muss dazu feststellen, dass die Bunten Schnecken von Haribo echt was taugen. Wie immer enttäuschend: Paprikachips in zu großer Menge.

7. Der unnötigste sachliche Fehler in einem Artikel/Buch im Jahr 2018 war….?

Katharina: Als ob mir sowas auffiele.

Samuel: Deportationen nach Auschwitz im Sommer 1939 stattfinden zu lassen (in einem Familienroman)

Berit: Mir ist keiner aufgefallen, vielleicht lese ich nicht genau genug?

Simon: Ich erinnere mich, irgendwo einen gesehen zu haben, aber offenbar war er nicht gravierend genug, mhm.

Matthias: Michael Naumann in seiner Rezension der Tagebücher von Lion Feuchtwanger: »Arno Schönberg«. Dass der Großjournalist das einfach so hinschrieb und die größte deutschsprachige Wochenzeitung des Universums es unkorrigiert durchwinkte – das war ein Lehrstück in Sachen deutscher Medienbetrieb. Es sind die Kleinigkeiten und Äußerlichkeiten, die den Kampfgeist ausmachen (glaubt das nicht mir Ungedientem, glaubt es Norman Schwarzkopf jr., den ich damit sinngemäß zitiere).

8. Ulkigste Äußerung einer Person des öffentlichen Lebens zum Buchmarkt 2018?

Katharina: „Was fehlt, ist eine Arbeiterliteratur, die erzählt, was Menschen überall in Deutschland weg von Linkspartei und SPD in die Arme der AfD treibt.“ (Ulf Poschardt) Als gäbe es dafür nicht Sachbücher und als gäbe es nicht – inzwischen bekanntermaßen – auch sehr finanzkräftige Unterstützer der AfD, deren Motivation ja auch ganz spannend wäre. Was fehlt, ist eine Arbeiterliteratur, die nicht der argumentativen Verzweckung von irgendwem untergeordnet ist.

Samuel: Waren mehrere … man müsse Christian Kracht jedes Wort 1:1 so abnehmen, wie er es in Frankfurt anlässlich seiner Poetikdozentur vorgetragen habe, kam bei vielen Berichten einer Verkennung der Ambivalenz des inszenierten literarischen Sprechens im hyperöffentlichen Raum der Vorlesung gleich, in dem ja beides zugleich möglich ist: Aufrichtigkeit und Maskerade, Transparenz und Opazität.

Berit: Die Reaktionen von zentralen Instanzen des Buchbetriebs auf die Leserschwundstudie des Börsenvereins und den durch die Digitalisierung ausgelösten Marktveränderungen schwankten zwischen völliger Fassungslosigkeit angesichts eines seit Jahren absehbaren Paradigmenwandels und wirklich amüsant-verzweifelten Anrufen einer Art Buchhygges, in der das Buch dann rasch auf eine Ebene mit dem Gläschen Wein oder einer entspannten Yoga-Einheit gesetzt wurde. Lesen als „Oase der Entschleunigung“ und die Zeitdiebe aus Michael Endes Momo als Metapher für die Digitalisierung.

Matthias: Ganz eindeutig die Forderung danach, die Anzahl der Neuerscheinungen im gesamten Markt zu reduzieren, weil ja niemand mehr alles lesen könne. Das macht aus Lesen ein komplettistisches Hobby wie Münzensammeln und erklärt zudem alle Bücher für irgendwie gegeneinander austauschbar. Unfug, wie auch immer man es dreht und wendet.

9. Hast du 2018 ein Buch wiedergelesen oder wiederentdeckt?

Tilman: Ja, der oben erwähnte Llosa, das war wirklich schön. Außerdem habe ich meine jährliche Dosis Die Welt von Gestern nicht verpasst. Grandioses Buch!

Simon: Ich habe noch einmal Jakob Noltes Alff gelesen, das mich vor vier Jahren vom Hocker gerissen hat und ich habe zufrieden festgestellt, dass es mich immer noch begeistert. Außerdem im Zuge meiner Dissertation sogar zweimal Jack Kerouacs On the Road, das war vor allem interessant, weil ich es zuletzt mit 19 gelesen hatte und einen völlig anderen Blick darauf hatte.

Katharina: Habe „Das Ungeheuer“ von Terézia Mora nochmal gelesen und wieder sehr gemocht – ich weiß gar nicht mehr, warum ich „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ so unfassbar zäh fand, vielleicht sollte ich das auch nochmal lesen.

Samuel: Weiß nicht, ob das als „Wiederentdeckung“ zählt, aber César Airas „Stausee“ von 2000 (Droschl) ist sehr irre / merkwürdig / toll.

Berit: Herman Bang wiedergelesen, Herman Bang weiterhin gemocht.

Elif: Äh, ich leshöre grade nur Harry Potter und der Halbblutprinz wieder. Es ist immer noch sehr gut.

Matthias: Ich habe Mutanten auf Andromeda von Klaus Frühauf gelesen, ein Buch, das mich in meiner Kindheit so fasziniert hat, dass ich es ca. viermal gelesen habe. Und was soll ich sagen? Es ist Science-Fiction-Meterware aus der DDR, spannend, aber etwas hölzern geschrieben, hochwertig hergestellt, avantgardistisch illustriert, linientreu und letzten Endes langweilig. Ich habe ein ganzes Regalbrett mit dem Zeug, allmählich sollte ich es doch mal lernen.

10. Hat sich 2018 dein Leseverhalten verändert?

Tilman: Nicht das Lesen an sich, aber der Besitzstand. Schlechte Bücher verlassen meinen Haushalt – meist gratis auf die Fensterbank. Ich brauche Platz im Kopf, im Regal und im Herzen.

Simon: Sehr! 2018 war mein erstes Jahr auf Twitter und ich habe so viele Menschen (Wissenschaftler*innen, Autor*innen und Verlage) kennengelernt, die meine Perspektive auf Literatur sehr erweitert und verschoben haben.

Katharina: Nein, aber ich finde mein eigenes Leseverhalten inzwischen derart unerträglich, weil ich so langsam lese, dass ich mir vorgenommen habe, 2019 endlich nur noch schnell und oberflächlich und ohne Notizen zu lesen. Man kommt ja sonst zu nichts.

Samuel: Vielleicht ist es rationaler geworden, um das hässliche Wort „ökonomisch“ zu vermeiden. Habe schneller den Drang, ein Buch nach 10, 20 Seiten als lesenswert bzw. abbrechbar zu rubrizieren, das hat ab und zu den Effekt, dem Buch nicht ausreichend viel Chancen-Freiraum zu geben, in dem es sich entfalten könnte.

Berit: Ich begleite mein Lesen noch mehr als früher bei Twitter und führe dort die interessantesten Gespräche über Texte, das war sehr bereichernd. Mein Lesen verändert sich ständig, gerade lese ich Abends manchmal wieder Print und nicht mehr nur eBooks.

Elif: Für mich war das ein Lyrik-Jahr. So viele Gedichtbände wie in 2018 habe ich noch nie gekauft und gelesen.

Matthias: Ich habe tatsächlich mal ein bisschen mehr gelesen als sonst. Also immer noch fast nichts, aber mehr als die letzten Jahre. Danke, 54books!

11. Welcher Indie-Verlag hat 2018 immer noch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten?

Tilman: Jeder. Toll die Aufmerksamkeit für Sebastian Guggolz! Aber bitte noch mehr Aufmerksamkeit für Christiane Frohmann, für den Lilienfeld Verlag und alles Gutverkäufliche von Random House, Bonnier und Holtzbrinck!

Simon: Der Frohmann Verlag, der hat mich auf jeden Fall mit der spannendsten – für mich neuen – Literatur konfrontiert. Sehr gefreut hat mich die große Aufmerksamkeit für den Verbrecher Verlag dank Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß.

Katharina: Neben den schon genannten vermutlich Kookbooks. Ah ja, und ich mag den Elif Verlag. Der macht schöne Bücher, in manchen kommen Mäuse vor. Albino macht auch gute Sachen. Ansonsten mag ich alle Verlage, die klingen wie Brauereien, also beispielsweise Schöffling.

Samuel: Diaphanes, ed[ition] cetera, Wunderhorn Verlag

Berit: Reinecke & Voß macht spannende Lyrik. Mikrotext, Guggolz und Frohmann sind ebenfalls großartig. Noch mehr mediale Aufmerksamkeit würde ich außerdem Reprodukt gönnen, die machen wunderschöne Bücher, besonders die Kindercomics sollten in jedem Kinderzimmer stehen.

Matthias: Im Zweifel alle, es sei denn, sie korrigieren nicht ordentlich, das braucht kein Mensch.

12. Welche ist deine Katze des Jahres?

Tilman: Die Katze meiner Mutter: Bebra. Sie ist benannt nach einer sehr hässlichen, hessischen Stadt. Meine Schwester behauptet, das sei ihre Idee gewesen. Das ist natürlich Unfug: Ich war es.

Katharina: Meine.

Simon: In meinem Leben gibt es keine Katzen und das ist sehr schade.

Samuel: Meiner (ein Kater). Er heißt Heng, wie der luxemburgische Großherzog, ist dementsprechend edel. Er leckt sich immer sehr aristokratisch das Fell und guckt wie der letzte Snob. Und er trinkt ausschließlich Évian – wie Madonna oder so.

Berit: Ich habe ein wenig Angst vor Katzen, schaue sie mir aber gerne aus der Ferne an. Christiane Frohmanns Kater Laser gefiel mir sehr gut, als ich ihn traf. Er war wunderschön wildtigrig und wollte nicht auf meinem Schoß sitzen – Perfekt!

Elif: Die Katzen von Sarper Duman. Besuch der Instagramseite auf eigene Gefahr – ihr werdet vielleicht schmelzen, Herzchenaugen kriegen, weinen, euch verlieben und die Seite nie wieder verlassen. Er adoptiert regelmäßig Straßenkatzen, spielt mit ihnen Klavier und hat inzwischen keine Ahnung wie viele.

Matthias: Meine Katzen des Jahres sind selbstverständlich Chewbacca (aka Chewie aka Tchou-tchou) und Fluse (aka Flusi aka Flou-flou), die beiden Katzen, die meine Frau und ich diesen Sommer adoptiert haben.

13. Welcher literarische Trend wird 2019 vorherrschen?

Tilman: Das gänzlich unliterarische Scheißbuch. Das kann sowohl der x-te Promiquatsch sein (von Promis, die das Leben erklären, bis zu Promis, die literarische dilettieren) als auch diese ganze andere Massmarket Mist. Ich habe sowieso die Hoffnung aufgegeben, nicht nur für 2019.

Simon: Ich habe die Hoffnung, dass es noch mehr Literatur geben wird, die sich der Schreibweisen und der Kommunikation annimmt, die im digitalen Raum immer mehr Alltag werden. Außerdem denke ich, dass noch einiges zu #metoo erscheinen wird, das vielleicht nicht direkt darauf Bezug nimmt, aber das Thema Geschlechterverhältnis/Machtstrukturen aufgreift. Außerdem scheint, wenn man sich in den Verlagsankündigungen umschaut, das Thema „dystopische Zukunft“ weiterhin im Trend zu sein.

Katharina: Ich glaube tatsächlich, dass die Klassenfrage mehr und mehr zurückkommt – in der Theorie wie in der Literatur. Es wird Romane zu #unten geben und man kann nur hoffen, dass sie sich nicht mehrheitlich in Klischees und/oder Sozialromantik verheddern. Persönlich würde ich mir einen dauerhaften Trend hin zu einer Romanlänge von maximal 250 Seiten wünschen. Man kommt ja zu nichts.

Samuel: Die Deklination von Heimat in allen möglichen Fällen: kritisch, affirmativ, sarkastisch, naiv. Die normative Engführung von Relevanz und Literatur: Nur Bücher, die einen auf den ersten Blick ersichtlichen / konsumierbaren gesellschaftskritischen Beitrag liefern, sind „IN DIESEN ZEITEN“ gefragt. Bücher, die es sich und der Leserschaft schwieriger machen, sind fatales Geplänkel zur falschen Zeit. Das wird die Unachtsamkeit gegenüber sprachlicher Verfahren sowie die Diskreditierung des Ästhetischen zugunsten einer Idee von Literatur als (er-)klärendem Diagnose-Service befeuern. (Ist aber auch schon länger so.) Positiv, hoffentlich, als Trend: dass mehr über Repräsentationen nachgedacht wird, wer wie bei wem auftritt, wem welcher Raum zugestanden wird, etc., zugleich hoffe ich, dass es auch hier nicht zu so einer Engführung kommt nach dem Motto: Ausschließlich Bücher, die eine Diversitätsquote erfüllen, sind wertvolle Bücher. Aber die Frage wird hoffentlich stärker gestellt und klüger beantwortet als bisher.

Berit: Ich prognostiziere eine Verstärkung des Trends zur Lyrik, auch vermehrt mit ästhetischen Verfahren, die dem digitalen Raum entstammen. Außerdem werden wir weiterhin die Tier- und Pflanzenwelt auf Buchdeckeln finden – Käfer, Vögel, Fische, Farne usw. Mit dieser gestalterischen Faszination für Flora und Fauna schleicht sich meiner Meinung nach die latente Wahrnehmung von Klimakatastrophe und Artenschwund auf die Cover. Persönlich hoffe ich daher auf Bücher, die sich auch zwischen den Buchdeckeln mit innovativen erzählerischen Verfahren mit dem Klimawandel befassen, gerne auch in ästhetisch herausfordernder Art und Weise, beispielsweise in Langgedichten oder mit phantastischen Elementen.

Matthias: Im Sachbuchbereich geht der Trend weiter Richtung Krempel und Nachahmertitel, vermute ich. Plus vermutlich eine Lawine billig runtergeschriebener Politsachbücher über den Wachwechsel bei der deutschen Christdemokratie und verwandte Phänomene.

14. Auf welche Neuerscheinung 2019 freust du dich besonders?

Tilman: Das Buch von Berit, das im Herbst 2019 bei Schöffling erscheint.

Katharina: Was Tilman sagt. Und es gibt einen neuen Roman von Streeruwitz, die ich gerne lese.

Simon: Was Tilman sagt. Und ich bin auf Yannic Han Biao Federers Debüt gespannt.

Samuel: Ann Cottens „Lyophilia“, Sibylle Bergs „GRM“, bien sûr auch Berits Roman, was sonst?

Berit: Ich freue mich sehr auf all die norwegischen Bücher, die zur Buchmesse erscheinen werden, ganz besonders darauf, dass nun auch meine Freunde Johan Harstads Max, Mischa und die Tet-Offensive lesen können. (Es wäre außerdem gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich mich riesig auf mein eigenes Buch freue.)

Elif: Schließe mich allen an. Außerdem freue ich mich auf Eure Heimat ist unser Albtraum, Schamlos, beides aus der Perpektive von migrantischen und/oder muslimischen Menschen und auf die Jugendbücher On the Come Up und King of Scars.

Matthias: Was Tilman sagt. Und möglicherweise die Neuedition von Kants Kritik der Urteilskraft in der Akademie-Ausgabe, ich habe gehört, eventuell wird die tatsächlich bald mal fertig.

15. Welche Neuerscheinung 2019 lässt du lieber liegen?

Katharina: Gibt es wirklich noch Leute, die sich auf den neuen Roman von Houellebecq freuen? Ich habe den wirklich mal sehr gerne gelesen, „Die Möglichkeit einer Insel“ ist einer meiner Lieblingsromane aus der internationalen Gegenwartsliteratur, aber der schreibt doch auch schon länger einfach nur immer wieder dasselbe Buch mit wechselnden „Zeitdiagnosen“, und wenn ich mir die Zeit erklären lassen will, lese ich Sachbücher von Leuten, die noch bei Trost sind, bei Houellebecq habe ich da meine Zweifel, schon allein, weil er einen Blick für soziale Themen haben mag, einen sehr männlichen, aber immerhin einen Blick – für politische Fragen hat er keinen. Und dieses „der arme einsame Mann in der sozialen Kälte unserer Zeit“-Ding reicht halt irgendwann vielleicht als literarischer Zugang auch nicht mehr, um abendfüllend zu sein.

Simon: Jedes Buch, das mir penetrant etwas erklären will: Sei es meine Generation, den Rechtsruck oder was auch immer.

Samuel: Jan Brandts „Ein Haus auf dem Land“

Berit: Selbstbespiegelnde Bücher arrivierter Autoren, wer interessiert sich schon für die filzigen Flusen aus deren Bauchnabel. Außerdem habe ich die Faustregel, dass ich nie Bücher lese, die kultige Kiezgrößen romantisieren.

Matthias: Grundsätzlich lasse ich jedes Buch liegen, das aus der Feder einer dieser typischen deutschen Themenpundits kommt. Wir haben ja für jedes wissenschaftliche Thema in Deutschland jemanden, der dafür als Experte herumgereicht wird, ohne ein nennenswertes Standing in der entsprechenden akademischen Disziplin zu haben. Leider muss ich den Quatsch trotzdem manchmal rezensieren.

16. Welchen (vergessenen) Klassiker sollte man 2019 wiederlesen bzw. neulesen?

Tilman: Ich werde mir Die Elenden von Hugo reinknattern, außerdem Große Erwartungen von Dickens und Die Auferstehung von Tolstoi, ob man das soll – das weiß ich erst hinterher.

Simon: Wolfgang Borcherts Gesamtwerk (ist ja leider nicht so lang). Ich werde mir im kommenden Jahr mal Hannah Arendt und Simone de Beauvoir vornehmen.

Katharina: 2019 ist Fontane-Jahr und Fontane mag ich. Ansonsten kann man halt mal wieder Gedichte von Lasker-Schüler lesen. Grundsätzlich will ich aber sowieso viel mehr Bücher von toten Menschen lesen – die schreiben einem keine nöligen eMails und außerdem gibt es so viele Klassiker und man kommt ja zu nichts.

Samuel: In der Hinsicht bin ich leider so ein kanonistischer Idiot, der sagt: die Novellen von Heinrich von Kleist.

Berit: Gedichte von Sibylla Schwarz sollte man mal anschauen, weil Barocklyrik fetzt. Ich werde 2019 etwas von der Norwegerin Cora Sandel lesen (Norwegen ist Buchmessegastland 2019) und etwas aus der Sandalen-Serie des dänischen Gladiator Verlages, die spannende nicht-kanonisierte Klassiker wiederauflegen.

Elif: Ich habe mir vorgenommen, Tess of the d’Urbervilles und Rebecca endlich zu lesen. Der ein oder andere Roman von Jane Austen könnte auch wieder dabei sein.

Matthias: Wie gesagt, ich bin immer noch an den Jahrestagen dran.

17. Wird es Print 2020 noch geben?

Tilman: Klar, Promis erscheinen nicht als ebook!

Katharina: Print lebt ewig weiter, wird aber eben zunehmend ein Liebhaber-Ding und verliert weiter an Einfluss. Stand neulich in einem Glückskeks (auch Print).

Simon: Solange Richard David Precht vor Regalen posieren will, wird es gedruckte Bücher geben.

Samuel: Na ja.

Berit: Spannender ist doch die Frage, ob es 2020 in Flaschen abgefüllten Buchseitengeruch und Bücher auf Esspapier geben wird!?

Elif: Solange es Bookstagram und Booktube gibt, wird Print leben. Was soll man sonst fotografieren und in die Kamera halten? E-Reader sehen nicht hübsch genug aus.

Matthias: Natürlich.

18. Welches ist dein liebster Knallkörper?

Tilman: Ich halte es da wie mit Kfz – Hauptsache schön laut!

Katharina: Seit ich sehr alt bin, also seit 2012, schätze ich es nicht mehr so, wenn es knallt und kracht. Da fällt mir ein, man hätte hier einen Wortwitz mit „Kracht“ unterbringen können. Zu spät.

Berit: In Island gibt es so winzige Militärfahrzeuge/Panzer mit Böllerantrieb, die eine kurze Strecke fahren und dabei Funken sprühen. Daraus haben wir einmal eine sehr lange Reihe gebaut, dann den ersten angezündet und die Kettenreaktion beobachtet. Es war großartig!

Matthias: Als möglicherweise deutschester Mensch der Welt und allgemeiner Normcore-Typ bin ich tatsächlich ganz angetan von diesen großen Pappkisten, die man hinstellt, an einer Seite anzündet und die dann den Rest von alleine machen. Aber immer nur auf eine waagerechte Oberfläche, Kinder.

Angela Nagle im Gespräch über Mainstream und Minderheiten (Gastbeitrag von Bernhard Pirkl und Tijan Sila)

Dieses Interview ist ein Gastbeitrag von Bernhard Pirkl und Tijan Sila. Bernhard Pirkl hat für die Jungle World auch eine Rezension zu Angela Nagles „Die digitale Gegenrevolution“ geschrieben.

Die irische Kommunikationswissenschaftlerin Angela Nagle hat im vergangenen Jahr einen schmalen Band veröffentlicht, dessen Thesen es in sich haben. Vordergründig behandelt das Buch, das nun unter dem Titel „Die Digitale Gegenrevolution“ (im Original: „Kill all Normies“) im Transcript Verlag erschienen ist, die vielfältigen Erscheinungsformen der amerikanischen Rechten im Internet, von Neonazis über Männerrechtler bis zu obskuren Erscheinungen wie der neoreaktionären Bewegung (NRx); dabei belässt sie es allerdings nicht, sondern nimmt auch die Linke kritisch in den Blick: Die Hoffnungen, die sich an das utopische Potential des Internets geknüpft hatten, haben sich nicht verwirklicht, und auch der Politikstil großer Teile der Linken müssen vor dem Hintergrund des Erstarkens der Rechten in den USA und Europa neu bewertet werden. Im Gespräch mit Tijan Sila und Bernhard Pirkl zieht Angela Nagle eine Bilanz über die bisherige Resonanz des Buches.
PIRKL: „Kill all Normies“ war ein enormer Verkaufserfolg in den Vereinigten Staaten, das bestverkaufte Buch, das der Verlag Zero jemals herausgebracht hat. Wie erklären Sie sich diese unerwartet starke Rezeption?

NAGLE: Offenbar gab es ein sehr großes allgemeines Interesse am „Kulturkrieg“ im Internet, und ich habe einen neuen Ansatz angeboten, jenseits des üblichen Hin und Hers der verfeindeten Lager. Es wurde von Slavoj Zizek und anderen bekannten Autoren gelobt, aber es stieß auch auf viel negative Aufmerksamkeit, wobei auffällig war, dass die negativsten Reaktionen von einer relativ kleinen, auf das Internet konzentrierten Gruppe kamen. Es ist nun ein Jahr her, dass „Kill all Normies“ erschienen ist, und seitdem gibt es eine unermüdliche Kampagne persönlicher Angriffe, die im Grunde fast täglich stattfinden. Was in der Hinsicht von der alt-right kam, war gewissermaßen vorhersehbar, Gemeinheiten über mein Aussehen, antisemitisches Geraune, ich sei von den „jüdischen Medien“ gesteuert und dergleichen mehr. Die Reaktion auf der Linken war in gewisser Weise schlimmer, weil sie natürlich nicht so leicht abzuwehren waren, und sie den Tenor hatten, ich wäre nicht aufrichtig und würde eine konservative Agenda verbergen. Einigen war ich zum Beispiel nicht ausreichend kritisch bzw. feindselig genug gegenüber konservativen Figuren wie Jordan Peterson, während hingegen ich das Gefühl hatte, mir Mühe gegeben zu haben, ihren Beitrag zu den „culture wars“ halbwegs sachlich und neutral darzustellen.

PIRKL: Woher kommt dieser Zwang zur Vereindeutlichung? Hat man Angst vor der Schwäche der eigenen Argumente?

NAGLE: Mein Eindruck ist, dass es sich dabei um eine Art Tribalismus handelt, der durch soziale Netzwerke verstärkt wird, und sich im gemeinschaftsstiftenden Hass auf Einzelpersonen ausdrückt. Mittlerweile ist es zum Glück fast schon so, dass etwa das „Twittershaming“ ein so großes Ausmaß angenommen hat, dass es beinahe schon egal ist, wenn man zur Zielscheibe gerät, weil die Frequenz an Kampagnen so groß ist, dass in dem Moment bereits die nächste Person ins Visier genommen wird. Ich kenne Journalisten, deren Twitter-Accounts beinahe ausschließlich von einer schier endlosen Suche nach persönlichem Fehlverhalten künden, begleitet von Forderungen nach Stellungnahmen. Ein großer Teil der Medienlandschaft scheint in einer permanenten Schleife des Bedienens unseres Bedürfnisses nach öffentlichen Bloßstellungen gefangen zu sein. Die Geschichte ist freilich voll mit Beispielen für dieses Stärken kollektiver Normen durch die genüssliche Bloßstellung von Outsidern, aber irgendwie haben soziale Netzwerke dieses Phänomen mit voller Wucht wieder salonfähig gemacht.

SILA: Inwiefern ist solches Verhalten von Nutzern sozialer Medien denn mit Subkulturen verwandt?

NAGLE: Der subkulturelle Aspekt ist ungemein wichtig. Es gibt eine Sehnsucht nach einem höheren Grad der Identifikation mit anderen – etwas, das es historisch in kleineren Gemeinschaften gab. Einerseits entspringt Gemeinschaftsbildung einem positiven Impuls, andererseits setzt die Vorstellung einer Gemeinschaft, so schön sie auch ist, einen Außenseiter voraus – eine Person, die diese Gemeinschaft dadurch definiert, indem sie nicht zu ihr gehört. Eine der interessantesten Sachen, die man bei Online-Subkulturen beobachten kann, ist dass sie davon besessen sind, ihre Grenzen zu überwachen: Wer gehört zu uns, wer nicht? Sobald neue Menschen hinzukommen, wird noch enger zusammengerückt und der Eintritt in die Subkultur wird schwieriger. 4Chan-User, die ursprünglich damit begonnen hatten, Pepe-Memes zu posten, wollten mit der Erfindung der „Rare Pepes“ der ihrer Meinung nach zu großen Verbreitung dieser Memes entgegentreten. Solche Säuberungsmaßnahmen werden immer von Diskussionen darüber begleitet, wie man sich vor Verwässerung durch den Mainstream schützen kann. Zugleich fiel mir bei den persönlichen Anfeindungen gegen mich – insbesondere, wenn sie von links kamen – der obsessive Versuch auf, einzuordnen, wohin ich politisch gehöre. Man sagte nicht, dass ich falsch läge. Man sagte vielmehr, dass ich keine linke Position verträte – oder eine ganz spezifische. Schlussendlich ging es aber nicht um mich, sondern um jene, die diese Vorwürfe erhoben und um ihren Versuch, sich abzugrenzen, sicherzustellen, dass nur bestimmte Menschen der Beschreibung der Identität entsprechen, der sie, aus welchem Grund auch immer, einen großen emotionalen Wert beimessen.

PIRKL: „Kill all Normies“ ist ein Destillat Ihrer Doktorarbeit, einer feministisch orientiertem medienwissenschaftliche Untersuchung der Online-Kultur. Bei der Lektüre fällt einem folgendes Oppositionspaar auf: die männlich konnotierte Sphäre der transgressiven, avantgardistischen Subkultur auf der einen, und die als feminisiert wahrgenommene Sphäre des Mainstreams, bzw. was man dafür hält.

NAGLE: In der Tat wird der Mainstream als feminisierend empfunden. Die „Feminisierung der Kultur“ ist eines der größten Themen nicht nur der alt-right, sondern auch des weitaus größeren Milieus, das sich zum Beispiel von Jordan Peterson angesprochen fühlt, und das seit dem Erscheinen meines Buches stark angewachsen ist. Sie sehen darin einen ent-zivilisierenden Einfluss, etwas, dass sich der Kultur die Virilität entzieht. Das ist Teil der Pop-Kultur seit über einem halben Jahrhundert, wie ich auch in meinem Buch erwähne, man denke an die rebel culture der 50er Jahre, die Sorge um die abenteuerlustigen jungen Männer, die keinen Krieg mehr zu kämpfen hatten, und so weiter. Dennoch ist es nicht ganz so einfach, es gibt auch weiblich dominierte Räume im Internet, die auf eine sehr aggressive Art und Weise exklusiv sind. Mittlerweile ist das einfach ein generelles Merkmal von online-Subkulturen. Trotzdem war und ist diese Ordnung auffällig.

PIRKL: „Kill all Normies“ erzählt auch eine Geschichte vom Umschlag einer Form – transgressiver Humor in Form von Memes und ähnlichem – zu tatsächlichem Handeln, auch in Form von Gewalt, man denke etwa an Charlottesville. Wie funktioniert dieser Übergang?

NAGLE: Ich möchte auf diese Frage gerne aus dem Rückblick antworten. In meinem Buch gibt es ein Kapitel, das sich mit den Cyberutopien der Linken beschäftigt, Leute wie Paul Mason hatten große Hoffnungen an das Internet geknüpft. Ironischerweise sind es heute die Rechten, die glauben, dass das Internet Trump an die Macht gebracht hat. Sie machen denselben Fehler wie die Linke, und nun müssen sie zusehen, dass ihre politischen Vorstellungen nicht umgesetzt werden. Trump handelt im Großen und Ganzen nicht radikal anders, als man es von einem republikanischen Präsidenten erwarten würde. Folglich ist die alt-right-Bewegung gegenwärtig im Zerfall begriffen, und auch die Verfallsformen ähneln dem, was man von der Linken, zum Beispiel in der Folge von Occupy Wall Street kennt: Interne Spaltungen, nicht zuletzt aufgrund ganz alter Motive wie Egos und – im Falle der Traditional Worker’s Party – Eifersucht. Die Idee, das Internet als Abkürzung zur Macht zu benutzen, hat sich als Trugbild entlarvt.

SILA: Mitglieder der Alt-Right-Bewegung sind demnach nicht die bessern Internet-Nutzer, sie waren nur besser darin, das Internet zu einem bestimmten Zeitpunkt zu nutzen.

NAGLE: Genau. Zu anderen Zeiten war die Linke besser darin. Die AltRight-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt als Trump auf die Bildfläche trat. Sie wandte sich wie er gegen political correctness und besaß den gleichen respektlosen Humor – oftmals war er ziemlich clever und lustig. Zur gleichen Zeit war die Linke in humorloser Verzweiflung erstarrt und, genau wie die Alt-Right aktuell, in Grabenkämpfe verstrickt. Die Alt-Right hatte also ideale Bedingungen, um Erfolg zu haben. Das ist nicht mehr der Fall. Eins der größten Probleme, das sie derzeit hat, besteht darin, dass soziale Netzwerke wie PayPal, YouTube, Twitter – allesamt Privatunternehmen natürlich -, sie zunehmend ausschließen. Seltsamerweise hat die Rechte darauf keine Antwort. Alle, die dazu bereit sein könnten, das Recht der Alt-Right auf freie Meinungsäußerung zu verteidigen – AltLight-Libertinäre etwa -, sind überzeugt, dass nur der Staat dieses Recht einschränken könne. Ihre einzige Antwort lautet: „Es ist ein Privatunternehmen, und du hast einen Vertrag unterschrieben, in dem steht, dass sie dich rausschmeißen können, wenn sie es wollen.“ Da sie Kapitalismus nicht als entsprechende Triebkraft anerkennen können – es muss der Staat sein -, kommen sie mit dem Problem nicht zurecht. Die Vorstellung also, das Internet würde dieser magische Pfad sein, auf dem sie in die Politik gelangen könnten, hat sich als falsch herausgestellt.

SILA: Um nochmal auf das Thema Sub- bzw. Gegenkultur zu sprechen zu kommen, das ja im Zentrum von Kill all Normies steht: Die Begriffe haben ja in der Linken eigentlich einen guten Klang. An welchem Punkt läuft es schief? Gibt es ein Problem, das sich alle Subkulturen teilen?

NAGLE: Massenkultur geht immer mit einem Paradoxon einher: Einerseits sind wir alle ein Teil von ihr, andererseits fühlen wir uns von ihr abgestoßen und möchten nicht als Teil der Masse gelten. Alle möchten entweder einzigartig oder wenigstens Teil einer kleinen Subkultur sein, die dem Mainstream feindselig gegenübersteht. Beispielhaft fürs Ganze ist der Begriff des Hipsters – niemand würde sich selbst als Hipster bezeichnen. Es ist ein Schmähbegriff für Menschen, die gerne Teil einer Subkultur wären, es jedoch nicht sind, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Woher kommt unsere große Sehnsucht, nicht Teil des Mainstreams zu sein? Wieso widern uns Massenkultur und der Mainstream derart an, dass wir uns konstant von ihnen abgrenzen und durch diese Abgrenzung zu definieren versuchen? Diese Fragen beschäftigen mich seit Jahren. Zu welcher Art von Politik führt ein solches Denken über Kultur? Auch Konsumkonzerne versuchen, Nischenmärkte jenseits des Mainstreams zu erschließen. Wer möchte noch der Norm entsprechen, wenn selbst McDonalds sie aufgegeben hat? Niemand. Welche politischen Folgen hat solch eine Wahrnehmung von Durchschnittsmenschen, von ihrem Recht auf Würde und materiellen Besitz? Das sind Sachen, für die die Linke historisch eingetreten ist. Einerseits können Subkulturen radikal sein, andererseits können sie oftmals nur eine Nachahmung der Konsumkultur sein, die uns daran hindert, Massenpolitik zu haben, insbesondere, wenn sie uns vergessen lassen, dass der Durchschnittsmensch jemand ist, für den es sich politisch zu kämpfen lohnt.

Gespräch mit Heinrich von Berenberg, Gründer und Verleger des Berenberg Verlages

Gespräch mit Heinrich von Berenberg, Gründer und Verleger des Berenberg Verlages

Angelehnt an den Ausspruch des Historikers Robert Darnton: »In jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das schreit: Ich will raus!« erscheinen seit nunmehr 14 Jahren im Berliner Berenberg Verlag Bücher, die selten 200 Seiten überschreiten. „Rhetorisch funkelnde und dezidiert subjektiv gehal­te­ne biografische und autobiografische Literatur und Essays, Bücher zur Zeitgeschichte, seit 2010 hier und da auch hervor­ra­gende Belletristik, zwei Jahre später erschienen die ersten Bände einer kleinen Lyrikreihe“, so der Verlag keineswegs übertrieben über das eigene Programm.

Nach der kürzlichen Lektüre des wunderbaren „Der Geist von Turin“ von Maike Albath sprach ich mit dem Verleger Heinrich von Berenberg über die Verlagsarbeit.

In einem Porträt, das im Magazin Cicero im Jahr 2010 über Sie und Ihren Verlag erschien, stand es bereits im Teaser: Zur Zeit der Gründung Ihres Verlages im Jahr 2004 hätte die Buchbranche in der Krise gesteckt, die Gründung eines Verlages sei ein Himmelfahrtskommando, hört man da raus. Wenn ich heute einen Verlag gründete, wäre sicher ebenso zu lesen, die Branche sei gerade in der Krise. Wie lang hält die Krise noch an und wann ist sie überwunden?

Ein Himmelfahrtskommando war die Verlagsgründung bestimmt nicht. Es sind ja zu jener Zeit eine ganze Menge Verlage gegründet worden, einige haben überlebt, andere weniger, einige haben es geschafft, bei größeren Unternehmen als Imprint unterzukommen. Ich bin eigentlich an Krisen nicht so sehr interessiert, denn es hat sie gegeben, solange ich in der Buchbranche tätig bin, also seit Beginn der achtziger Jahre. Da war es die Angst vor dem Fernsehen, heute ist es die, begründete, Angst vor der unübersehbaren Aufspaltung des Aufmerksamkeitsspektrums der möglichen Leser. Die meisten müssen ja ins Iphone schauen oder auf andere Bildschirme. Unsere Leserschaft ist also etwas älter – 40 plus – und interessiert sowohl an den Inhalten als auch an den schönen Büchern, die zum Glück Sammlerinstinkte wecken. Wie es weiter geht, weiß niemand, ich auch nicht. Aber so lange ich lebe – nicht mehr allzu lange – wird es Bücher und einen Buchmarkt immer geben. Ich war soeben ein paar Wochen in Bolivien. Selbst dort, ohne Post, isoliert auf dem zweiten Dach der Welt, gibt es eine überaus lebendige Buchkultur mit beachtlichen Verlagen (ich habe immer noch nicht heraus, wie die das schaffen), so wie es sich für ein Land auf dem literaturbesessensten Kontinent gehört. Dagegen erleben wir hier immer noch eine Krise auf sehr hohem Niveau.

Sie waren über zwanzig Jahre Lektor und Übersetzer bei Wagenbach. Muss man sich die Initialzündung für die Gründung des eigenen Verlages dann so vorstellen, dass einfach die Liste der Bücher, die Sie nicht veröffentlichen durften, zu lang wurde?

Ja, die Tatsache, dass man jahrelang immer wieder Autoren entdeckt und sie weitergeben muss, hat sicher dazu beigetragen, dass der Wunsch, selbst Verleger zu werden, realisiert werden konnte.

Ihr Programm lebt von dem Schwerpunkt autobiografische und biografische Literatur, Essay-Literatur, Memoiren-Literatur. Es findet sich zum Beispiel aber auch ein Roman von Juan Pablo Villalobos dort. Katie von Christine Wunnicke stand letztes Jahr sogar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Was bringen solche Autoren mit, dass Sie der eigentlichen Programmlinie untreu werden?

Ich habe von Anfang an mir das Vergnügen gemacht, zu jedem Programm stichwortartige Zitate aus den Büchern zu nehmen. Beim ersten Programm hatte ich noch keine eigenen und habe unter anderem Ian Fleming zitiert: „Sag niemals nie“, schon damals mit der Absicht, die Programmlinien bei Bedarf auch mal zu ändern. Wenn Autoren wie Christine Wunnicke oder Maria Sonia Cristoff anfangen Romane zu schreiben, soll ich sie deshalb nach Hause schicken? Nein, und ich muss sagen, dass die Romane dem Programm gut getan haben, zumal sie immer noch so etwas wie die Ausnahme sind.

Sehen Sie bereits Erben Ihrer Idee vom Verlegen? Ich denke z.B. an Sebastian Guggolz, der ebenfalls bei seinem Arbeitgeber aussteigt, um selbst zu gründen und als Kleinverlag genau eine Nische zu bedienen.

Ich sehe eine Menge Kollegen, die ähnliches machen wie ich, aber ich habe noch nie Konkurrenzgefühle gehabt. Was Sebastian Guggolz macht, was Ingo Drzecnik macht, aber auch Christian Kill, Dietrich zu Klampen, Peter Hinke und wie sie alle heißen, nicht zu vergessen die tollen Frauen von Binoki, das ist alles aller Ehren wert, und wir kommen uns niht ins Gehege. Für’s vererben bin ich denn doch noch nicht alt genug.

Es ist kein Geheimnis, dass Sie Abkömmling einer der bekanntesten Bankiersfamilien des Landes sind. Ihre Verlagsgründung ist nun aber wahrlich nicht unpersönliches Mäzenatentum. Sie selbst sind zusammen mit Ihrer Frau der Kopf des Verlages. Ärgern Sie sich dann manchmal doch, nicht einfach einen Scheck für einen anderen geschrieben zu haben?

Oha, für wen hätte ich denn diesen Scheck schreiben sollen? Es ist uns doch gut gegangen und geht uns weiterhin gut. Das Geld im Hintergrund ist ein unverdientes Privileg, und ich fühle mich nach wie vor verantwortlich, damit etwas Sinnvolles anzufangen. Geholfen hat es immer, um die Angst vorm Scheitern ganz weit in den Hintergrund zu drängen, etwas, das glaube ich nötig ist, damit man in Ruhe und mit allem nötigen Ernst ein gutes Programm machen kann.

Lieber Heinrich von Berenberg, vielen Dank für das Gespräch.

heinrich von berenberg cordula Giese
© Cordula Giese

Heinrich von Berenberg wurde 1950 in Hamburg geboren und studierte dort Germanistik und Anglistik. Er war Lektor im Attica-Verlag, im Syndikat Verlag und insgesamt sechzehn Jahre im Verlag Klaus Wagenbach. Von Berenberg war Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift Freibeuter. 2003 gründete er zusammen mit Petra von Berenberg den Berenberg Verlag in Berlin. Dieser wurde 2010 mit dem Zillmer-Preis der Hamburger Kulturbehörde und 2016 mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Neben seiner Tätigkeit als Lektor und Verleger ist von Berenberg ebenfalls als Herausgeber und Übersetzer, insbesondere von Roberto Bolaño, tätig, schreibt Artikel und Rezensionen, sowie zahlreiche Vorworte und Einleitungen für Publikationen.

 

Auster und Klinge von Lilian Loke

„Hoffnungsträger ist ein furchtbar großes Wort, und ich sehe mich nicht in einer Riege“, sagt Lilian Loke angesprochen auf die Kategorisierung ihrer Person in der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Erscheinens ihres neuen, zweiten Romans Auster und Klinge bei C.H.Beck. Eine Rezension und ein Gespräch.

Auster und Klinge sind zwei.

Da ist Georg, ein Maler, der nicht mehr malt, der lieber wachrütteln will mit Aktionen im öffentlichen Raum, obwohl seine Galeristin ihm wieder zu Gemälden rät, die sich auch besser verkaufen. Aber Geld braucht Georg eigentlich gar nicht zu verdienen, denn er ist mit einem üppigen Erbe ausgestattet, lebt aber lieber distanziert von der schweineschlachtfabrikbetreibenden Verwandtschaft.

Auf der anderen Seite ist Victor. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, wo er für einen schiefgegangenen Einbruch einsaß, bei dem er den Hausherrn fast totgeprügelt hat (u.a. § 252 StGB für die Jurafreaks; aber auch ziemlich nah an §§ 211 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB, also mit einer kurzen Gefängnisstrafe noch ziemlich gut bedient). Victor ist aber – bis auf diese Tatsache und dass ihn Einbrüche ziemlich kicken – gar kein so übler Kerl. Am liebsten würde er ein Restaurant mit einem alten Kumpel eröffnen und endlich wieder mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter zusammenwohnen. Weil diese Frau aber erst kurz vor dem unrühmlichen Gefängnisaufenthalt vom Doppelleben ihres Mannes erfuhr, ist diese verstimmt. Mit ehrlicher Arbeit müssen nun die Schulden bei alten Komplizen abgearbeitet werden, bevor man für den großen Traum sparen kann.

Auster und Klinge können beide sein.

auster und klinge lilian loke cover

An dieser Stelle ihrer Lebensläufe treffen Georg und Victor aufeinander und ziehen zusammen. Als Victor erfährt wie vermögend Georg eigentlich ist, schließen beide einen Deal. Georg soll Victor finanziell bei der Eröffnung des Restaurants sponsorn und Victor bringt Georg das Einbrechen bei – für dessen Kunst, bis eine Aktion aus dem Ruder läuft und Victor erneut den großen Traum gefährdet sieht.

Bei Amazon „beschwert“ sich eine Leserin, die einen „lockeren, vielleicht humorvollen Roman über ein interessantes Duo“ erwartet hat. „Auster und Klinge“ liest sich tatsächlich stellenweise leicht wie Unterhaltung, behandelt aber harte Themen. „Wer schwarzen Humor mag, kommt bei mir sicher eher auf seine Kosten“, sagt Lilian mir im Gespräch. „Ich wollte harte Themen mit Humor angehen, auch im Schrecken Komik finden. Neben der Sprache sind mir vor allem Figuren mit Licht- und Schattenseiten und ein starker Plot mit straffen Spannungsbögen wichtig. In der deutschen Literatur wird gern recht streng zwischen Ernster Literatur und Unterhaltungsliteratur getrennt, aber gute Literatur sollte auch ernste und harte Themen interessant und kurzweilig vermitteln können. Nichts ist trauriger als ein langatmiges Buch, das legt man beiseite.“ Langatmig ist Auster und Klinge sicher nicht, denn die Geschichte entwickelt Fahrt. Die Story von Georg und Victor muss man dabei weniger als ernstgemeinte Fiktion nehmen als vielmehr als ein Rollenspiel. Dass die Figuren dabei manchmal etwas zu offensichtlich ihre Rollen spielen, verzeiht man aber gern.

„Kunst darf auch wehtun, aufwühlen, reizen. Außerdem gilt »Depiction is not endorsement«: Nur, weil etwas in einer Fiktion dargestellt wird, wird es dadurch nicht automatisch befürwortet. Diese Entscheidung liegt beim Leser oder Betrachter und ist Teil des Rezeptionsprozesses. Ich schreibe bewusst möglichst dicht aus der Perspektive der jeweiligen Figuren, ohne eine auktoriale und wertende Erzählinstanz, um dem Leser größtmögliche Freiheit zu geben. Für mich sind besonders Geschichten und Kunstwerke interessant, die einen Konflikt im Rezipienten erzeugen, den er selbst individuell auflösen kann. Ein Bild erschreckt mich, aber ich kann nicht aufhören, es anzusehen – warum? Ein Protagonist ist mir sympathisch, aber seine Handlungen sind verwerflich, meine Sympathien bleiben oder schwinden – weshalb? Wie positioniere ich mich zum Dargestellten? Ob Woyzeck, der zum Mörder wird, Michael Kohlhaas, der zur Selbstjustiz greift oder Breaking Bads Walter White, der als Drogenproduzenten groß in die organisierte Kriminalität einsteigt, Antihelden ermöglichen ein besonderes Spannungsfeld, einen anderen, einen tieferen Blick auf bestimmte Themen.“

Lilian Loke hat mit Auster und Klinge einen Roman mit Witz und der nötigen Portion Anstoß zum Nachdenken geschrieben, dass man mit der Autorin gerne gemeinsam zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltung balanciert. Die Hoffnungsträgerin sagt selbst, dass sie jeden Tag alle um sich herum hoffnungsvoll beobachte, und sehr oft würde dieses genaue Hinschauen belohnt. Beobachten wir weiter hoffnungsvoll Lilian, man kann recht sicher von weiteren Belohnungen ausgehen.