von Peter Hintz
Der relative Mangel an ostdeutschen Führungsfiguren im hiesigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird in Deutschland medial auf verschiedene Weise aufgenommen: Mit Optimismus, dass es nach und nach mehr wird, mit Realismus, dass es für die aktuelle Situation historische, politische und soziale Gründe gibt, oder mit eingeschränktem Fatalismus, dass für andere Ostdeutsche alles schief läuft, sich aber zumindest die eigene Ossi-Brand pushen lässt.
Dirk Oschmanns Langessay Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) hat bereits Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste erreicht. Es handelt sich um ein Debattenbuch aus dem postfaktischen Zeitalter. Nicht nur wartet das Sachbuch mit populistischen Thesen zur anhaltenden Marginalisierung Ostdeutscher durch Westdeutsche auf, zur Immunisierung vor naheliegender Kritik betont der Autor gleich selbst in der Einleitung, dass es ihm gar nicht auf Genauigkeit ankomme: “Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise”. Oschmann, der ursprünglich aus Gotha stammt und in Leipzig als Professor für Germanistik tätig ist, befürchtet, dass ansonsten sein politisches Anliegen “bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt”.
Unsichtbar bleibt für Oschmann sonst die Geschichte einer BRD-Hegemonie über den Osten, die nichts weniger als den Imperialismus des Kaiserreichs in Afrika sowie die nationalsozialistische “Ostpolitik” fortsetze: “‘Buschzulage’ und ‘Aufbau Ost’ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis andererseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten”. Als ob das Problem dieser Neunzigerjahre-Sprache nicht vor allem darin bestand, dass privilegierte Westdeutsche und privilegierte Ostdeutsche sich wechselseitig zu Opfern von white man’s burden und rassistischer Diskriminierung erklärten, während in der Nachbarschaft die Asylheime brannten.
Je drastischer Oschmann die ostdeutsche Unfreiheit und die westdeutsche Fremdherrschaft herbeiredet und das interne politische Geschehen im Osten – nicht zuletzt den Rechtsradikalismus – dabei ausblendet, desto weniger überzeugend ist seine Argumentation. Pauschale Thesen von einer ‘antiautoritären Prägung’ des Ostens durch den Umsturz ‘89, die durch AfD und PEGIDA popularisiert worden sind, sind historisch nicht haltbar. Wenn Oschmann schreibt, dass man Ostdeutschen, die “teils mit hohem persönlichen Risiko eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären [muss], was Demokratie ist”, so sollte dabei zwischen DDR-Regimegegnern und Regimeprofiteuren unterschieden werden. Letztere spielen bei Oschmann kaum eine Rolle, ‘die Ostdeutschen’ waren in der Opposition oder zumindest passive Opfer des Systems. Nach dieser Begründungsschablone verengt der Literaturwissenschaftler Oschmann hohe AfD-Ergebnisse im Osten auf westdeutsche Täter wie Björn Höcke sowie auf das Versagen der westorientierten übrigen Parteien.
Ähnliche Klischees werden auch in Oschmanns Verhandlung der ostdeutschen Literaturszene deutlich, einem Schwerpunkt des Buchs, in dem es vorrangig um kulturelle Machtansprüche des Westens gehen soll: “Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann.” Mit Verweisen auf tatsächlich (Inge Müller, Franz Fühmann) und eigentlich gar nicht vergessene Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Brigitte Reimann) biedert Oschmanns Buch sich an ein bestehendes gebildetes Publikum in Ost und West an, ohne dass es ihm gelingt, etwas Neues zur “DDR-Literatur” zu sagen. Zum Beispiel dazu, dass der ebenfalls erwähnte Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig gerade in den USA eine Renaissance erlebt.
Ingo Schulze liefert dem Buch einen Blurb, obwohl Schulzes letzter, erzählperspektivisch äußerst komplex konstruierter Roman, Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020), selbst eben die nicht einseitig ‘westdeutschen’, sondern wechselseitigen kulturellen Projektionen auf den Osten abbildet. Schulzes Roman destabilisiert damit sowohl Sachsen-Romantik à la Uwe Tellkamp als auch journalistische Dämonisierungsversuche im Sinne eines berüchtigten (und eigentlich falsch verstandenen) Spiegel-Covers, an dem sich Oschmann abarbeitet. Statt etwas Unerwartetes dazu zu schreiben, rekapituliert Oschmann auch bloß den neueren Kunststreit zwischen dem ostdeutschen Maler Neo Rauch und dem westdeutschen Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, versucht daran zu beweisen, dass es der ostdeutsche Kunstbetrieb schwerer hat als der im Westen – als ob diese Debatte nicht auch den steigenden Einfluss von ostdeutschen Künstlern im (inter)nationalen Diskurs zeigen könnte.
Nach Oschmann ist “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe […] die der ostdeutschen Männer insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 […], das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR”. Oschmann bezieht sich dabei auf die historisch-soziologische Studie Lütten Klein (Suhrkamp 2019) von Steffen Mau, die eine Benachteiligung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in anderen sozialen Feldern nachweist. Im Gegensatz zu Oschmann ist nach Mau der Osten aber eben keine simple Projektions- und Konstruktionsfläche des Westens. Ein Verständnis der Transformation des Ostens seit der Wende verlangt auch einen Blick auf die DDR-Gesellschaft vor 1989. Faktoren wie die ethnische Homogenität der DDR, der lange Zeit niedrigere Ausbildungsstand und Akademikermangel im Osten, Abwanderungsbewegungen sowie die – von engagierten Ostdeutschen selbst initiierte – politische Ausgrenzung der alten SED- und Stasieliten müssen dabei ebenso zentraler Teil der Erzählung sein wie westdeutsche Machtinteressen, Netzwerke und Administratoren. Oschmann hingegen betont die Rolle negativer Stereotype über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, erfindet einen ‘antiostdeutschen’ Rassismus und verfehlt damit strukturelle Ursachen für empfundene Probleme. Aber bekanntlich enthält sein Buch ja einen Undifferenziertheits-Disclaimer, der interessanterweise dann doch nicht gilt, wenn es darum geht, herauszustellen, dass Hitler Österreicher war.
Kuriositäten, die ein weiteres Ergebnis von Unterkomplexität mit Ansage sind: Als Teil von Oschmanns Versuch, eine allgemein negative Konnotation des “Ostens” im öffentlichen Diskurs herzuleiten, präsentiert er die Stadt Leipzig als geteilt in einen attraktiven Westen und in einen “fast verrufen[en]” Osten. Für mich als Leipziger ist das einigermaßen befremdlich, da sich schon seit einigen Jahren eben auch der Leipziger Osten zur Hipster- und Studentengegend gentrifiziert. Zum mangelnden Stadtinteresse passend findet Oschmanns Buchpremiere aber gar nicht am Ort seiner Professur in Sachsen statt, sondern in Prenzlauer Berg, bekanntlich ebenfalls hip und historisch in Ostberlin gelegen.
Positive Entwicklungen seit der Wiedervereinigung – etwa die sich angleichenden Niveaus bei Löhnen und Arbeitslosigkeit, Industrieboom und Modernisierung der Infrastruktur, steigende Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern – weist Oschmann mit Verweis auf das Debate-Me-Primat zurück: “Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‘differenzierter Darstellung’. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht”. Aha. Als ob Oschmanns Populismus nicht vor allem an eine Leserschaft in den ostdeutschen Bundesländern verkauft werden soll, statt sonst wen überzeugen zu wollen.
Neue politische Romane jüngerer ostdeutscher Autorinnen und Autoren bieten sozialkritische Gegenerzählungen zu Oschmanns eigenem pessimistischen Narrativ, was aber auch einen möglichen ostdeutschen Generationenkonflikt offenbart. Das ist vor allem erwähnenswert, weil Oschmann sie als das, “was der Westen sich vom Osten denkt” verächtlich macht. Diese Texte leisten ihre eigene Gedächtnisarbeit durch fiktionalisierte Jugenderinnerungen der sogenannten “Baseballschlägerjahre”. Im Hinblick auf solche autofiktionalen Romane kann man Oschmanns Faszination für die “Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse” teilen, nur ist Oschmanns eigener Text viel eher polemisch als analytisch und ordnet seine eigenen, für sich genommen erhellenden autobiografischen Anekdoten aus dem deutschen Universitätsbetrieb, dieser Polemik unter.
Hendrik Bolz’ Nullerjahre (KiWi 2022) etwa zeichnet aus der Ich-Perspektive ein schier endloses, fast rauschhaftes Panorama schulischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er Jahren. Diese Gewalt ist politisch aufgeladen durch rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Rhetorik und gestützt durch die Abwesenheit von Kontrollinstanzen. Oschmann verkennt völlig, dass solche Erinnerungen eben nicht nur affirmativ ein westdeutsches Publikum erreichen wollen, sondern zuerst einer jüngeren ostdeutschen Generation insgesamt eine Stimme geben. Bolz’ empathischer Roman verschweigt nicht die Strukturschwächen des Ostens im Vergleich zum Westen, sondern macht eben durch sein Verlegen der Handlung in die vermeintlich boomenden “Nullerjahre” auf sie aufmerksam. Vielschichtiger als Oschmanns Wessi-Ossi-Opfergeschichte erzählt der Roman die Erzeugung von Männlichkeit zwischen Autorität und Vorbildern, Klasse und Weißsein.
Eine Gewaltgeschichte erzählt auch Anne Rabes spannungsreicher, aus weiblicher Perspektive geschriebener Debütroman Die Möglichkeit von Glück* (Klett-Cotta 2023), der fast zeitgleich mit Oschmanns Buch erschienen ist und mit gegenwärtigen Verklärungen der DDR aufräumt. Diese Verklärungen sind heute weniger im konsumistisch-nostalgischen Stil von Good Bye, Lenin! (2003) gehalten, sondern entdecken den Osten gern als kulturkonservative Alternative des ‘kleinen Mannes’ zum liberalen Westen. Anne Rabes Protagonistin Stine, wie der Ich-Erzähler von Nullerjahre von der Ostseeküste, stammt aus einer Familie von DDR-Funktionären. Eine Archivrecherche über ihren Großvater führt sie zu den Ursprüngen und Nachwirkungen der autoritären DDR-Pädagogik, die ihre Kindheit und Jugend in den Nachwendejahren prägen. Gerade zum Verständnis von sozialen Brüchen nach ‘89 ist also das Wissen um kontinuierliche Machtverhältnisse nicht nur im Westen, sondern auch im Osten notwendig.
Zwar ist Oschmanns Buch inzwischen von einem halben Dutzend Leitmedien besprochen worden und in der Bestsellerliste gelandet, doch neue Impulse außerhalb längst bekannter fatalistischer Narrative vermag es nicht zu geben. Für die Rezeption eines in einer überregionalen Tageszeitung erschienenen Textes, den Oschmann für Der Osten auf Buchlänge erweitert hat, dreht der Autor aber schon mal eine kapitellange Siegerrunde. So verkündet er:
“Mein FAZ-Artikel Wie sich der Westen den Osten erfindet ging am 3. Februar kurz vor Mitternacht online: Bereits um 0.04 Uhr bekam ich die erste positive Reaktion aus der Schweiz. […] Mir sind per E-Mail und per Post Studien, Aufsätze und Bücher zum Thema geschickt worden, von Soziologen, Historikern, Politologen und Linguisten, die das ungeheure Ausmaß der Benachteiligung mit Fakten und Daten belegen. – Offenbar hat der Text einen Nerv getroffen.”
Jenseits des Matterhorns lässt sich Folgendes konstatieren: Oschmanns Intervention im Namen einer deklassierten lost generation von ostdeutschen Männern, die sich inzwischen nahe vorm oder schon im Rentenalter befinden, kann merkwürdig verspätet wirken und ist, wie auch das angefügte fünfzehnseitige Literatur- und Anmerkungsverzeichnis zeigt, ein Kompilat von über dreißig Jahren Debatte zum Thema. Doch gerade in seiner Umwandlung von Kränkungsgefühlen in Tatsachen und in seiner Läuterungserzählung, in der Oschmann sich als enttäuschter Grün-Liberaler präsentiert, knüpft sein Buch an aktuelle populistische Redeweisen an, die eine sich als marginalisiert empfindende weiße Männlichkeit politisiert.
Unterbrochen wird Oschmanns Polemik-Performance immer wieder durch versichernde Einschübe, dass er sich möglichen Einwänden gegen die Überzogenheit seiner Rhetorik selbst bewusst ist: “Der Ton stört gewaltig, ich gebe es sofort zu. Denn ich sage ja nichts Neues, aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei”. Und vielleicht nimmt gerade diese völlige Transparenz, intellektuell unehrlich zu sein und ein gewaltiges Medienereignis bewirken zu wollen, dem Buch das Potenzial, dies über erwartbare Talkshowauftritte, Zustimmung der Unzufriedenen und verdiente Verrisse hinaus tatsächlich provozieren zu können.
* Anne Rabe ist selbst Autorin bei 54books; mir lag vorab ein Manuskript ihres Romans vor.