Die Sonnenbrille bleibt an beim Feuern
Im März 2023 verließ A.O. Scott seinen Posten als Filmkritiker der New York Times. In einem Interview begründete er diese Entscheidung damit, dass es in den letzten Jahren schwerer geworden sei, Filme zu kritisieren. Er spüre eine tiefer werdende Kluft zwischen Kritik und Publikum. Diese Kluft hatte sich bereits angedeutet, als Scott 2012 zum Opfer heftiger digitaler Beschimpfungen wurde, nachdem ihn Samuel L. Jackson wegen einer ungnädigen Besprechung von The Avengers auf Twitter attackierte. Scott solle sich doch einen neuen Job suchen, ätzte der Schauspieler damals. Der Kritiker analysierte den Fall wenige Jahre später selbst in seinem Buch Better Living through Criticism: “Jeder Kritiker”, schreibt er, “gewöhnt sich daran, mit Skepsis und Misstrauen und manchmal sogar mit Verachtung konfrontiert zu werden. Wie können Sie es wagen! Was gibt Ihnen das Recht dazu? Warum sollte jemand auf Sie hören?”
Diese Haltung ist natürlich nicht neu. Die Figur der Kritiker:in wird seit langem verfolgt von einer Tradition der kulturellen Feindseligkeit – von Johann Wolfgang Goethes vielzitiertem Jugendgedicht Rezensent („Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“) bis hin zur Figur des düsteren, freudlosen Restaurantkritikers Anton Ego in Pixars Ratatouille. Der Kritiker gilt als Spielverderber, der sich zwischen das Publikum und die Kunst drängt, als Gatekeeper mit fragwürdiger Autorität, als pedantischer Lehrer, der gnadenlos Noten verteilt – oder als vom Cäsarenwahnsinn gezeichneter Imperator, der durch eine Bewegung seines Daumens über Wohl und Wehe eines Kunstwerks entscheiden kann.
Diese Tradition der Feindseligkeit macht es schwer, zu erklären, was auf dem Spiel steht, wenn die kulturelle Praxis des professionellen Schreibens über Kunst und Kultur untergeht. Man hat zuweilen den Eindruck, als würde man der Kritik vermitteln wollen, dass sie eigentlich überflüssig ist und gerne verschwinden kann. Und sie tut es auch – in Form eines fortgesetzten Mediensterbens. Formate werden gestrichen oder gekürzt, Kritiker:innen entlassen, Ressorts zusammengestrichen. Nun hat es das einflussreiche Musikmagazin Pitchfork erwischt, dessen Einstellung gerade überraschend bekanntgegeben wurde. In diesem Fall trifft es kein erfolgloses Nischenmagazin, sondern wie Daniel Gerhardt in seinem Nachruf auf Zeit Online schreibt, „das zeitweise meistgelesene und sicherlich einflussreichste Musikmagazin der vergangenen 20 Jahre.“
Pitchfork existierte seit 1996 und galt im englischsprachigen Raum als eine Autorität im Bereich der alternativen Pop-Musik. Die Besprechungen waren komplex und kenntnisreich, zeugten von einem tiefen historischen Nerdtum. Allerdings war der Stil von Pitchfork gerade deshalb auch notorisch für die oft exklusiv wirkende Esoterik der Referenzen. Man sah sich als Tastemaker einer Kunstform, als Türsteher zu einem kulturellen Feld. Eine berühmte Parodie aus dem Jahr 2007 bringt Glanz und Elend dieses Habitus auf den Punkt. Die Satireplattform The Onion titelte damals „Pitchfork Gives Music 6.8“. Im Text wurde dann berichtet, die Plattform habe der ganzen Kunstform eine mittelgute herablassende Bewertung gegeben.
Der Untergang dieser Plattform erscheint nun in der Art, wie er betrieben wurde, wie eine regelrechte Demütigung für die Institution des Kulturjournalismus. Das Unternehmen Condé Nast, das Pitchfork 2015 gekauft hatte, will die Plattform in das Männermagazin GQ überführen. Eine E-Mail der „Global Chief Content Officer“ Anna Wintour (bekannt vor allem als gefürchtete Chefredakteurin der Vogue) wurde öffentlich gemacht. Im trostlosen Neusprech moderner Unternehmenskultur spricht sie davon, dass man die Teamstruktur von Pitchfork weiterentwickeln wolle. Wegen dieser Strukturveränderungen würden einige Mitarbeiter:innen die Plattform verlassen. Hinter dieser Schleierwolke aus Jargon steht die brutale Ansage, dass die Mitarbeiter:innen gefeuert werden und eine Rumpfversion der Plattform in ein Männermagazin eingegliedert werden soll, dessen Stil und Ton denkbar weit von der Subtilität von Pitchfork entfernt ist.
Es handelt sich um eine nackte Form der unternehmerischen Zerstörung, die noch einmal deutlich macht, dass auch (und gerade) unter der intellektuell geschmackvollen Oberfläche eines hippen Musikmagazins die kalte Grausamkeit einer ökonomischen Kultur wirkt, die über Metaphern wie „Umstrukturierungen“ Jahrzehnte der Arbeit einfach zunichte machen kann. Ein Detail der Geschichte bringt die klaustrophobische Atmosphäre dieser Welt gut zum Ausdruck. Auf X berichtete eine Pitchfork-Autorin, Wintour habe die ganze Zeit über, in der sie die Mitarbeiter:innen über den Untergang ihres Mediums informierte, ihre Sonnenbrille nicht abgenommen. Das Ganze wirkt wie eine Szene aus der Serie Succession, wie eine moderne Parodie auf die kapitalistische Feudalgesellschaft, in der ein inkompetenter Geldadel mit einem Fingerstreich das Leben zahlreicher Menschen ruinieren kann.
Es handelt sich allerdings um die Realität einer Gesellschaft, die sich einredet, ein Medium wie Pitchfork nicht mehr zu brauchen. Der ganze Fall ist symptomatisch für den Niedergang der Geistesarbeit, für den Status des öffentlichen Nachdenkens über Kunst und Kultur – ein Anlass, um darüber nachzudenken, was verloren geht, wenn diese kulturelle Praxis zerstört wird. In einem wütenden Artikel im Guardian schreibt Laura Snapes, die Entscheidung Pitchfork einzustellen, suggeriere, dass Musik nur eine weitere Facette eines Konsumlebensstils sei und keine eigenständige Kunstform, die Nischengemeinschaften miteinander verbindet, und bei der sich eine genaue Analyse lohnt. Snapes, die selbst für Pitchfork geschrieben hat, vermittelt einen Eindruck des konkreten Verlustes, den der Untergang der Seite bedeutet. Pitchfork war einer der letzten stabilen Arbeitgeber im englischsprachigen Musikjournalismus: „Wo sollen die ehemaligen Mitarbeiter:innen und die hunderten von freien Autor:innen jetzt arbeiten?“
Der Verlust geht aber über die rein finanziellen Probleme hinaus. Snapes berichtet, mit welcher Akribie und Genauigkeit die Texte bei Pitchfork redigiert wurden, wie sehr das Medium auch eine Schule für junge Kulturjournalist:innen war. Schreiben ist eine Tätigkeit, die man eigentlich nur in der konkreten Praxis wirklich lernen kann, am besten unter der Anleitung erfahrener Autor:innen, die ein Interesse daran haben, neue Talente zu entdecken und zu fördern. Je mehr Orte, an denen das stattfindet, zerstört werden, desto mehr verschwindet die Praxis des Kulturjournalismus aus dem öffentlichen Leben. Mit jedem Medium, das untergeht, mit jedem Format, das eingestampft wird, schwinden nicht nur die an sich schon knappen finanziellen Ressourcen, die das öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur möglich machen. Es werden dadurch auch Schulen des Schreibens geschlossen – Bildungsstätten der ästhetischen Erziehung.
Kritik und Criticism
Der Begriff, der in der englischsprachigen Welt für diese Form des Schreibens genutzt wird, ist Criticism – ein Begriff, der den Reiz des Kulturjournalismus viel besser zum Ausdruck bringt als das Wort ‚Kritik‘. Die deutsche Diskussion um den Status der Kritik konzentriert sich zu sehr auf den Aspekt des Urteilens, auf die Wertungsautorität der professionellen Medien und Autor:innen. Dabei ist dieses Urteil (Ist es gut oder schlecht? Daumen hoch oder runter? Wie viele Punkte?) das Uninteressanteste an einem kulturjournalistischen Text. Der Grund, warum ein solcher Text mit Begeisterung gelesen wird, ist der intellektuelle Hedonismus, der durch die mitreißende wertende Analyse eines Romans, eines Films, einer Serie gereizt werden kann. Interessant ist nicht unbedingt der Inhalt eines Geschmacks, sondern das Drama dieses Geschmacks, das vor unseren Augen in einer Textperformance aufgeführt wird. Ein klassischer Essay wie James Woods Vernichtung Paul Austers kann, was das reine Urteil angeht, in wenigen Stichworten zusammengefasst werden. Was den Text zu einem eigenständigen Kunstwerk macht, ist der Stil, in dem das Urteil vorgetragen wird.
Nicht der bessere Geschmack, nicht das bessere Urteil begründet die Professionalität und Autorität des Kulturjournalismus, sondern die Form, in der dieser Geschmack erzählt wird. Die besten kulturjournalistischen Texte verbinden die Evidenz des Konkreten, das Close Reading eines Songs oder die detailgenaue Analyse einer Serie mit großen allgemeinen Fragen: Wie lässt sich dieses Kunstwerk in die Geschichte der Gattung einordnen? Was trägt diese Einzelanalyse zur Theorie des Ästhetischen bei. Jedes Essay der TV-Kritikerin Emily Nussbaum etwa enthält nicht nur eine genaue kritische Einschätzung einer Serie, sondern war auch eine Einführung in die Geschichte und Theorie des Fernsehens. Solche Texte zwischen journalistischer Lesbarkeit und philologischer Tiefe prägen die Diskussionen, die eine Kultur über sich selbst führt. Ein Text wie Zadie Smiths Two Paths of the Novel kann eine Kontroverse anregen, die über Jahre das literarische Feld bestimmt.
Criticism dramatisiert das Nachdenken über Kunstwerke, das auch den Alltag der Rezeption bestimmt. Es handelt sich um einen wichtigen Bestandteil unserer ästhetischen Erfahrungen. Zum Vergnügen an einem Film etwa gehört nicht nur das reine Schauen, sondern auch das Nachdenken darüber, das sich bei den meisten Menschen nicht in Form eines Essays ausdrückt, sondern in nachwirkenden Erinnerungen, in Szenen und Figuren, die einem im Kopf herumspuken, in Emotionen, die man nicht abschütteln kann. Dazu gehört aber vor allem auch der Austausch: Über Kunst und Kultur schreiben kann tatsächlich jeder, und jeder tut es auch. In dem Moment, in dem man aus dem Kino kommt und mit seinen Freunden über den Film zu streiten beginnt, betätigt man sich schon als Kritiker. Jedes Gespräch über einen Roman, jedes Fachsimpeln über Musik, jede Diskussion über eine Serie ist Criticism.
Das Internet hat ungeheuer erfolgreiche kommunikative Infrastrukturen für diese Art der Alltagskritik geschaffen, von den Sozialen Medien bis hin zu Plattformen wie Goodreads oder Letterboxd. Ein Faktor, der deswegen oft genannt wird, wenn es darum geht, den Niedergang des Kulturjournalismus zu erklären, ist der Aufstieg der digitalen Amateurrezension. Hat nicht das millionenfache Herumbewerten im Internet den Eindruck vermittelt, professionelle Kritik sei überflüssig? Sigrid Löffler verkündete 2020 in einem schlecht gelaunten Kommentar, die professionelle Kritik habe „unerwünschte Konkurrenz“ bekommen. Auf diese Konkurrenz geht auch Moritz Baßler in seinem Essay Der neue Midcult ein, wo es heißt, die digitalen Stilgemeinschaften könnten sich gut untereinander verständigen, ohne die Autorität von Literaturkritik und Wissenschaft. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Bedrohen diese Bubbles der ästhetischen Affirmation, mit ihrem unprofessionellen Schwärmen und Verurteilen die professionelle Kritik?
Diese Frage verweist vielleicht vor allem auf die Statusangst einer fragilen Professionalität, die sich heute einem ständigen Angriff auf die eigene Relevanz ausgesetzt sieht. Die Tatsache, dass Criticism in diesem Umfang und mit dieser Intensität als Amateurkultur gepflegt wird, sollte aber eine gute Nachricht für professionelle Kulturjournalist:innen sein. Hier ist der Hunger nach kulturellem Austausch, der die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur ja legitimiert, deutlich zu spüren. Wenn man sich auf die Fragen und Interessen, die sich aus dieser Amateurkultur ergeben, einlässt, dann könnte das eine produktive Energiequelle für die müden, melancholischen Institutionen der Geistesarbeit darstellen. Die Geschichte der Plattform Pitchfork ist dafür eigentlich das beste Beispiel. Das Projekt entstand aus der frühen Internetkultur und hatte den Anspruch, der alternativen Pop-Musik die Würde kulturjournalistischer Analysierbarkeit zu geben. Von hier aus entwickelte es sich – durch teilweise heftige Konflikte – zu einer Institution, die ein breites Feld musikalischer und Kultureller Phänomene abdeckte.
Misswirtschaft und Luxus
Dass diese Institution nun untergeht, hat vor allem mit Misswirtschaft zu tun. Die unternehmerischen Eliten scheinen angesichts der wirtschaftlichen Veränderungen hilflos, was die finanzielle Zukunft von Kulturjournalismus angeht. Hier liegen die eigentlichen Gründe für den Niedergang – eine Mischung aus ökonomischen und kulturellen Faktoren. Die Digitalisierung war für den Journalismus nicht deshalb eine Katastrophe, weil sie viel mehr Menschen ermöglichte, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, sondern vor allem deshalb, weil die Werbeeinnahmen, die das Geschäftsmodell der Presse finanzierte, im Verlauf von zwei Jahrzehnten verschwunden sind. Google und Facebook haben dieses Geld aufgesaugt und nichts für die Medien übrig gelassen, die einen großen Teil des ‚Contents‘ liefern, der auf diesen Plattformen geteilt wird. Es handelt sich also – wie bei so gut wie jedem Problem der Spätmoderne – um eine Frage der Ressourcenverknappung. Als das mediale Monopol auf Aufmerksamkeit gebrochen wurde, kam es zu einer massiven Umverteilung, die die Presselandschaft verheert zurückgelassen hat.
Dieser ökonomische Prozess ging mit einer zunächst unterschwelligen, dann offenen und höhnischen Entwertung von Geistesarbeit einher. Kunst und Kultur, die Beschäftigung mit Geschichte und Gesellschaft, das Nachdenken und Schreiben über Bücher, Musik, Filme etc. – all diese Dinge wurden nach und nach immer stärker ins Zwielicht der gesellschaftlichen Nutzlosigkeit gerückt. Damit verbunden war etwa die oft dumpfe politische Aufwertung des Konstrukts der „MINT“-Fächer, denen ein besonderer wirtschaftlicher Nutzen unterstellt wurde, der eine möglichst frühe Konditionierung in den Tugenden dieser ‚harten‘ Wissenschaften rechtfertigen sollte. Es handelt sich um eine Haltung, die vor allem den Fächern selbst und ihrer intellektuellen Tiefe und Vielfalt nicht gerecht wird, die allerdings auch dazu genutzt wurde, um die Legitimität von Geisteswissenschaften und allen damit verbundenen Tätigkeitsbereichen ihre Legitimität abzusprechen.
Kulturjournalismus ist ein Luxus, den sich die Gesellschaft nicht mehr leisten möchte. Dahinter steht die meritokratische Ideologie, die im entfesselten Kapitalismus der Gegenwart einen quasi religiösen Status angenommen hat. Die Medien der Geistesarbeit haben es demnach nicht geschafft, in der ökonomischen Arena zu bestehen, und gehen deswegen zu Recht unter. Diese Perspektive verschleiert, dass es sich um konkrete Entscheidungen von Wirtschaftsunternehmen handelt, die einem gesellschaftlichen Trend folgen. Condé Nast hatte das niemals wirklich profitable Pitchfork für sein kulturelles Kapital eingekauft, für die Möglichkeit also, sich eine kulturell prestigereiche, einflussreiche Plattform anzueignen. Dass diese Plattform jetzt so beiläufig zerstört werden soll, sagt weniger über ihren wirtschaftlichen Zustand aus als über den Wertverlust des kulturellen Kapitals, das mit dem ernsthaften Schreiben über Kunst und Kultur verbunden ist.
Wenn eine Gesellschaft sich einen Luxus nicht mehr leisten will, wird das oft in einer Sprache vermittelt, die suggeriert, dass sie sich diesen Luxus nicht mehr leisten kann. Die Polykrise der letzten Jahrzehnte, insbesondere seit der Finanzkrise 2008, haben einer Ideologie der Verknappung Vorschub geleistet, die sich auf alle Bereiche des kulturellen Lebens negativ auswirkt. Ein allumfassendes Krisenbewusstsein wirft eine Gesellschaft auf die Frage zurück, was eigentlich existentiell wichtig ist, und vor allem, was nicht. Das konnte man unter anderem an dem Kampf ablesen, der während der Pandemie darüber geführt wurde, wessen Arbeit, wessen Existenz eigentlich systemrelevant ist.
Kunst und Kultur und die Beschäftigung haben in diesen Diskussionen einen schweren Stand. Natürlich ist ein voller Kühlschrank, eine funktionierende Heizung, ein gesunder Körper, ein freies Leben wichtiger als ein neuer Roman, eine Musikkritik oder ein medienwissenschaftlicher Aufsatz. Wenn sich der Kulturbetrieb auf diese Diskussion einlässt, kommt es – wie während der Pandemie – zu peinlicher Selbstbeweihräucherung, in der etwa Buchhandlungen dann plötzlich als „geistige Tankstellen“ bezeichnet werden, um ihre Öffnungen zu rechtfertigen. Die Frage ist allerdings auch falsch gestellt, denn so knapp bemessen sind die gesellschaftlich erwirtschafteten Ressourcen gar nicht. Es ist eher so, dass die mediale Dauerpräsenz von Kriegen und Konflikten die Aufmerksamkeit und Energie der Menschen bindet und es so möglich macht, Verknappungsfiktionen in den Diskurs zu drängen, die wiederum das Leben der Menschen im Alltag bestimmen.
Der Niedergang des Schreibens über Kunst und Kultur steht auch im Zeichen einer zeitpolitischen Ideologie, die jede Minute jedes Tages in ein Produktivitätsdenken pressen möchte. Teresa Bücker hat diesen Prozess vor kurzem in ihrem Buch Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit eindrücklich analysiert. Selbst im Konzept der „Freizeit“ – also der Zeit außerhalb der Erwerbszeit – lauert der Druck der Verknappung: „Wir müssen auch unsere freie Zeit sorgsam einsetzen, um etwas zu erreichen, das als geteilter Wert gilt und bei anderen Menschen auf Zustimmung stößt.“ In diesem Kontext findet auch das Verschwimmen von Arbeits- und Freizeit statt, das Arbeit als Berufung (‚Do what you love‘) und Freizeit als Ort der Selbstoptimierung versteht.
Kunst und Kultur haben den Nachteil, dass sie gleichzeitig als frivoler Luxus, als eine Art der Zeitverschwendung gelten und als anstrengende Pflicht, die mit gesellschaftlichem Druck verbunden ist. Von diesem Druck sprechen Menschen, wenn sie sagen: Ich muss mal wieder einen Roman lesen, oder: Ich muss mal wieder ins Theater gehen. Zwischen dem neoliberalen Ressentiment über mangelnden Nutzen und dem populistischen Affekt gegen den kulturellen Spinat, den man essen muss, weil er gut für einen ist, leidet Kulturjournalismus unter einer teilweise selbstverschuldeten Hilflosigkeit. Die Frage, die sich den Menschen stellt, ist: Warum sollte man Kunst und Kultur überhaupt verteidigen? Hat Pitchfork mit seiner Arroganz und seinem Gatekeepertum nicht irgendwie auch verdient unterzugehen? Haben wir gerade nicht wirklich andere Probleme? Ist es nicht auch ein bisschen lustig, wenn die Kritik attackiert und verhöhnt wird?
Manche dieser Vorwürfe haben sich die etablierten kulturellen Institutionen redlich verdient – durch ein panisches Beharren auf einem bestimmten Kanon, durch die höhnische Abwehr von Teilhabe, durch eine teilweise undurchdringliche Geheimsprache, die vor allem der Distinktion dient. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Katastrophe wäre, wenn die Kultur des Nachdenkens über Romane, Filme, Serien, Musik einfach verschwindet. Gerade der Kampf, wer sich daran wie beteiligen darf, gehört zu den produktivsten Bereichen der Geistesarbeit. Erst im Streit über Kunst und Kultur entwickelt sich die Intensität des intellektuellen Hedonismus.
Es ist ein trauriges Schauspiel, dass sich liberale Überflussgesellschaften dazu entscheiden, auf das ernsthafte öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur zu verzichten. Wenn die Zerstörung der Medien, wo geistreich und mit intellektuellem Anspruch über Bücher, Musik, Kunst, Serien, Film, Theater geschrieben wird, in diesem Tempo weitergeht, wird Kulturjournalismus in wenigen Jahren wieder ein reines Privileg einer Elite von Amateuren sein. Mit jedem kulturjournalistischen Medium, das kaputt gemacht wird, verschwindet auch eine soziale Infrastruktur des Austauschs. Dieser Austausch über ästhetische Erfahrungen, von denen wir irritiert oder hingerissen sind, ist eine wichtige gesellschaftliche Institution und es wäre jetzt der Moment, sich der Zerstörung dieser Institution entgegenzustellen.