von Isabella Caldart
Vor einigen Jahren ist den Millennials (zu denen ich auch gehöre) – wie auch der Öffentlichkeit generell – aufgegangen, dass sie nicht mehr die „junge Generation“ sind. Diese Erkenntnis fällt in etwa mit Beginn der Pandemie zusammen, als alle Welt aus Langeweile oder Einsamkeit TikTok installierte und die wahre junge Generation entdeckte, die dort bereits sehr aktiv war: Gen Z. Wenn man ehrlich ist, hatten Millennials (in etwa die zwischen 1980 und 1995 Geborenen) eine sehr lange Zeit, rund zwanzig Jahre, in der sie als die Jungen, die Trendsetter, die Zukunftsgewandten, diejenigen, die die Kultur und Gesellschaft bald prägen würden oder schon prägten, angesehen wurden. Dass wir, die wir schon lange fest im Erwachsenenleben verankert waren, plötzlich abgelöst wurden, kam für viele dennoch als Schock oder zumindest unbehagliche Wahrheit.
Uncoole Millennials
Populäre Witze und Memes im Internet zeigen Vertreter*innen von Gen Z, die Gegenstände aus den Neunzigern vor die Nase bekommen und keine Ahnung haben, was sie damit anfangen sollen. Ihre Antworten – ob nun erfunden oder authentisch ist fast egal – führen gerne zu Nostalgie und/oder (gespieltem) Entsetzen, wenn zum Beispiel eine Diskette mit „ah, du hast den Speichern-Button in 3D ausgedruckt!“ kommentiert wird. Gerade für Millennials, die zwischen den beiden als cool geltenden Generationen – Gen X und Gen Z – definitiv die Uncoolen sind (ein treffendes Meme zeigt Millennials und Boomer, die sich anschreien, während Gen X entspannt Gen Z einen Drink eingießt), dienen diese Relikte als Versuch, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Beliebt sind auf TikTok Videos von Gen Z, die beim statischen Krachen und den piependen Geräuschen von sich einwählenden Modems Fragezeichen im Gesicht haben. Diese Töne gelten für ältere Generationen (nicht nur Millennials) als Distinktionsmarker, weil sie ja noch die Zeit der Internet-Frühphase miterlebt haben. Eins steht jedenfalls definitiv fest: Die Töne des einwählenden Modems katapultieren einen genauso sehr in die Neunziger zurück wie der Anfangsriff von „Smells Like Teen Spirit“.
Seit einigen Jahren sind die neunziger Jahre wieder populär (vielleicht ist das auch schon vorbei, die Y2K-Kultur erlebt nämlich ihr Comeback, wobei die Grenzen ja fließend sind). Das merkt man nicht nur an den vielen Bands, die erstaunliche Revival hinlegen, sondern auch an der Mode und bei Filmen und Serien: „Scream“ hat ebenso eine weitere Fortsetzung erfahren wie „Matrix“, „Sex And The City“ wurde neu aufgelegt und ein Reboot von „Die wilden Siebziger“ ist angekündigt – jetzt halt „Die wilden Neunziger“, immerhin sind diese (gasp!) rund 25 Jahre her. (Die erste Staffel von „Die wilden Siebziger“, die 1998 lief, spielt im Jahr 1976 – es war damals also weniger Zeit vergangen als zwischen heute und den neunziger Jahren.) Es ist an der Zeit, jetzt, mit gebührendem Abstand und der erwachten Nostalgie der jüngeren Generation, einen Blick auf die Neunziger zurückzuwerfen und sich zu fragen: Was macht diese Epoche eigentlich so besonders?
Ein Jahrzehnt zwischen Mauerfall und 9/11
Chuck Klosterman gilt in den USA als einer der wichtigsten Musik- und Popkulturkritiker. Bereits in der Essaysammlung „Sex, Drugs, and Cocoa Puffs“ (2003) analysierte er hauptsächlich die Kultur der neunziger Jahre. Jetzt legt er mit einem Buch, das schlicht mit „The Nineties“ betitelt ist, nach. Eingangs hält Klosterman fest: Die Neunziger lassen sich (wie jede andere Dekade und Epoche auch) nicht statisch anhand des Kalenders definieren, gingen also nicht vom 01. Januar 1990 bis zum 31. Dezember 1999. Vielmehr sind es zwei Großereignisse, die dieses Jahrzehnt einrahmen: Der Fall der Mauer 1989 und der Fall der Twin Towers 2001. Aus der Perspektive westlicher Länder lässt sich wenig dagegen argumentieren, scheint dieser Rahmen common sense zu sein. Klosterman allerdings hat noch eine andere These. Für ihn ist fast plausibler, dass die Neunziger nicht mit dem Zusammenbruch von Berliner Mauer und kurz darauf der Sowjetunion, sondern mit der Veröffentlichung von Nirvanas „Nevermind“ (September 1991) eingeläutet wurden – wenigstens kulturell.
So sehr man dem Autor zustimmen muss, dass Nirvana und Grunge musikalisch, ästhetisch und auch, was den Zeitgeist angeht, zumindest die erste Hälfte der neunziger Jahre definiert haben, so merkwürdig erscheint vor allem aus deutscher beziehungsweise europäischer Perspektive die Überhöhung dieses einen Albums, wenn man es in Relation zum Fall der Berliner Mauer setzt. Klostermans „The Nineties“, das wird spätestens hier deutlich, ist ein sehr subjektiv geprägtes Buch, auch wenn er sich als Subjekt kaum in die Essays einschreibt. Die Analyse dieses Jahrzehnts bleibt stark in seiner eigenen Weltsicht verhaftet. Das ist Chuck Klosterman durchaus bewusst: In der ersten Fußnote legt er knapp seine biografischen Daten dar, weil er weiß, dass er als weißer, 1972 geborener, cishet Mann eine ganz bestimmte Perspektive einnimmt. Von der rückt er im Verlauf der Essays aber auch wenig ab.
„The Nineties“ wirkt sowohl extrem Gen X als auch extrem US-amerikanisch. Die US-amerikanische Sicht mag dem Popkritiker verziehen werden, schließlich ist es unmöglich, die ganze Welt samt den stark pluralistischen Erfahrungen von Menschen und Ländern in ein Buch zu packen (auch wenn hin und wieder ein kurzer Blick über die US-amerikanischen Grenzen hinaus keine allzu große Herausforderung hätte darstellen müssen). Dass er es aber nicht für nötig hält, in dieser Dekade Millennialkultur auch nur zu berücksichtigen, ist schade.
Überhaupt schränkt sich Chuck Klosterman merkwürdig ein: Es geht ihm darum, die Neunziger so zu zeigen, wie die Neunziger sich selbst verstanden haben. Das bedeutet, er bleibt der Dekade so stark verpflichtet, dass er in der Passage über Countrysänger Billy Ray Cyrus nicht einmal in Klammern erwähnt, dass es sich bei ihm um den Vater von Miley Cyrus handelt. Im Fall von Anita Hill, die 1991 Judge Clarence Thomas der sexuellen Belästigung beschuldigte, verhielt sie sich vor Gericht rational, während er sich mit emotionalen Ausbrüchen verteidigte. Die Parallele zu Brett Kavanaugh und Christine Blasey Ford liegt nahe – nicht zuletzt, weil sowohl Kavanaugh als auch Thomas Richter des Surpreme Court sind –, wird aber ebenfalls ignoriert.
TV als Medium des Jahrzehnts
Inhaltlich geht es in grob chronologischer Reihenfolge in zwölf ausführlichen Essays durch die Bereiche Innenpolitik, Film und Fernsehen, Sport, Musik und natürlich Technologie. Neben den Themen, die primär für diejenigen, die sich für die USA interessieren, relevant sind – die Präsidentschaftswahlen 1992, 1996 und 2000 und Baseball etwa – analysiert Klosterman auch globale Phänomene. Allen voran, wie könnte es anders sein, den Vormarsch des Internets, dessen Evolution er im längsten Text des Buches beschreibt. Es ist einer der überzeugenderen Essays, auch wenn er nicht zwangsläufig neue Erkenntnisse aufwirft. Die Entwicklung des Internets und seinen Einfluss auf sämtliche Lebensbereiche so detailliert und umfassend nochmal zu rekapitulieren, ist dennoch faszinierend. Obgleich es merkwürdig anmutet, dass er diesen Text ausgerechnet mit dem technologiefeindlichen Unabomber enden lässt.
Das wichtigere Medium dieser Ära ist für Klosterman aber nicht das aufkommende Internet, sondern immer noch das Fernsehen. „Television in this period was still dictated by the constraints of time and the boundaries of available space. Its main utility was just being around. There was an accepted passivity to its consumption.” Eine Passivität, die durch das Internet und durch Streaming-Anbieter heute undenkbar ist. Und so bestimmte damals weniger der Inhalt einer Sendung über ihren Erfolg oder Misserfolg und mehr das Zeitfenster, in dem sie lief. Was auch immer nach „Seinfeld“, einer der populärsten Serien der Neunziger, gezeigt wurde, konnte mit hohen Einschaltquoten rechnen. Es wurde einfach konsumiert. Und nichts gespeichert: Weil im Fernsehen „alles“ gezeigt, aber nichts für die Ewigkeit archiviert wurde, war es eine „decade of seeing absolutely everything before never seeing it again“.
Zumindest teilweise, aber nicht vollumfassend passt das zu dem Mindset, das Gen X zugeschrieben wird. Dieses Mindset wird charakterisiert durch eine ironische Lebenseinstellung, Gleichgültigkeit, und das Bedürfnis, kein Sellout zu sein, also als beispielsweise als Musiker lieber wenige Platten an echte Fans zu verkaufen als im Mainstream zu landen. Nach außen hin haben diese Mentalität vor allem Nirvana und der Film „Reality Bites“ verkörpert; entsprechend bedenkt Klosterman beides mit längeren Textabschnitten. „Smells Like Teen Spirit“, das Lied, das für ihn die Dekade einleitet, bezeichnet er – nicht ganz inkorrekt – als „a version of nothing so close to something it accidentally became everything“.
„The Nineties“ als reines Gen-X-Buch
So wichtig und richtig es aber ist, Nirvana in einem Buch über die Neunziger anzuerkennen – braucht es wirklich eine weitere ausführliche Reflexion über die Bedeutung und den Einfluss der Band? Dass Klosterman als ehemaliger Musikredakteur (er schrieb jahrelang für das Musikmagazin Spin) außer einem Kapitel über Country und einem kurzen Begleittext, in dem es um 2Pac und Notorious B.I.G. geht, sämtliche anderen Musikströmungen und Bands dieses Jahrzehnts unter den Tisch fallen lässt, mutet merkwürdig an. Es fehlt „The Nineties“ sozusagen der Soundtrack.
Die Krux von Klostermans Buch liegt in seiner Gen-X-Perspektive. Als Popkulturkritiker widmet er sich natürlich mehreren popkulturellen Phänomenen, allerdings fast ausschließlich jenen, die eine vermeintliche „Edginess“ haben, aber kulturell positiv sanktioniert, sprich in der Hochkultur akzeptiert sind. Dazu gehören neben Nirvana, „Seinfeld“ und „Reality Bites“ etwa auch David Foster Wallace, „Matrix“ und Quentin Tarantino. Sprich: Die kulturellen Referenzen sind sehr weiß und sehr männlich. Es fehlt die Kultur der Millennials, der Jugend, der Frauen, der Queers.
Natürlich ist es immer einfach, sich über das zu beschweren, was in einem Buch fehlt. „The Nineties“ mit seinem starken Fokus auf Gen X aber beweist, dass Epochen und Generationen zwei sehr verschiedene Dinge sind. Filme und Serien wie „Clueless“, „Der König der Löwen“, „Dawson’s Creek“, „Eiskalte Engel“ und „Buffy“ bleiben unerwähnt, „Beverly Hills, 90210“ ist nur eine Fußnote, Tamagotchis werden ebenso ignoriert wie die Spice Girls oder Britney Spears, deren Debütsong „Baby One More Time“ zwar erst Anfang 1999 veröffentlicht wurde, aber hey – it’s Britney, bitch. Das einzige popkulturelle Ereignis, das weiblich konnotiert und Millennialkultur ist und das bei Klosterman erwähnt wird, ist der Hype um „Titanic“. Aber: Nachdem der Autor diesen Hype beschreibt, verreißt er den Film.
Die heterosexuelle Dekade
Berücksichtigt man seine US- und Gen-X-Sicht, ist eine Auslassung umso eklatanter: HIV und Aids spielen bei Klosterman so gut wie keine Rolle. Klar sind die achtziger Jahre viel mehrdie Aids-Dekade, wenn man diese Formulierung benutzen möchte, doch jede*r, der*die in den Neunzigern aufgewachsen ist, kann sich sehr wohl an die Angst vor HIV als beständige Grundstimmung erinnern. Diese Angst nahm im Laufe des Jahrzehnts zwar ab, weg war sie aber nie. (Der Tod von Freddie Mercury Ende 1991 wird in „The Nineties“ gar nicht erwähnt.) Dabei ist der Einfluss von Aids in den Achtzigern auf das (künstlerische) Leben der Neunziger eklatant. Denn wie Autorin und Hochschullehrerin Sarah Schulman in ihrem Buch „The Gentrification of the mind“ treffend formuliert: „Over and over it struck me how straight the late nineties scene was compared to the eighties … After all, an entire generation of us had died, while straights had continued to live.”
Überhaupt kann sich Klosterman von seiner cishet Perspektive nicht lösen. Das Thema Homosexualität beziehungsweise Queerness allgemein wird auf drei Seiten abgehandelt – und das auch nur als linguistische Analyse der Bedeutungsverschiebung des Wortes „queer“ samt der These, dass „within ten years, the notion of nonchalantly using homophobia as a vehicle for unironic humor would disappear almost entirely“. Das stellt sich die Frage: Hat Klosterman die nuller Jahre komplett ausgeblendet? Eins seiner Argumente für diese Theorie ist, dass sich Ellen DeGeneres 1997 in ihrer Sitcom „Ellen“ als lesbisch outete. Was der Autor dabei nicht erwähnt, ist der große Backlash, den sie erlebte: Nach dem Outing fielen die Einschaltquoten in den Keller, die Serie wurde abgesetzt und Ellen jahrelang geächtet, bis sie 2003 mit ihrer Talkshow zurück im Fernsehen war.
Die Neunziger aus deutscher Perspektive
Bleibt zuletzt noch die Frage: Was müsste in einem Buch, das die neunziger Jahre in Deutschland beschreibt, unbedingt erwähnt werden? Musikalisch zumindest die Phänomene Eurodance, die vielen Boybands, die sich nach dem Erfolg von New Kids On The Block gründeten, Tic Tac Toe, die im Rückblick betrachtet enorm progressiv waren, und die Bedeutung von deutschem Hip-Hop, politisch und gesellschaftlich natürlich Ereignisse wie die Integration der neuen Bundesländer, die Euro-Einführung, die CDU-Spendenaffäre, Anschläge in Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Lichtenhagen und die Kriege in Ex-Jugoslawien.
Wie dieser deutsche Blick auf die Neunziger aussehen, werden wir bald erfahren. Popjournalist Jens Balzer schreibt nach seinen Büchern über die Siebziger und Achtziger jetzt eins über die Neunziger. Ob Balzer (weiß, cis, 1969er Jahrgang) dabei eine andere Sicht hat als Klosterman, werden wir sehen.
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