von Johannes Franzen
Die Vorstellung, dass Kunst einen Sonderstatus besitzen muss, wird in der Gegenwartsgesellschaft wie ein Fetisch verteidigt. Sie gehört zu den semi-sakralen Mythen der Moderne. Die “Anschauung vom außerordentlichen Rang der Dichtkunst”, schreibt Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens, habe sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. In dieser Zeit erhielt der Dichter die Würde eines mit “höchster Autorität auftretenden Schöpfers.”
Es handelt sich um eine Vorstellung, die schon immer etwas leicht Überspanntes hatte. Aber aus der historischen Rückschau scheint zumindest klar, dass der Autonomiegedanke ein effektives Instrument war, um die Kunst aus dem Gefängnis der politischen Nützlichkeit oder gelehrten Fingerübung zu befreien. Heute allerdings hat man zuweilen den Eindruck, dass dieser Sonderstatus einen trostlosen Niedergang erlebt. Die Debatten und Skandale der letzten Jahre zeigen, dass Konzepte wie Autonomie, Fiktionalität und Genie zunehmend dazu herhalten müssen, Varianten eines gewalttätigen Verhaltens zu rechtfertigen und berechtigte politische Anliegen abzuwerten.
Seit einiger Zeit tobt eine Kontroverse durch die deutsche Theaterlandschaft, die diesen Prozess eindrücklich illustriert. Im März dieses Jahres wurde bekannt, dass der Schauspieler Ron Iyamu, seit 2019 am Schauspielhaus Düsseldorf, mehrfach Opfer von rassistischen Übergriffen geworden war. Es handelt sich um Akte nackter Brutalität, wie man hier nachlesen kann. In jedem anderen kommunikativen Kontext würde man nicht einmal auf die Idee kommen, über den Status dieser Taten zu diskutieren. In Teilen der Kulturlandschaft hat sich aber eine ästhetische Ideologie etabliert, mit der gerechtfertigt wird, dass Menschen beleidigt und bedroht werden.
Nach dem Bekanntwerden der Übergriffe formierte sich öffentlicher Widerstand gegen den strukturellen Rassismus an deutschen Theatern. Forderungen wurden aufgestellt, Reformen angeregt, eine Debatte in Gang gesetzt. Im Kontext dieser Debatte steht auch der Beitrag von Bernd Stegemann, Dramaturg und Professor für Theatergeschichte, der zuletzt vor allem durch sein publizistisches Engagement gegen die angeblichen Greuel der Identitätspolitik bekannt geworden ist. Stegemanns Einlassungen zur Kontroverse um die rassistischen Übergriffe an deutschen Theatern erscheinen zunächst auch nur wie ein Aufguss der immergleichen Debattentexte gegen die sogenannte “Cancel Culture”.
Der Text geht allerdings über das generische Mahnen hinaus, das oft in einem vornehm zurückhaltenden Ton des Über-den-Dingen-Stehens gehalten ist. Stegemanns Artikel sorgte für Empörung und wurde mit einem offenen Brief beantwortete, den 1400 Menschen unterschrieben haben. Diese deutliche Reaktion liegt vor allem am perfiden Flair von Stegemanns Argumentation, die mit äußerster Grausamkeit über die offenen Formen rassistischer Gewalt, die Menschen erlebt haben, hinweggeht.
Stegemann spielt die Übergriffe nicht nur herunter, sondern rechtfertigt sie auch ästhetisch. Diese Übergriffe erscheinen ihm nämlich im Rahmen der künstlerischen Anforderungen, die die Arbeit an einem Theater nun mal an die Schauspieler stellt, vollkommen normal. Wenig subtil wird in diesem Kontext die darstellerische Leistung von Ron Iyamu marginalisiert und suggeriert, gerade er hätte die Härte, mit der man in der Extremsituation der Probe zu Höchstleistungen getrimmt wird, eigentlich gut gebrauchen können. Stattdessen habe er aber „diese Mühen offenbar abgebrochen und sich stattdessen immer öfter in den Selbstschutz der empörten Kränkung begeben.“ Zu den politischen Implikationen dieser niederträchtigen Argumentationsfigur hat Mithu Sanyal in ihrer Replik alles gesagt: „Nichts ist leichter, als eine Grenzüberschreitung zu verzeihen, die einem anderen zugefügt wurde.“
Stellt sich noch die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass eine solche Argumentation zustande kommt und dass sie mit dem Selbstbewusstsein erfahrungsgestützter Expertise vorgetragen werden kann. Ein Mensch wurde als „Sklave“ und „N-Wort“ bezeichnet und mit einem Messer bedroht. Die Einschätzung dieser „Kränkungen“ möchte der erfahrene Dramaturg Stegemann allerdings differenziert sehen:
„Bei den Kränkungen, die Ron Iyamu aufzählt, ist die Lage noch einmal komplizierter, da sie im Kontext von Theaterproben stattfanden. Hier treffen Künstler aufeinander, deren Talent darin besteht, sich auf fiktionale Welten einlassen zu können. Je angstfreier sich ein Schauspieler seiner Figur und ihren Ausnahmezuständen nähert, desto komplexer wird sein Spiel.“
Hier ist er also wieder, der moderne Fiktionalitätsbegriff, der in der Gegenwart immer häufiger eingesetzt wird, um jegliche Form von Fehlverhalten, das im Schutzraum der Kunst stattfindet, nicht nur zu rechtfertigen, sondern auch ästhetisch zu adeln. Das Entsetzen über die Gewalt, die einem im Kontext einer ästhetischen Situation wie der Theaterprobe widerfährt, wäre dann nur Ausdruck einer mangelnden Fiktionskompetenz. Es war ja nicht so gemeint, es war ja alles Kunst, Spiel, Rollenlyrik.
Was in Stegemanns eigentümlicher Argumentation zum Vorschein kommt, ist die Politisierung des Autonomieparadigmas – ein Prozess, der sich gerade an allen Ecken der Kultur beobachten lässt. Die moderne Vorstellung von der Freiheit der Kunst und des Künstlers wird immer mehr gegen politische Forderungen nach Teilhabe in Stellung gebracht. Für Stegemann erscheint schon der Verzicht auf rassistische Bedrohungen selbst wieder als eine Bedrohung der Kunst. „Die Theateraufführung und die Theaterprobe“, schreibt er, „sind eine Ausnahme in der Realität. Wenn für sie die gleichen Umgangsformen gelten wie im Alltag, dann entsteht nur noch Theater, das so langweilig ist wie der Alltag.“
Nicht als „Sklave“ bezeichnet zu werden, nicht mit einem Messer bedroht zu werden, ist also „Alltag“ und „langweilig“. Umgangsformen dürften in der Extremsituation der ästhetischen Entäußerung nicht gelten. Es sei ein Fehlschluss der Menschen, die sich gegen den Rassismus an deutschen Theatern wehren, schreibt Stegemann, „dass sie den geschützten Raum der Probe in einen ‚Safe Space‘ verwandeln wollen, der den Alltagsempfindlichkeiten unterworfen ist.“ Hier wird der Safe Space, in dem man nicht diskriminiert werden möchte, gegen den Schutzraum der Kunst ausgespielt – eine Kunst, die rätselhafterweise offenbar Diskriminierung braucht, um funktionieren zu können.
Das alles sind verblasene, aber leider weitverbreitete Vorstellungen von der außeralltäglichen Extremsituation der Kunst, die sich angeblich dem schnöden Alltag entziehen muss, um Höchstleistungen hervorzubringen. Es wirkt allerdings verräterisch, dass die Freiheit, die sich im scheinbar fiktionalen Ausnahmezustand der Probe vollzieht, immer nur von den hierarchisch oben stehenden Akteuren genossen wird. Fast scheint es so, als würde man in der besonderen Verantwortungslosigkeit des zumeist männlichen weißen Genies eine Gesellschaftsordnung verteidigen, und zwar eine Gesellschaftsordnung, in der die befreiten Kraftkerle der Kunst als heroische Figuren einer allgemeinen Verantwortungslosigkeit erscheinen.
So ist dann jeder, der es sich leisten kann, ein potentielles Genie der Ästhetik, das sein gewalttätiges Verhalten irgendwann durch künstlerische Hochleistungen ausgleichen kann. Patriarchale Gewalt gehört, beispielsweise wenn sie von einem dämonischen Künstler kommt, zu den beliebten Erzählungen der Moderne. Der Mythos der Kunst wird durch solche Geschichte nicht beschädigt, sondern sogar verfestigt, da sie, wie Simon Sahner in seinem Essay zu “Toxische Mythen kultureller Heldenverehrung” analysiert als regelrechte Authentizitätsmarker dienen.
Das alles hat inzwischen dazu geführt, dass es eine ideologische Verschiebung der Konzepte gegeben hat, die den Sonderstatus von Kunst begründen. Wolfgang Ullrich beschreibt diesen Zusammenhang in seinem Buch Feindbild werden als eine Art reaktionärer Wende in der Codierung von Konzepten wie Autonomie und Genie. Stegemanns Text ist ein eindrückliches Beispiel für diese komplexe Entwicklung, da der Kontrast zwischen den augenfällig gemeingefährlichen Taten und dem Versuch der kulturideologischen Rechtfertigung so deutlich erscheint. Die Autonomisierung der Kunst seit dem 18. Jahrhundert hat als ein Projekt der Emanzipation aus Zwangsmechanismen begonnen. Inzwischen ist dieser Gedanke aber zu einer Ideologie geronnen, die sich gegen berechtigte politische Anliegen in Stellung bringen lässt und einer bestimmte Form des toxischen Verhaltens in Institutionen die höheren Weihen des Ästhetischen verleihen soll.
Theater scheinen für diese Art des Hierarchieverhaltens besonders anfällig zu sein. Wer mit Menschen redet, die am Theater arbeiten, oder gearbeitet haben, hört viele Anekdoten von übergriffigem, gewalttätigem Verhalten, das sich grundsätzlich aus einer vagen Kunst- und Genieideologie legitimiert. Die Vorstellung, dass große Künstler*innen, zumeist Regisseur*innen oder Intendant*inen, an einer Extremsituation partizipieren, die ein berserkerhaftes Verhalten nicht nur rechtfertigt, sondern sogar einfordert, gehört zum festen Haushalt der institutionellen Selbsterzählungen. Für Menschen mit weniger Macht in dieser Institution fühlt sich das aber ganz anders an. Es sei gefährlich, schreibt Mateja Meded in einem wütenden Text, „im Theater auf Missstände hinzuweisen, wenn man sich im unteren Bereich der Machtpyramide befindet. Man wird aussortiert.“
Diese toxische Kunstideologie wird allerdings nun infrage gestellt, das zeigt nicht nur der Protest gegen Stegemann. Im März dieses Jahres musste Klaus Dörr, der Intendant der Volksbühne zurücktreten, nachdem ein umfängliches Dossier von Victoria Morasch in der taz von sexualisierten Übergriffen und verbalen Einschüchterungen berichtete. Dort hieß es unter anderem:
“Bei der Arbeit rechtfertigen künstlerische Freiheit sowie ein immer noch fortbestehender Geniekult unangenehmes bis übergriffiges Verhalten, und am Ende soll das Gefühl alle Wunden kitten, überhaupt am Theater sein zu dürfen, seine Leidenschaft zum Beruf gemacht haben zu dürfen.”
So wird eine modernistische Kunstideologie zur Begründungsfigur für toxische Hierarchien. Wie stark diese Ideologie immer noch wirkt, zeigt auch der Fall des Maxim Gorki Theaters, das eigentlich schon seit längerem politisch progressive Projekte fördert, wo aber nun die Intendantin Shermin Langhoff in der Kritik steht, ein “Klima der Angst” geschaffen zu haben.
Hier wird deutlich, dass das Problem nicht unbedingt in der inhaltlichen Ausrichtung steckt, sondern in einer Organisationskultur, die durch eine institutionalisierte Kunstideologie stabilisiert wird. Diese Ideologie beruht auf der Vorstellung, dass gute Kunst nur aus Leiden entstehen kann. Wo diese Vorstellung aber in einer strammen Hierarchie ausgelebt wird, läuft es darauf hinaus, dass Menschen Kunst mit den Leiden anderer Menschen fabrizieren. Die gegenwärtige Ausformung des Kunst-ist-Qual-Gedankens scheint auf einem Outsourcing der Qualen zu beruhen.
In der seltsam störrischen Verteidigung dieses Systems, wie sie etwa bei Stegemann stattfindet, drückt sich ein unterschwelliges Bedürfnis aus, eine bestimmte Form des Hierarchieverhaltens und der ästhetisierten Verantwortungslosigkeit generell zu rechtfertigen. Dadurch wird Kunst, oder besser gesagt der moderne Kunstbegriff aber im eigentlich Sinne beschädigt, indem er nämlich zu einem politischen Instrument degradiert wird, das bestimmte Formen etablierter Macht verteidigen soll. Was hier verteidigt wird ist nicht die Kunst, sondern die Freiheit der Macht.
Hat euch dieser Text gefallen? Dann unterstützt unsere Arbeit einmalig oder regelmäßig!
Keinen Text auf 54books mehr verpassen? Dann meldet euch hier für den Newsletter an.
Beitragsbild von Karen Zhao