Grauzonen – Die problematische Brillanz der Serie „Girls“

von Isabella Caldart

CN: Dieser Artikel enthält Schilderungen sexualisierter Gewalt.

Seit einigen Jahren lässt sich eine richtiggehende „Girls“-Renaissance ausmachen. In sozialen Netzwerken werden Lob und Memes über die HBO-Serie gepostet; es gibt einen Rewatch-Podcast, der jede Folge einzeln diskutiert, und bereits im März 2023 fragte die New York Times: „Why Are So Many People Rewatching ‚Girls‘?“ Vergangenen Sommer lobte die bekannte US-amerikanische Kulturkritikerin Emily Nussbaum die Folge „American Bitch“ als „nachhallendes, destabilisierendes, 100% echtes Meisterwerk“ und erst im Januar kürte The Atlantic die „Girls“-Folge „The Panic in Central Park“ als eine von acht „perfekten Fernsehepisoden“.

Warum also erfreut sich Lena Dunhams Serie, die von 2012 bis 2017 in 62 Episoden ausgestrahlt wurde, plötzlich wieder so großer Beliebtheit? Zum einen wäre da das Phänomen des sogenannten Comfort Binge – wenn man regelmäßig ältere Serien, die einem aufgrund ihrer Vertrautheit ein beruhigendes Gefühl geben, als Eskapismus schaut. Kein Zufall, dass viele in einer Zeit der multiplen Krisen auf diese Art des Serienguckens zurückgreifen. Zudem war Dunham auf gewisse Weise ihrer Zeit voraus: „Girls“ ist eine der ersten Serien, die Frauen, die als eher unsympathisch dargestellt werden, in den Fokus nimmt. Das war auch immer eine gängige Beschwerde über die Serie: Man würde die Charaktere nicht mögen. Aber die Sehgewohnheiten haben sich verändert, inzwischen stehen unliebsame Frauen öfter im Zentrum von Filmen und Serien. Hinzu kommt, dass sich Dunham in „Girls“ als nicht normschöne Frau häufig nackt zeigte. Was in den frühen 2010er Jahren teilweise für Empörung sorgte, lässt sich heute als Female Empowermentinterpretieren.

Nicht zuletzt zeigt die Serie einen für viele Zuschauer*innen erstrebenswerten (weil halbwegs realistischen und trotzdem schicken) Lifestyle. „Girls“ erzählt von vier weißen Frauen Anfang 20, die in Greenpoint, Brooklyn, leben, in einer Zeit, als die Mieten in dem Viertel noch verhältnismäßig bezahlbar waren.  Populäre New-York-City-Serien wie Friends“ (1994-2004) oder „Sex And The City“ (1998-2004) thematisieren Geldprobleme selten; dagegen geht es in „Girls“ mitunter um die Sorge, die Miete nicht zahlen zu können. Allerdings haben Hannah, Marnie, Jessa und Shoshanna das Glück, in einer Ecke, die gerade erst gentrifiziert wird, zu leben. Sie bewegen sich teils in künstlerischen Kreisen, und nehmen sich sämtliche Freiheiten, sich auch mal daneben zu benehmen – vier recht realitätsnahe Figuren.

Fast ausschließlich weiße Figuren

Das bedeutet nicht, dass es sich bei „Girls“ um ein unproblematisches Meisterwerk handelt. Bereits bei der Ausstrahlung der ersten Staffel lautete eine berechtigte Kritik, dass die Serie fast ausschließlich weiße Haupt- und Nebenfiguren hat – und das mit Brooklyn als Setting, eine der diversesten Ecken der Welt. Ta-Nehisi Coates, der 2015 mit dem Buch „Zwischen mir und der Welt“ große Erfolge feierte, gab Dunham Rückendeckung. „Ich denke, Geschichtenerzähler müssen in erster Linie dem Narrativ, das für sie am natürlichsten ist, treu sein”, schrieb er im April 2012, kurz nach der Serienpremiere, im Atlantic. „Ich glaube nicht daran, Figuren nur aus dem Wunsch heraus zu kreieren, dem Publikum zu gefallen oder gar ein vermeintliches soziales Ziel zu verfolgen. […] Ich bin nicht sonderlich daran interessiert, dass Lena Dunham die Sehnsüchte von Menschen widerspiegelt, die sie vielleicht kennt, vielleicht aber auch nicht. Mich interessiert ihre spezifische und individuelle Vision, die Story, die sie unbedingt erzählen möchte. Wenn diese Vision nur aus Weißen besteht, dann ist das eben so. Ich glaube nicht, dass man eine Erzählerin mit einem schlechten Gewissen dazu bringt, großartige Figuren zu erschaffen.“

Und tatsächlich schuf Dunham in „Girls“ nicht nur großartige Figuren, sondern gleich mehrere „perfekte Fernsehepisoden“. Gerade die Stand-Alone-Folgen, die wie Kurzfilme funktionieren und unabhängig von der restlichen Staffel und Entwicklung der Storylines funktionieren (jede der sechs Staffeln hatte eine) sind brillant. Darunter „One Man’s Trash“ in der zweiten Staffel über die kurze Affäre Hannahs mit einem reichen Mann, oder die im Atlantic gefeierte Folge „The Panic In Central Park“, eine grandiose Hommage an New York City. Und natürlich auch die Episode, die Emily Nussbaum als „Meisterwerk“ bezeichnet: „American Bitch“.

„That stuff never goes away”

„American Bitch“ ist eine Stand-Alone-Folge der sechsten Staffel, die am 26. Februar 2017 ausgestrahlt wurde – knapp acht Monate vor der Aufdeckung des Weinstein-Skandals, der die MeToo-Bewegung in Gang setzte. Darin werden die Grauzonen von sexualisierter Gewalt und Machthierarchien zwischen Männern und Frauen verhandelt. Die Episode ist exzellent geschrieben, die Grenzverschiebung geschieht unheimlich subtil und graduell.

Hannah wird darin von dem berühmten Autor Chuck Palmer (Matthew Rhys) zu sich nach Hause eingeladen. In einem Text für einen feministischen Blog hat sie Aussagen von vier Studentinnen aufgegriffen, die ihn auf Tumblr bezichtigen, sie zu Oralsex gezwungen zu haben. Zu Beginn des Besuchs ist Hannah sehr reserviert, hat vor, gleich nach der Konfrontation wieder zu gehen, ihre Körperhaltung ist angespannt. Dann manipuliert er sie geschickt. Chuck spricht über seinen zerstörten Ruf, erwähnt, dass er eine Tochter hat, um dann eine Art Teilschuld einzugestehen: Dass er seine Ex-Frau betrogen, dass er Frauen belogen habe – sexualisierte Gewalt allerdings streitet er vehement ab. Ja, er lade Frauen zu sich aufs Hotelzimmer ein, aber was diese von ihm wollten, sei die Erfahrung, um danach eine Story erzählen zu können. Wer habe eigentlich die Macht, er, der mittelalte, weniger hübsche Mann, oder die jungen, schönen Frauen?

So leicht kann er Hannah aber nicht überzeugen. Sie erzählt von einer unangenehmen Erfahrung, die sie mit einem übergriffigen Lehrer gemacht hat, und sagt mit Nachdruck: „That stuff never goes away.“ Dennoch verändert sich die Situation langsam, Hannah entspannt sich, setzt sich zu ihm aufs Sofa. War es am Ende doch so, wie Chuck Palmer behauptet? Er stellt ihr persönliche Fragen, sie lacht zum ersten Mal und sagt, dass sie vorschnell geurteilt habe. Schließlich landen sie im Schlafzimmer, wo er wertvolle Bücher aufbewahrt, er schenkt ihr einen signierten Roman von Philip Roth.

Der Graubereich

Und dann kippt es. Chuck legt sich aufs Bett und bittet Hannah, sich zu ihm zu legen: „I just want to feel close to someone in a way I haven’t in a long time.“ Hannah muss sich überwinden, die Zweifel sind wieder da. Trotzdem legt sie sich neben ihn. Chuck dreht sich mit offenen Hosenstall zu ihr. Wie aus einem automatischen Impuls heraus greift Hannah kurz nach seinem Penis, bevor sie aufspringt und ihn anschreit, während er nur grinst. Da ist sie, die Grauzone, in die er sie geschickt manövriert hat und in die sie sich hat manövrieren lassen. Weder hat er sie dazu gezwungen, ins Schlafzimmer zu gehen, noch hat er sie dazu gezwungen, sich zu ihm aufs Bett zu legen. Klar, das rechtfertigt seine weitere Tat keinesfalls. Aber Chuck ist aus dem Schneider – sie hat ihn freiwillig angefasst. Dennoch ist sein Machtmissbrauch offensichtlich.

Schließlich taucht die Tochter auf, und weil Hannah nun mal Hannah ist, bleibt sie, anstatt die Wohnung zu verlassen. Am Ende sitzen Chuck und sie wieder auf getrennten Sofas, hören der Tochter beim Klarinette spielen zu, während Hannah Chuck beobachtet, der sie ignoriert und strahlend grinst, weil er das bekommen hat, was er mit der Einladung intendiert hatte. Er hat gewonnen.

Seit einigen Jahren – seit MeToo – wird in Filmen und Serien vermehrt sexualisierte Gewalt erzählt. Diese sind zumeist eindeutig als solche definiert, ob in „I May Destroy You“ (2020), „Unbelievable“ (2019), „13 Reasons Why“ (2017-2020) oder aktuell in „Angemessen Angry“ (Romane erlauben da mehr Ambivalenzen, etwa Bettina Wilperts Debüt „nichts, was uns passiert“ aus dem Jahre 2018). Das Spannende an „American Bitch“ ist nicht nur die Tatsache, dass Dunham mit dieser Folge Diskurse um sexualisierte Gewalt vorwegnahm, Monate bevor sie in den Mainstream kamen, sondern auch die Art, wie der Missbrauch dargestellt wird. Denn oft sind Übergriffe nicht sofort als solche zu erkennen. „American Bitch“ stellt ungemein gut dar, wie Chuck Palmer Hannahs Mauer Stück für Stück abträgt, indem er sich selbst degradiert, Fehler zugibt und sie zugleich wiederholt lobt, zu einer Vertrauten macht – nur um dieses Vertrauen dann auszunutzen. Die Episode zeigt, dass sich die Frage „Warum bist du nicht einfach gegangen?“ nicht immer so einfach beantworten lässt.

Lena Dunham schreibt aus eigener Erfahrung. „Viele Frauen schämen sich für Dinge, die nicht wie eine Vergewaltigung im herkömmlichen Sinne aussehen”, erläutert sie in Vulture. „Ich schäme mich viel weniger für meinen tatsächlichen sexualisierten Übergriff als für einige zweideutige Begegnungen mit Leuten, bei denen ich nicht in der Lage war, mich angemessen auszudrücken oder Distanz zu schaffen. […] Wenn man zulässt, dass Grenzen verwischt werden, ohne überhaupt zu wissen, dass das passiert, ist das eine andere Art von Schmerz und Scham, die einen für lange Zeit auffrisst.” (Auch in einem Gastbeitrag in der New York Times nach Aufdeckung des Weinstein-Skandals berichtete sie von selbst erlebter sexueller Belästigung.)

Ebendieses Verwischen von Grenzen macht die Folge so beeindruckend. Chuck weiß, dass es keine Konsequenzen für ihn geben wird, weil Hannah die Geschichte nicht erzählen kann, ohne nicht auch ihre Naivität, die andere als Mitschuld auslegen könnten, zuzugeben. Hannah hat einen Vertrauensmissbrauch, das Ausnutzen von Machthierarchien und eine Form von sexualisierter Gewalt erlebt, kann aber nichts unternehmen, weil sie sich selbst in diese Situation gebracht hat – vielleicht schon dadurch, dass sie zu einem Mann, dem von mehreren Frauen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wurde, nach Hause gegangen ist. Das Schlimmste für die Autorin Hannah ist vielleicht, dass Chuck ihr, die sich in der ersten Folge der Serie als „die Stimme ihrer Generation“ bezeichnet hat, die Stimme nimmt: Es ihr unmöglich ist, diese Begegnung jemandem zu erzählen.

Problematischer Kontext

Man kann diese großartige Folge aber nicht loben, ohne den paramedialen Kontext, also das „Drumherum“ außerhalb der fiktionalen Ebene, mit zu bedenken. Am 17. November 2017 erstattete die Schauspielerin Aurora Perrineau Anzeige gegen „Girls“-Drehbuchautor Murray Miller. Dieser habe sie fünf Jahre zuvor, als Perrineau 17 Jahre alt war, vergewaltigt (im August 2018 wurde die Anzeige wegen „Ungereimtheiten“ und Verjährung fallengelassen). Noch am selben Tag, als die Anschuldigung bekanntwurde, veröffentlichten Dunham und Co-Showrunnerin Jenni Konner ein gemeinsames Statement, in dem sie Miller verteidigten.

Darin lobten sie zunächst die vielen Frauen, die sich seit der Veröffentlichung der Weinstein-Investigationen im Oktober 2017 geäußert hatten, nur um Miller dann als Ausnahme darzustellen: „In jeder Zeit des Wandels gibt es auch Fälle, in denen die Kultur in ihrem Enthusiasmus und Eifer falsche Ziele angreift. Wir glauben, nachdem wir mehr als ein halbes Jahrzehnt lang eng mit ihm zusammengearbeitet haben, dass dies bei Murray Miller der Fall ist. Obwohl unser erster Instinkt darin besteht, die Geschichte jeder Frau zu hören, sind wir aufgrund unseres Insiderwissens über Murrays Situation zuversichtlich, dass diese Anschuldigung leider zu den 3 Prozent der Fälle von übergriffigen Verhalten gehört, die jedes Jahr falsch gemeldet werden.“ Das zeigt: Selbst Frauen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, können aufgrund internalisierter patriarchaler Muster andere Opfer manchmal nicht als solche erkennen.

Während die Reaktion viele entsetzte, war sie trotzdem nicht ganz überraschend. Auf Vox wurde sie im Artikel  als Heuchlerin und weiße Feministin bezeichnet – (Aurora Perrineau ist eine Woman of Color – und dann die vielen Kontroversen aufgelistet, die sich im Laufe der Jahre um oder wegen Lena Dunham entsponnen haben. Zwei Tage später entschuldigte sich Dunham öffentlich auf Twitter (eine Entschuldigung der Kategorie „Notes App Apology“, bei der Celebritys sich in sozialen Netzwerken mit Screenshots von einer in einer Text-App getippten Nachricht entschuldigen). Es war bei weitem nicht die erste Entschuldigung, die sie nach eigenem Fehlverhalten veröffentlichten musste (daraufhin wurde auf Twitter auch der Parodie-Account „Lena Dunham Apologizes“ ins Leben gerufen).

Es gibt viele Gründe, warum „Girls“ so wenige Jahre nach dem Ende der Serie bereits wieder oder neu entdeckt wird. „American Bitch“ ist ein Paradebeispiel für Lena Dunhams großes Talent für die Feinheiten von zwischenmenschlichen Situationen – zumindest wenn es darum geht, diese auf dem Bildschirm zu zeigen. Gleichzeitig ist es mit ihr als Drehbuchautorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin nahezu unmöglich, die Serie nur innerhalb ihres eigenen Fiktionsrahmens zu betrachten und Dunhams Verhalten im echten Leben auszublenden. So wirft das Verhalten der Person auch einen Schatten auf „Girls“ und vor allem auf diese Folge, in der sexualisierte Gewalt so brillant verhandelt wird.

Foto von Peter Geo auf Unsplash

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