Jahr: 2023

Dunkle Academia – Donna Tartts „Die geheime Geschichte“ und die Folgen

von Benita Berthmann

Eine Gruppe prätentiöser Student*innen an einem Elite-College in Vermont; ein Griechisch-Professor, der an einen Guru erinnert; eine ordentliche Menge erotischer Spannungen, Drogen und Mord. Das sind die Voraussetzungen für Donna Tartts The Secret History, dem Roman, den sie – so zumindest die Legende – ihren eigenen College-Erfahrungen nachempfunden hat. Und obwohl ihre Geschichte in den 1980er Jahren spielt, findet sie auch im Jahr 2023 immer neue Leser*innen. Das geschieht nicht zuletzt auf der Plattform TikTok, die die Autorin – 30 Jahre nach dem Erscheinen des Romans – zur Königin jener morbiden Ästhetik erhebt, die als Dark Academia bezeichnet wird. Die Nutzer*innen preisen nicht nur das Buch selbst an, sondern haben auch Empfehlungen für dazu passende Musikplaylisten, die Ästhetik widerspiegelnde Kleidung, Dekoration und weitere, in eine ähnliche Kerbe schlagende Romane und Filme wie Kill Your Darlings parat. Sie sollen die Vibes des verschworenen akademischen Freundeskreises evozieren, in den der Ich-Erzähler Richard Papen hineingezogen wird.

„Schönheit ist Schrecken“

Was genau macht dieses ästhetische Programm aus? Es stützt sich auf das Elitäre, Bildungsbürgerliche, auf die Romantisierung der akademischen Arbeit. Es geht darum, das Leben dem Lernen, Lesen und Schreiben zu widmen, ein Geistesmensch zu sein. Und das ganze bei Kerzenschein, vor einem Bücherregal voller Klassiker, auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher nebst weiteren Stimulanzien, die Kreativität, Innovation und Tatendrang fördern sollen. Ihre Anhänger*innen glorifizieren geschlossene Welten, Internate und Colleges, weit weg von (elterlichen) Einflüssen, von denen man sich zu emanzipieren sucht. Es geht um die Zurückgezogenheit, darum, sich ganz der geistigen Arbeit zu widmen – und vielleicht auch den dunklen Seiten der menschlichen Existenz, die den düsteren Teil des Lebens nach den Prinzipien der Dark Academia bilden.

Diese Verbindung von Dunkelheit, von Sünde und Schuld, nobler und feinsinniger Kultur verordnet der so seltsame wie mit seinem immensen Wissen und kulturellen Kapital beeindruckende Professor Julian Morrow programmatisch für das Leben seiner exklusiven Anhängerschaft. Neben Richard Papen besteht sie aus dem Anführer der Gruppe Henry Winter, den Zwillingen Charles und Camilla Macauley, dem reichen Bonvivant Francis Abernathy, und aus Edmund Corcoran, genannt Bunny, dessen gewaltsamer Tod durch seine Freunde herbeigeführt wird – ein Mord, der schon im ersten Satz des Romans offenbart wird.

„Schönheit ist Schrecken“, heißt es, „was immer wir schön nennen, wir erzittern davor.“ Und das funktioniert auch umgekehrt. Dem Schrecklichen wohnt eine Schönheit inne, die elektrisiert. Von Bunnys gewaltsamen Tod geht eine Faszination aus, der wir uns als Leser*innen nicht entziehen können. Wir finden Gründe und Entschuldigungen, warum Henry einen nahezu perfekten Plan ausheckt, wie er seinen früheren Freund Bunny aus dem Weg räumen kann. Wie verzeihen der Gruppe ihre Fehler – zumindest über ziemlich weite Strecken.

Einem Teil der Rezipient*innen scheint nicht klar zu sein, dass diese Romantisierung des zurückgezogenen Gelehrtendaseins, immer haarscharf am Abgrund des Bösen vorbeischrammend, nur bedingt trägt. Zu gerne lässt man – auch ich – sich vom ätherischen Charme der Figuren einlullen und vergisst dabei, die Klischees, die Vorstellungen, die der Roman entwirft, mit der Realität abzugleichen. Dabei ist es doch ziemlich offensichtlich, dass Tartt – sobald der perfide Mordplan an Bunny umgesetzt ist – auch die Dekonstruktion dieser Kulisse vornimmt, die Fehler und die Folgen einer solchen Tat offenbart. Enthüllungen wie Charles‘ Alkoholproblem sind als Demaskierung zu lesen, als klares Statement, dass weder der Geniegedanke funktioniert noch die Beschwörung eines engen Zirkels, den das gemeinsame Verbrechen vereint.

Diese Desillusionierung, die in der Struktur des Romans angelegt ist, wird aber nicht von allen gegenwärtigen Rezipient*innen wahrgenommen. Auf Tiktok kann vor allem Henry Winter, als Mastermind der Gruppe, weibliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er ist ein Mörder und breitet sein extremes Charisma trotzdem auch auf die Leser*innen aus. So wird der weniger charmante Teil seines Charakters überlesen und bewusst ignoriert „because he’s smart and hot.“

 Es ist cool und aufregend und erfüllt natürlich auch ein Bedürfnis danach, anders zu sein, wenn man die vielen Red Flags absichtlich übersieht, die Henry mit sich bringt – es ist ein bisschen gefährlich, Angstlust stellt sich ein, aber auch ein Gefühl von „I can fix him“: „He’s a ten but is a pathological liar, killed his best friend, refused to take the SAT because it didn’t match his aesthetic, performs rituals after murder, didn’t finish high school, plans  to live off his parents money, and speaks 8 languages.“

Vielleicht liegt der Reiz einer solchen Figur auch darin, dass man sich mit ihr einer Fiktion hingeben kann, die gerade deshalb so aufregend ist, weil sie sich unmöglich in die Realität übersetzen lässt. Henry kann sich – ohne jegliche Verpflichtung zu irgendeiner Glaubwürdigkeit – Dinge herausnehmen, die uns als Leser*innen verwehrt bleiben. Kein normaler Mensch kann sich entscheiden, die SATs, also das amerikanische Abituräquivalent, aus „ästhetischen Gründen“ nicht zu schreiben. Henry ist eine fiktionale Figur, auf die sich das Bedürfnis projizieren lässt, frei von schulischen oder notenbedingten Zwängen, vielleicht auch frei von Druck, den andere einem machen und nur durch eigenen Antrieb ein intellektuelles Leben zu führen.

Die snobistische Überheblichkeit, die er, auch im Vergleich zum Rest des Freundeskreises nochmal besonders überhöht, an den Tag legt, erscheint für einen Studenten unplausibel . Der Geniegedanke umfasst dabei nicht nur Henry, sondern auch die Autorin, die ebenso zurückgezogen lebt wie das Griechischseminar: Nur alle zehn Jahre kommt ein neues Buch von ihr, das macht auch sie rätselhaft und geheimnisvoll. Man kann sie idolisieren, weil man ihr gar nicht so nahekommen kann, dass man einen möglichen „fatal flaw“ bemerken müsste.

In dieser Glorifizierung und Ästhetisierung von einer Art kollektiven Fehllektüre zu sprechen,  geht allerdings zu weit. Der Begriff „Fehllektüre“ impliziert ja schon, dass es eine korrekte Lesart geben könnte. Man muss sich aber fragen, ob man Menschen wirklich vorwerfen kann, dass sie falsch lesen. Wäre nicht auch das eine Art der Überheblichkeit, zu sagen, nur ich habe dieses Buch wirklich verstanden? Lesen ist ein individueller Prozess, aber es scheint sich hier doch eine Art kollektiv vorgegebene Lesart abzuzeichnen, wenn man auf die sozialen Medien schaut. Der soziale Einfluss gibt eine Rezeptionshaltung vor, man weiß schon, wie man zu lesen und was man zu erwarten hat. Man findet dort Einschätzungen wie diese: Bunny verdient es zu sterben und Henrys umfassende Bildung ist hot, die ästhetischen Werte sind wichtiger als die moralischen.

Damit wird ein Distinktionsbedürfnis erfüllt, das wiederum FOMO kreiert, die natürlich durch die Perpetuierung in den sozialen Medien noch gesteigert wird. Das Buch nur zu lesen, reicht nicht mehr, die Lektüre muss zu einer immersiven Sinneserfahrung werden, die von Musik, Kleidung und einer unbedingten Orientierung an den Geisteswissenschaften getragen wird. Das zeigt auch der Trend auf TikTok, der unter dem Signum „You forgot your Colleen Hoover book“ firmiert – es werden Bücherstapel gezeigt, die klarmachen sollen, dass die betreffende Person natürlich auf keinen Fall, niemals ein Buch von Colleen Hoover lesen würde, insinuierend, dass das selbstverständlich nicht den eigenen Ansprüchen und dem Niveau genügen würde. Stattdessen werden Tartt, Camus, Dostojewski in die Kamera gehalten, die zeigen sollen: Ich grenze mich vom Lesepöbel ab, ich bin klug genug, den schwierigen Kanon zu lesen, Romance Novels sind unter meiner Würde, ich bin belesen.

„I am nothing in my soul if not obsessive“

Darüber hinaus unterläuft Tartt Genrekonventionen. Ihr Roman widersetzt sich dem klassischen Schema eines Whodunnit. Sex und Mord finden größtenteils außerhalb der erzählten Handlung statt. Wir sind Richards Innenwelt und damit seiner doch eingeschränkten Sicht verpflichtet, die von Anfang an eine Außenseiterperspektive ist. Richard, der aus einer kleinbürgerlichen Familie aus Kalifornien stammt, und der seiner eigenen obsessiv-akademischen Natur gegen den erklärten Widerstand seiner Eltern folgt, stößt im ländlichen Vermont auf einen schon bestehenden Kreis aus Griechischstudierenden. Er wird zunächst widerwillig und auch nur oberflächlich aufgenommen: Die Gruppe verbirgt Geheimnisse und schließt Richard ständig aus. Dem Grund dafür kommen wir nur langsam auf die Spur.

Der Kreis der Fünf ist freundlich, doch ihre Reserviertheit tritt uns auf jeder Seite entgegen. Wir ahnen, zusammen mit Richard, dass etwas nicht stimmt. Dass die faszinierenden Philosophien, die sie mit ihrem Lehrer Julian teilen, nicht nur Gedankenspiele sind. Tartt führt uns in ihrem Roman Schritt für Schritt an die Schattenseiten dieser morbiden Ästhetik heran. Wir haben verstanden, dass der, der sich dem „fatal flaw“, der im Deutschen nicht so ganz treffend mit „Keim des Verderbens“ übersetzt wird, dem „morbiden Verlangen nach dem Pittoresken um jeden Preis“ verschreibt, diesen Weg auch bis zum Ende, bis zum Äußersten gehen muss. So wie Richard. „I am nothing in my soul if not obsessive”, gibt er uns schon von Beginn seiner Geschichte an zu verstehen, ein Satz, der sich in der deutschen Übersetzung so merkwürdigerweise nicht findet.

Die Autorin hat reiche Charaktere geschaffen, jede Figur hat eine eigene Story im Hintergrund, keine ist nur Komparse. Alle, die auftreten, haben eine Aufgabe in der Geschichte, noch die geringste Nebenfigur ist fast physisch greifbar, wie die heimliche Heldin Judy Poovey. Mit ihr zieht Richard einige Lines Kokain auf dem Burger-King-Parkplatz, sie ist die Trailer-Park-Princess, die das Gegenteil zur ätherisch-elitären Camilla darstellt und für ihn das Brückenstück zum restlichen, zumindest ein wenig normaleren College-Leben bildet. Hampden College wird so zu einem lebendigen Paralleluniversum, in dem wir uns verlieren, in dem wir an die Macht von Worten, von Literatur und an ihre berückende Kraft glauben können.

„Weil es gefährlich ist, die Existenz des Irrationalen zu ignorieren“

Wir wissen aber, dass dieses Märchen nicht gut ausgehen kann. Tartt verrät uns alles, was normalerweise die Spannung eines Kriminalromans, eines Whodunnit ausmachen würde. Und genau das ist die Stärke von The Secret History. Die Geschichte lässt sich nicht in ein Genre pressen, sie ist Krimi und Bildungsroman zugleich, enthält Elemente der griechischen Tragödie und der Nietzscheanischen Philosophie. Selten schaffen es Autor*innen, noch dazu mit ihrem Erstlingswerk, so eine eigenständige, wiedererkennbare und doch auch mitreißende Sprache zu entwickeln. Auf den etwa 700 Seiten gibt es auch nach mehrfacher Lektüre immer noch einen perfekten Nebensatz zu entdecken, der sich in neuem Licht offenbart. Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb sich das Buch nun schon dreißig Jahre halten kann.

Da kann die literarische Mode, die sich aus dem Hype spinnt, nur bedingt mithalten. Ein Buch wie If We Were Villains kopiert stumpf die Prämisse der Secret History, ist aber nicht in der Lage, die Rätselhaftigkeit und den sprachlichen und figürlichen Reichtum des ‚Originals‘ nachzuahmen. Dennoch funktioniert der Trend, vor allem für jene Leser*innen, die nach Schemata lesen: Comfort Reader wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie ein Buch kaufen, das als Dark Academia vermarktet wird. Der Buchmarkt freut sich. Ob die Nachahmer mit dem Blueprint in literarischer Hinsicht mithalten oder nicht, ist egal. Wenn es so vermarktet wird und dann auch noch auf einer TikTok-Empfehlungsliste für DA-Bücher auftaucht, wird es gekauft.

Warum hat diese Ästhetik des Gelehrten und gleichzeitig in Abgründe des Moralischen blickenden so viel Identifikationspotential? Und warum vor allem jetzt, wo die Geisteswissenschaften überall wenn nicht zusammengestrichen, so doch finanziell systematisch ausgehungert werden? Wahrscheinlich ist Wissen zum Selbstzweck weiterhin Sehnsuchtsziel – und was eignet sich dafür besser als eine tote Sprache, die dieses hehre Ideal vollumfänglich verkörpert und dem Ganzen eine gute Prise kribbelnder Angstlust hinzufügt? Hampden College ist eine Welt, in der dieser Niedergang zumindest zeitweise aufgehalten wird.

In der Freundesgruppe unterliegt einzig Richard dem neoliberalen Verwertungszwang, später einen ‚sinnvollen‘, das heißt in erster Linie Geld bringenden Job finden zu müssen, alle anderen können sich der Illusion hingeben, dass eine klassische geisteswissenschaftliche Bildung noch etwas zählt. Eine Illusion, der auch ich als Leserin mich nur zu gerne überlassen würde. Auch die Sehnsucht nach Bildung als Weltauslegung, die so nicht mehr vorgesehen ist, dürfte eine Rolle spielen: Eine umfassende (Aus-)bildung im Sinne historischer Bildungsideale ist so nicht mehr möglich, aber Tartt gibt einem den Funken einer Idee, wie es sein könnte.

Dass sich die Diskussion um Dark Academia dabei so sehr an Tartts Debüt aufhängt, liegt daran, dass es zum Kultbuch gediehen ist, das Distinktion und Identifikation verzahnt und auf mehreren Ebenen ermöglicht: Die Charaktere, besonders Francis, sind queer-coded, literaturaffin wie es ihre Leser*innen sind (oder zumindest sein wollen) und modebewusst. Sie tragen hochwertige, maßgeschneiderte Tweed-Anzüge, Bunny macht sich darüber lustig, dass Richards (ungebildete und ärmliche) Mutter wohl Polyester-Hosenanzüge trägt.

Gleichzeitig werden auch das Außenseitertum Richards und die damit verbundene Scham zum identifikatorischen Potential: Er gehört nie so ganz dazu, bekommt die abgelegten Anzüge von Henry und Francis oder kauft im Second-Hand-Shop der Heilsarme. Er traut sich nicht, den Freunden zu erzählen, dass er während der Semesterferien keinen Schlafplatz hat. Lieber erfriert er fast, als zuzugeben, kein Geld zu haben und nicht zu den Eltern zu können, für die er sich schämt. Tartt schafft Prototypen, die in ihrer Übersteigerung klare Orientierungspfeiler ausmachen in Zeiten, in denen vieles unklar, schwammig, orientierunglos erscheint. Dieses Orientierungs- und Weltauslegungsbedürfnis spiegelt sich denn auch in der gesamten Ästhetik wider, die hier bedient wird: Dorische Säulen sind so tradiert, in ihrer Schönheit so zeitlos wie die Nocturnes von Chopin, die Texte von Dostojewski und traditionsreiche Herrenausstatter wie Knize und Brandstetter. Und trotzdem bilden die Grundpfeiler kein strenges Korsett, sondern einen Möglichkeitsraum: Wer Shakespeare, Homer oder die Brontes gut genug kennt, kann sie queeren, kann die eigene Identität vor dieser Folie entfalten.

Das ist eine Entfaltungsoffenheit, die auch den Reiz des Buches ausmacht: Man muss die Desillusionierung der Geschichte nicht mitmachen, es gibt keinen Zwang, alle Stränge aufzuklären, die Rezipient*innen können sich dafür entscheiden, sich der Romantisierung hinzugeben – ob sie nun trägt oder nicht ist egal. Aus den Träumen der Fiktion muss niemand erwachen.

Kunst kaufen mit Girl Math – Von Sofas, NFTs und Finanz-Tipps

von Angelika Schoder

Ich mag mein Sofa nicht mehr. Dabei schien es absolut perfekt zu sein, als ich es vor ein paar Jahren entdeckte. Es stammt aus dem Lager für B-Waren eines sehr teuren Hamburger Möbelhauses, das üblicherweise nur Marken führt, von denen man als normaler Mensch noch nie gehört hat und deren Möbel durchweg vier- oder fünfstellige Beträge kosten. Ich konnte und wollte natürlich nie so viel Geld für meine Einrichtung ausgeben, aber eine Zeit lang ging ich ab und an mit meinem besten Freund in dieses Möbelhaus, um die schrill eingerichteten Wohnbeispiele zu bestaunen, die immer ein bisschen zu sehr nach Prunk-Designer Harald Glööckler oder Glitzer-Ikone Philipp Plein aussahen. Mein bester Freund wollte sich hier für seine neuen Wohnung inspirieren lassen. Ich kam eigentlich nur mit, um ihm moralischen Beistand zu leisten und ihn zu mahnen, dass man für einen Esstisch wirklich kein Monatsgehalt investieren sollte.

Bei einem solchen Möbelhausbesuch entdeckte ich im Nebengebäude mit den B-Waren irgendwann das besagte Sofa, mit dem ich heute nicht mehr glücklich bin. Eigentlich wollte ich damals gar nichts kaufen. Aber zwischen wild zusammengewürfelten Möbelexponaten zweiter Wahl und Einrichtungsgegenständen mit kleinen Macken fand ich es: das vermeintlich perfekte Sofa! Es war winzig, als hätte man ein ernstzunehmendes Möbelstück geschrumpft. Das überzeugte mich sofort, denn ich hatte überhaupt keinen Platz in meiner kleinen Wohnung und deshalb den Gedanken an ein Sofa eigentlich schon längst aufgegeben. Der Preis war, aus meiner damaligen Perspektive, zwar happig, denn auch wenn das Sofa im Lager für B-Waren angeboten wurde, war es noch immer die B-Ware eines absurd teuren Möbelhauses. Und obwohl es in Schrumpfoptik daher kam, kostete es eben dennoch so viel wie ein ausgewachsenes Exemplar.

Aber es half nichts: Sofa first, Bedenken second, wie mir Finanzminister Christian Lindner sicher zugestimmt hätte, um mich dazu zu bewegen, die Wirtschaft anzukurbeln. Wenige Tage später stand das Sofa dann in meiner Wohnung, am Stück geliefert. Diese Tatsache bestätigte mich damals nur noch mehr in meiner Überzeugung, mich genau richtig entschieden zu haben. Das Sofa war das erste Möbel in meiner Wohnung, das keine Montage erforderte. So müssen sich reiche Leute fühlen, wenn sie Möbel kaufen, dachte ich damals.

Meine Begeisterung hielt nur kurz. Im täglichen Einsatz erwies sich das Sofa als echte Diva. Die Sitzfläche war schnell durchgesessen, obwohl ich kaum selbst darauf saß und nur selten Besuch darauf Platz nahm. Zudem wirkte es instabil, sobald sich jemand darauf nieder ließ. Theoretisch für zwei Personen gedacht, achtete ich stets darauf, dass sich immer nur zwei „leichte“ Personen hier platzierten. Erschien mir jemand eher schwer, erhielt diese Person das Exklusivrecht für das Sofa. Vor meinem inneren Auge sah ich regelmäßig das Möbel in sich zusammenfallen, jeden Moment rechnete ich mit dem Schlimmsten. Um dies zu verhindern, diente das Sofa irgendwann nur noch als Ablage für getragene Kleidung, die zu sauber ist für die Wäsche aber zu benutzt, um sie wieder in den Schrank zu hängen. Die meisten Menschen haben dafür den legendären „Klamotten-Stuhl“, ich habe dieses Sofa.

Das soll sich nun ändern, das ungeliebte Sofa kommt weg. Statt dessen wird es durch ein anders ersetzt, das ähnlich klein, aber hoffentlich deutlich stabiler sein wird. Bei der Suche nach einem Ersatz begann ich nach günstigen Möbeln zu suchen und war irgendwann in die bunte Warenwelt der der Online-Möbelhändler so tief eingesaugt worden, dass ich nicht mehr wusste, ob ich nur noch ein Sofa kaufen oder am liebsten gleich meine ganze Wohnungseinrichtung austauschen wollte. Ich nahm all meine Beherrschung zusammen und entschied mich nur für ein neues Sofa. Es war im Angebot, dank Newsletter-Abo gab es nochmal Rabatt und ich fühlte mich, als hätte ich das endgültige Schnäppchen gemacht. Dann fiel mir ein, dass das neue Sofa jetzt exakt genau so viel kostet wie das ungeliebte, das es ersetzen soll. Und dessen Preis erschien mir damals ja wie gesagt ganz schön teuer. Mit einem Gedanken an Girl Math wischte ich diese Bedenken beiseite. 

Mehrere hundert Euro verdient – dank Girl Math

Beim Konzept des relativ misogynen Begriffs Girl Math geht es darum, sich Dinge schön zu rechnen. Der Begriff taucht seit einigen Monaten in diversen Social-Media-Netzwerken auf und besonders Menschen aus der Generation Z, also die zwischen 1997 und 2012 Geborenen, berichten etwa auf TikTok oder in Instagram Reels, wie sie sich dank Girl Math ihre Finanzen schön rechnen. Ein Beispiel: Ich kaufe etwas, das um einen bestimmten Betrag reduziert ist. Dann habe ich der Girl-Math-Logik nach ein Plus gemacht in Höhe des reduzierten Betrages. Oder mein Lieblingsbeispiel: Ich entscheide mich dafür, etwas nicht zu kaufen. Dann habe ich damit quasi einen Betrag in dieser Höhe verdient, den ich dann für etwas anderes ausgeben kann. Nach dieser Logik könnte ich mir alles kaufen – solange es reduziert ist, mache ich immer Plus. Oder ich könnte im Prinzip Geld ansparen, indem ich mir Sachen nicht kaufe.

Zum Beispiel habe ich jetzt in diesem Moment genau 1.199 Euro Plus gemacht, weil ich mir kein neues iPhone 15 Pro gekauft habe. Zusätzlich habe ich gerade außerdem weitere 219 Euro dazu verdient, weil ich mir diese Dr. Martens Schuhe nicht gekauft habe, die mir immer bei Instagram als Werbung angezeigt werden. Das könnte immer so weiter gehen. Auch bei meinem Sofakauf habe ich, dank Girl Math, mehrere hundert Euro verdient, weil es reduziert war und ich noch einen Rabattcode nutzen konnte. Außerdem habe ich über 1.000 Euro plus gemacht, weil ich nicht dem Impuls nachgegeben habe, mir auch noch einen neuen Küchentisch mit passenden Stühlen zu kaufen. Millennials, also die Vorgänger der Gen Z, können sich hier wirklich etwas abschauen; Girl Math funktioniert Generationen-übergreifend. 

Aber wohin nun mit dem ganzen Geld, das ich dank Girl Math zusammengespart habe? Noch vor ein paar Jahren hätte ich mir das nicht zugetraut, aber: Ich habe mich dazu entschieden, zum ersten Mal in meinem Leben Kunst zu kaufen. In meinem gleichaltrigen Millennial-Umfeld ist Kunstkauf schon länger ein Thema. Es geht dabei natürlich nicht darum, bei einer Auktion irgend ein wertvolles Werk eines weltberühmten Künstlers zu ersteigern. Auch lässt man sich nicht in einer Schickimicki Galerie oder bei einer exklusiven Kunstmesse irgend eine knallbunte Geschmacklosigkeit andrehen. Es ist sicher ein interessantes soziales Umfeld, in dem so etwas vorkommt – aber es ist nicht meines.

Meine Freunde und Bekannten sind nicht reich, sie haben keine Jobs, die ein finanziell extravagantes Leben ermöglichen. Das Geld reicht aber dafür, sich schöne Dinge zu kaufen, die man nicht unbedingt zum Leben braucht. Dazu gehört auch Kunst, zumindest die Art von Kunst, die als bezahlbar gilt. Manche Menschen in meinem Umfeld haben Kunst gekauft, die so viel kostet wie ein Restaurantbesuch. Andere haben so viel ausgegeben, dass sie sich von dem Geld auch einen ganzen Urlaub hätten leisten können. Fast immer wird bei der Erzählung vom Kunstkauf erwähnt, man habe vor allem deshalb ein Werk erworben, weil man es schön finde – und weil man die Künstlerin oder den Künstler kenne und sich freue, die Person mit dem Kauf unterstützen zu können.

Diese Überlegung spielte auch für meine Eltern eine Rolle, obwohl sie eigentlich nicht die typischen Kunstkäufer sind. Ein großer Wunsch meines Vaters war es immer, ein Werk einer bestimmten Künstlerin aus unserer Kleinstadt zu besitzen. Die Künstlerin ist nur regional bekannt und es war klar, dass ein Bild von ihr kein Investment sein würde, bei dem man irgendwann mit einer Wertsteigerung rechnen könnte. Es ging rein um den persönlichen Wunsch, aus regionaler Verbundenheit heraus ein Werk dieser Künstlerin zu Hause zu haben. Nach vielen Jahren konnten sich meine Eltern den Wunsch erfüllen, als die Künstlerin neben ihren üblichen großen und relativ teuren Werken auch günstigere Arbeiten anbot.

Meine Mutter nutzte die Chance und schenkte meinem Vater zwei kleine Radierungen, jede kostete etwa 100 Mark. Irgendwann erweiterten meine Eltern ihre Sammlung zeitgenössischer Kunst um ein drittes Werk, ein Gemälde eines anderen regionalen Künstlers. Das kostete etwa 200 Euro und meine Eltern überlegten auch hier sehr lange, ob sie sich das Bild kaufen sollten. Es gibt sicher Menschen, die das belächeln würden, sich so lange Gedanken über den Kauf von etwas zu machen, das gerade so viel kostet wie für andere ein Restaurantbesuch oder ein neues Kleidungsstück. Fakt ist aber, dass 100 Mark oder 200 Euro für einige Menschen doch viel Geld ist. Und den meisten Menschen würde, auch wenn sie das Geld einfach so ausgeben könnten, wohl nicht als erstes der Gedanke kommen, sich Kunst zu kaufen. Dann doch lieber das zehnte Paar Schuhe. Das erscheint auch irgendwie unverbindlicher als Kunst, denn wenn einem die Schuhe nicht mehr gefallen, kann man sie einfach wieder loswerden. Kunst ist kein Konsumgut, das man einfach so kauft, weil man es spontan schön findet – oder doch? 

Doch lieber das zehnte Paar Schuhe?

Lange wurde der Kunstkauf nur für sogenannte Besserverdienende beworben, etwa in einschlägigen Publikationen, die sich ohnehin nur an eine finanziell gehobene Klientel richten. Es gab zwar in den letzten Jahren immer wieder Start-Ups und Initiativen, die versuchten den Kunstmarkt zu „demokratisieren“ und mögliche neue Käuferschichten zu erschließen. Wirklich Bewegung in die Angelegenheit sollte dann aber schließlich der NFT-Hype ab 2021 bringen – so hofften zumindest einige im Kunsthandel. Sogar das eine oder andere Museum wollte hier mitmischen und Einnahmen durch den Verkauf passender non-fungible tokens zu ihren Sammlungsbeständen generieren. Mit NFTs sollten wirklich alle möglichen Menschen zu Kunst-Investoren und Sammlern werden, am besten nicht nur um der Kunst ihrer selbst willen, sondern weil eine Wertsteigerung des Investments in Aussicht gestellt wurde. Auch eine Person aus meinem privaten Umfeld ließ sich von den Versprechungen des NFT-Hypes überzeugen und erstand, obwohl sie mit Cryptowährungen, Blockchain und Co. sonst nicht viel tu tun hatte, ein NFT von „The Kiss“. Pünktlich zum Valentinstag 2022 hatte das Belvedere Museum in Wien für diese Aktion 10.000 NFTs angeboten, jedes gekoppelt an einen virtuellen Teil des Gemäldes „Der Kuss“ von Gustav Klimt. Ein NFT konnte damals für 0,65 Ethereum erworben werden, zu dem Zeitpunkt etwa 1.850,- Euro.

Neugierig geworden durch einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen zur „The Kiss“-Aktion ließ sich meine Bekannte letztendlich dazu verleiten, eine nicht unerhebliche Summe in Kunst zu investieren – oder so ähnlich. Ich weiß, dass sie heute nicht mehr sonderlich überzeugt von dieser Investition ist. Eine Wertsteigerung konnte sie nicht verzeichnen; ihr NFT ist letztendlich der digitale Bildausschnitt #05158, ein buntes Kästchen aus Pixeln, das sie sich ausdrucken könnte, wenn ihr danach ist. Wie sich letztendlich herausstellte, waren nicht sehr viele Menschen dem Beispiel meiner Bekannten gefolgt. Von 10.000 „The Kiss“ NFTs hat das Belvedere Museum nur einen Bruchteil verkauft.

Auf der Plattform Open Sea könnte man ein „The Kiss“ NFT aktuell ab 0,299 Ethereum kaufen, das wären zum jetzigen Zeitpunkt etwa 619,- US-Dollar, plus Gebühren. Wenn also schon keine Wertsteigerung, dann war der Kauf des NFT immerhin eine Unterstützung für das Museum – so versucht meine Bekannte es sich zumindest noch schönzureden. Leider hat das Belvedere Museum bisher keine Zahlen veröffentlicht, welche Kosten mit der Aktion und der Werbekampagne dafür verbunden waren. Reichten die NFT-Verkäufe, um diese Ausgaben des Museums wieder aufzufangen? Öffentlich wird man das wahrscheinlich nicht erfahren. Ich gebe zu, bei meiner Überlegung, ob ich mir nun ein Kunstwerk kaufen soll, spielte der Gedanke an das „The Kiss“ NFT meiner Bekannten eine Rolle. Solange ich nicht auch ein NFT kaufen würde, hätte ich im Vergleich auf jeden Fall deutlich weniger zu verlieren. 

Wenn man Plus macht, kann man schließlich nicht nein sagen.

Tatsächlich hatte ich schon länger über die Werke einer bestimmten Künstlerin nachgedacht. Ihre Bilder sah ich zum ersten mal in einer Ausstellung vor ein paar Monaten – und war direkt begeistert. Auf ihrer Website bot sie einige ihrer Werke zum Verkauf an, Preis auf Anfrage. Wochenlang besuchte ich die Website der Künstlerin immer wieder und traute mich nicht nach dem Preis des Werkes zu fragen, das mir am besten gefiel. Was, wenn es zu teuer war? Sagt man dann: „Oh, das ist zu teuer für mich, dann nicht.“ Fängt man an zu handeln und sagt: „Na ja, für die Hälfte würde ich’s nehmen. Deal?“ Muss man einfach den genannten Preis akzeptieren, weil alles andere unverschämt ist?

Mich überforderten die Möglichkeiten der Kommunikation und ich traute mich deshalb lange nicht, die Künstlerin anzuschreiben. Irgendwann tat ich es doch und fragte per E-Mail nach dem Preis meines Lieblingsbildes. Die Antwort der Künstlerin kam am nächsten Tag und war sehr freundlich, sie bot mir einen Nachlass mit Atelier-Rabatt. Der Preis war für mich eigentlich zu hoch, ich bat um Bedenkzeit. Danach sprach ich mit meiner Familie. Die Antwort war meistens: „Wenn du es schön findest, kauf es.“ Mein bester Freund hatte allerdings nur Fragezeichen in den Augen, als ich ihm „mein Bild“ auf der Website der Künstlerin zeigte.

Die Kunstwerke in seinem Haushalt stammen überwiegend aus dem überteuerten Möbelhaus und es ist ihm herzlich egal, dass die Bilder in seiner Wohnung so auch in hunderten anderen Wohnungen hängen. Statt für Kunst würde er sein Geld jederzeit eher für ein paar Restaurantbesuche ausgeben. Er war der einzige in meinem Umfeld, der beim Thema Kunstkauf abgewunken hatte. Dann dachte ich an das ursprünglich relativ teure „The Kiss“ NFT meiner Bekannten. Wenn ich den Preis für das von mir angefragte Kunstwerk mit ihrer Investition vergleiche, mache ich mit Girl Math ja ordentlich Plus. Ich habe der Künstlerin also geschrieben, dass ich ihr Werk kaufe. Wenn man Plus macht, kann man schließlich nicht nein sagen.

Beitragsbild von Tarik Haiga

Nicole Flatterys „Nicht Besonderes“ – Hinter den Kulissen von Andy Warhols Factory

von Julia Stanton

Als Valerie Solanas am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schießt, begründet sie ihre Tat mit den Worten: „Er hatte zu viel Kontrolle über mich“. Nur drei Jahre früher sah Solanas in Warhol noch die Chance, ihr Theaterstück produzieren zu lassen. Stattdessen hält er sie hin, bietet ihr an, als Sekretärin für ihn zu arbeiten, lädt sie gelegentlich zu Partys ein, zeichnet Teile ihrer Telefongespräche auf und nutzt diese Aufnahmen ohne Erlaubnis und ohne Kenntlichmachung für einen seiner Filme. Am Anfang gerade so toleriert, wird Solanas, eine radikale Feministin, die heute neben ihrem Attentat besonders für ihr SCUM-Manifesto (Society for Cutting up Men) bekannt ist, bald schon zum Ärgernis und ist in Warhols Kreisen nicht mehr willkommen. Fest davon überzeugt, dass er ihr Theaterstück verloren hat, beginnt sie, ihm wütende Briefe zu schreiben. Sie teilt ihm mit, dass sie eine Waffe kaufen wird und bleibt ihren Worten treu.

Nichts Besonderes, der Debütroman der irischen Autorin Nicole Flattery, beginnt fast 40 Jahre nach Solanas Attentat – 2010. Mae, die Protagonistin, lebt ein ereignisloses Leben. Ein zufälliger Kommentar über Solanas versetzt sie zurück in ihre Zeit als Teenagerin und erinnert sie an ihre eigenen Erfahrungen mit Andy Warhol. 

a, A novel

1966 ist Mae 17 Jahre alt und lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und deren Partner in einer heruntergekommenen Wohnung in New York. Ihr Leben langweilt sie und sie sehnt sich nach etwas Außergewöhnlichem. Sie bricht die Schule ab und wird durch eine Reihe von Zufällen Sekretärin in Warhols berühmter Factory. Dort lernt sie Shelley kennen, die ihr Zuhause verlassen hat, um ähnliche Sehnsüchte wie Mae zu verfolgen. Gemeinsam wird den beiden aufgetragen, Gesprächsaufnahmen von Warhol und seinen Freunden zu transkribieren, die später zu einem Roman werden sollen. 

Flattery erzählt damit im Grunde eine verlorene Geschichte. Den Roman, den Mae und Shelley schreiben und der aus den aufgezeichneten Gesprächen von Warhol und anderen Factory-Stars wie Edie Sedgwick und „Ondine“-Robert Olivo besteht, gibt es wirklich. Er wurde 1968 unter dem Titel „a, A novel“ veröffentlicht. Klar ist, dass Warhol, auch wenn er als einziger Autor namentlich Erwähnung findet, den Roman nicht selbst schrieb. Wer die Frauen waren, die diesen Roman abtippten, ist allerdings unbekannt.  Nichts Besonderes ist daher eine fiktionale Erzählung mit historischen Elementen, in der Flattery die mögliche Geschichte dieser Frauen nachzeichnet. 

Ihr gelingt dies mit scharfem Beobachtungsvermögen und Sensibilität, ohne bekannte und veraltete Mythen über die 60er oder Warhol zu reproduzieren. Nichts Besonderes widmet sich ganzheitlich allem Vergessenen und Unbekannten dieser Zeit und verleiht den damals unsichtbaren Charakteren eine Stimme. Warhol selbst spielt in dem Roman nur eine Nebenrolle und kommt kaum vor. Er besitzt allerdings eine unheimlich wirkende Omnipräsenz, die sich im Verhalten von Mae und anderen Factory Mitgliedern zeigt. Wenn er den Raum betritt, liegt alle Aufmerksamkeit auf ihm und es geht jedem nur darum, ihm zu gefallen. Dadurch verrät der Roman einiges über die Dynamik und die soziale Hierarchie dieser Welt – möglicherweise mehr, als es eine der zahlreichen Warhol-Biografien je könnte. An Stellen wirkt es sogar so, als würde der Roman mit der öffentlichen Person, die Warhol vorgab zu sein, spielen und diese dekonstruieren. Ein Licht scheint der Text dabei besonders auf die extreme Macht, die Warhol auf die Mitglieder der Factory ausübte. 

surrounded by genius, by grace, by people

Das offenbart sich besonders im jungen und naiven Ton, in dem der Hauptteil des Romans erzählt wird. Mae glaubt alles zu wissen und erfahrener zu sein als sie ist. Als sie das erste Mal in Warhols Studio tritt, ist ihre größte Sorge allerdings ein Streit mit ihrer Schulfreundin Maud und Daniel, der Mann, mit dem sie zum ersten Mal schläft. Immer wieder gibt es Stellen im Roman, in denen Mae zwar denkt, Kontrolle zu haben, in denen aber gleichzeitig deutlich wird, wie machtlos sie eigentlich ist und wie sehr die Factory Mitglieder ihre Naivität ausnutzen. 

Das dadurch entstehende Unbehagen wird zusätzlich durch die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Zukunft verstärkt. Die ältere und reifere Mae erzählt in einem anderen Ton und bewertet ihre Erlebnisse von damals in einer Art, die verrät, wie ausbeuterisch ihre Situation war. 

Mit 17 ist Mae aber noch fest davon überzeugt, dass die Factory und die Leute, die dort ein und ausgehen, etwas Besonderes sind und das so auch sie durch ihre Assoziation mit ihnen zu etwas Besonderem wird: „I felt like, I was finally surrounded by genius, by grace, by people who had made decisions about their lives.“ Das ist es auch, was sie motiviert, die Gespräche abzutippen. Mae und Shelley halten sich für Autorinnen, die gerade ein Buch schreiben. Ihnen ist noch nicht bewusst, dass sie für diese Arbeit nie jegliche Form von Anerkennung erhalten werden. Und so tippen sie weiter, mit Präzision und Ehrgeiz, ihr Selbstverständnis eng mit dieser Arbeit verstrickt. Dabei geht es Mae vor allem um das Label als Autorin. 

Der Roman stellt so vor allem die Frage nach Identität und inwiefern Identität mit Arbeit, Kunst und auch Konsum zusammenhängen. Mae kommt mit der Ambition in die Factory ihre gesamte Identität, „the person she had been“, komplett zu verändern; im Grunde so zu werden wie einer der Stars der Factory, zu denen sie aufschaut.

the parties looked like fun

Identität wird hier aber als nichts anderes verstanden als die Art, in der man sich präsentiert, das äußere Erscheinungsbild. Es ist damit dann auch etwas, das man kaufen kann oder sogar kaufen muss, das abhängig ist von den Dingen, die man konsumiert und nicht konsumiert. „I had a list of things I wanted to be, a shopping cart of qualities“, erklärt Mae am Anfang des Romans. 

Ein gutes Leben zu leben und eine interessante Person zu sein, bedeutet, sich in einer Art zu präsentieren, die vor der Kamera gut aussieht. Das gelingt den Mitgliedern der Factory so gut, dass selbst Mae Jahre später auf die Fotos aus dieser Zeit zurückblickt und denkt: „the parties looked like fun“ – auch wenn sie alles andere als das waren. 

Es ist somit auch kaum verwunderlich, dass diese Welt in „ugly“ und „beautiful“ eingeteilt ist – Worte, mit denen der Roman übersättigt ist.  „Ugliness“ hat in der Factory keinen Wert, „you had to be special to register in those rooms“, erklärt Mae. Was „ugly“ ist, wird rausgeschmissen. Es ist Synonym für alles Schlechte und Ungewollte. Ihre Kindheit ist „ugly“ genauso wie die Wohnung, in der sie lebt und so ist Mae froh, dass sie diese Welt endlich hinter sich lassen kann. Das Gegenteil gilt für alles Schöne: „Everyone wanted good things to happen to the really beautiful people. Everyone wanted horrible things to happen to the bad guys, who were obvious to discern.“ 

Mae übernimmt diese Weltsicht so sehr, dass sie alle um sich herum, einschließlich sich selbst, objektifiziert und basierend auf deren Erscheinungsbild bewertet. Selbst Shelley, zu der sie in vielerlei Hinsicht aufblickt, wertet sie konstant ab, weil die Art, in der sie sich kleidet, unpassend ist und nicht den Codes der Factory entspricht: „She [Shelley] wasn’t sexy, and her attempts were hopeless, pitiable, like my mother striking poses when she was drunk.“

famous for fifteen minutes

 „Ugly“, so wird klar, ist das, was die Factory als solches bezeichnet. Mae wirkt in ihren Beschreibungen oft gemein und herablassend, ihre Kommentare sind im Grunde aber nur eine Reflektion ihrer Umwelt, deren Werte sie unkritisch übernimmt. 

Auch wenn der Roman in den 60er Jahren spielt, wirkt der Text an manchen Stellen wie ein direkter Kommentar über unsere heutige Gesellschaft: Unsere Obsession mit Aussehen, mit Sehen und Gesehen werden, den Impuls ständig alles in unserem Leben aufzuzeichnen und auf Social Media ein bestimmtes Image unserer Selbst zu kuratieren, das alles scheint eine direkte Fortführung der Welt zu sein, die Warhol kreierte und die ihn im Gegenzug zu einem der bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts machte.

Wenn es um heutigen Influencer- und Starkult geht, kommt man meist nicht umhin, Warhol zu nennen: „In the future everyone in the world will be world famous for fifteen minutes“, soll eines seiner berühmtesten Zitate lauten. Das Internet und besonders Social Media scheinen dieses Zitat wahr gemacht zu haben: „Instagram hat das Zeitalter der Selbstkommerzialisierung im Internet eingeläutet […] aber TikTok und Twitter haben es noch beschleunigt. Jeder ist gezwungen, die Rolle eines Influencers zu übernehmen“, schrieb der Autor Kyle Chayka vor Kurzem in einem Artikel. Es geht immer darum, so viele Klicks und so viel Reichweite wie möglich zu bekommen; der potentielle Erfolg immer in greifbarer Nähe. Dabei besteht aber auch immer die Gefahr des Scheiterns: „Auf Facebook gibt es weniger eine ‘Bedrohung der Sichtbarkeit’ als vielmehr eine ‘Bedrohung der Unsichtbarkeit’, die die Handlungen von Nutzern zu bestimmen scheint. Das Problem ist nicht, ständig beobachtet zu werden, sondern die Möglichkeit, ständig zu verschwinden, nicht als wichtig genug angesehen zu werden“, bemerkt die Medienwissenschaftlerin Taina Bucher.

Auch wenn es damals weder TikTok noch Instagram gab, verhandelt der Roman diese ständige Bedrohung von Unsichtbarkeit und erzählt wie mächtig, aber gleichzeitig auch wie erdrückend das unerfüllte Bedürfnis nach Sichtbarkeit sein kann. Als Shelley und Mae ihren Roman beenden, werden sie damit auch wertlos für die Factory. „[W]hen the last tape ended, so would our lives“, erklärt Mae. 

Ihnen widerfährt damit ein ähnliches Schicksal wie Solanas. Und so ist es kaum verwunderlich, dass Mae am Ende des Romans, obwohl sie sich nicht erinnert, Solanas je kennengelernt zu haben, eine Form von Solidarität verspürt. Mae kommentiert: 

„What they didn’t say was that they understood it too. They understood it when she said he had too much control over my life. […] They had to make her strange because it could have been any of them. Shelley could have done it, but she wouldn‘t have missed, those typing fingers nimble and sure.“ 

Stop recording

Gleichzeitig zeigt der Roman aber auch die Kosten hinter dem ständigen Aufzeichnen des eigenen Lebens, dem ständigen Drang zur Performanz. Die Tapes, die die Mädchen jeden Tag hören, werden immer unerträglicher. Den Stars, die konstant aufgenommen werden, geht es zunehmend schlechter, mental und auch körperlich. Die Schauspielerin Edie Sedgwick hat einen Zusammenbruch und muss in eine Klinik eingewiesen werden. 

„Stop recording“, darum bitten die Stimmen auf den Tapes wieder und wieder, ohne je eine Antwort zu erhalten: „But there was never any response from the man holding the tape recorder, and the red recording light stayed on.“ Je genauer Mae und Shelley zuhören, desto mehr wird ihnen klar, dass ihr Wunsch nach öffentlicher Anerkennung nicht zu der Erfüllung führen würde, die sie sich davon erhoffen.

Auch in diesem Sinne scheint der Roman unsere heutige Beziehung mit sozialen Medien zu reflektieren: Wir sind ständig dazu aufgefordert, jeden Aspekt in unserem Leben aufzuzeichnen und dort eine bestimmte Version unserer selbst zu präsentieren. Über die Kosten, sich selbst ständig in Bildern, Videos oder auf Social Media Profil zu inszenieren, wird aber nur selten gesprochen: „ [W]as bedeutet es eigentlich für so viele junge Menschen […], sich darüber zu definieren, wie sie wahrgenommen werden?“  fragt die Autorin Haley Nahman in einem Essay.

Der Roman gibt eine ernüchternde Antwort. Nichts Besonderes endet 1985, einige Jahre nach den Geschehnissen, antiklimaktisch. Mae arbeitet in einer Bar, in einer nicht nennenswerten Stadt und lebt ein normales Leben. Was für die 17-jährige Mae ein Albtraum gewesen wäre, entpuppt sich als Happy End. Es ist die Umkehr all dessen, wofür Warhol steht. Maes jüngere Kolleginnen blicken auf sie herab, aber sie bemerkt nur: „They didn’t know that was the life I had made and I was proud of it; a life where I didn’t need to be looked at, admired.“

Beitragsbild von Anastasiya Badun

Person und Persona – Die Lüge der Authentizität in der Stand-up-Comedy

von Bernhard Hiergeist

Im Frühjahr tat der US-amerikanische Comedian John Mulaney etwas höchst Gewöhnliches: Er sprach über sein Privatleben. In seiner aktuellen Stand-up-Comedy-Show Baby J handelt er Witz um Witz seine Sucht nach Alkohol, Drogen, Tabletten und Aufmerksamkeit ab, die Trennung von seiner Frau, und wie ihn eine intervention durch prominente Freunde dazu brachte, einen Entzug zu machen. Baby J – ein Programm mit hoher Witz-Frequenz – ist aus dem Leben gegriffen. Alles ist wahr oder deckt sich zumindest mit dem, was unzählige Medien nach Bekanntwerden von Mulaneys Erkrankung aus dessen Privatleben zutage gefördert hatten. Klassische Stand-up-Comedy also.

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Geisterbeschwörung – Über Technologie, Geschichte und einen neuen Beatles-Song 

von Berit Glanz

43 Jahre nach John Lennons Ermordung im Dezember 1980 und 22 Jahre nach dem Tod von George Harrison wurde Anfang November zum vermutlich allerletzten Mal ein Beatles-Song veröffentlicht. Das Interesse für den neuen Song zeigt sich in den vielen Millionen Aufrufen bei den etablierten Streaming Plattformen. Auch das von Peter Jackson gedrehte Musikvideo zum Song wurde bereits viele Millionen mal angeklickt.  Für Fans der Beatles war das jetzt erschienene Lied keine  Überraschung, war er doch bereits in den 1990er Jahren als möglicher neuer Beatles-Song im Gespräch gewesen. Damals wurde die Arbeit an “Now and Then” jedoch abgebrochen, weil die Aufnahmebänder zu stark rauschten und George Harrison unzufrieden mit der Aufnahmequalität war. Auf den 1995 und 1996 veröffentlichten Anthology-Alben gab es deswegen nur zwei neu produzierte Songs: “Free as Bird” und “Real Love.”

Für alle drei nach Lennons Tod produzierten Beatles-Songs waren Aufnahmebänder, die Yoko Ono an McCartney weitergegeben hatte, die Grundlage. Die Lieder sind also keine Lennon/McCartney Ko-Produktionen, sondern Solostücke von Lennon, die durch nachträgliche Überarbeitung und Produktion zu Beatles-Songs gemacht wurden. Schon damals wurde die merkwürdige Geisterhaftigkeit der Songs kritisiert. Lennons Stimme klingt tatsächlich etwas hohl, die Aufnahmequalität der Bänder ließ sich trotz technischer Fortschritte nicht ausgleichen. In den Charts konnten sich die zwei für Anthology veröffentlichten Songs nicht ganz so stark durchsetzen, wie man es von Beatles-Songs erwartet hatte. 

Für mich als Teenager waren die beiden neuen Beatles-Lieder jedoch eine Offenbarung, weil sie mein zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre währendes Fandom in die Gegenwart holten. Gleichzeitig verwies der unheimliche Sound von Lennons Stimme darauf, dass diese Band überhaupt nichts in dieser Gegenwart verloren hatte. Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, meine frühen Teenage-Jahre mit einem völlig hypertrophierten Beatles-Fandom zu verbringen, aber irgendwann war ich auf Beatles Schallplatten gestoßen und hatte meine eigene Boyband gefunden. Während der supermelodiöse Pop von Take That die Charts dominierte und mit Nirvana eigentlich der heilige Gral performativen Außenseitertums für rebellierende Teenager zur Verfügung stand, verwendete ich meine Zeit auf Bleistiftportraits der einzelnen Beatles, ein detaillierter Linolschnitt mit Paul McCartneys Gesicht vergilbt vermutlich gerade noch in einer meiner Schubladen. 

Fandom für Bands der Vergangenheit hat immer auch den Nebeneffekt, dass man damit die eigene Distanz vom Zeitgeist markieren kann. Man hört eben nicht das, was gerade modisch ist, sondern imaginiert sich in eine andere Dekade. Teenager verwenden seit jeher nostalgische Retro-Ästhetiken, um einen Ausdruck für das eigene Entfremdungsgefühl zu finden. Dass ich als Teeanger deswegen von gerührten Alt-68ern mit Schallplatten beschenkt wurde, nahm ich Nebeneffekt gerne in Kauf. Der menschgewordene Empfehlungsalgorithmus – Wenn du die Beatles magst könntest du auch Deep Purple gut finden – verfehlte jedoch das Ziel, denn natürlich ging es bei meinem Fandom nicht um den Sound einer Dekade, sondern um das Schwärmen für Musiker aus der Vergangenheit, die gerade wegen ihrer Unerreichbarkeit attraktiv erschienen. 

Meine Fantasien und Träume kreisten natürlich nicht um den von mir als beinahe peinlich alt empfundenen Paul McCartney oder den grauhaarigen George Harrison der Gegenwart. Alle erotische Energie dieses Fandoms richtete sich auf Männer, die selbst in meinem Kopf schwarz-weiß und zweidimensional waren und deswegen auf keine Art und Weise bedrohlich für mein dreizehnjähriges Ich im Jugendzimmer (kein norwegisches Holz, dafür Buche-Furnier) der 1990er waren. 

Einige Jahre später war ich einige Abende als Komparsin bei Beatles-Nostalgiekonzerten tätig und spielte eine von der Beatlemania ergriffene Jugendliche der 60er Jahre. Auf der Bühne in einer Gruppe junger Mädchen Sätze wie “Joooohn I love you” zu schreien, führte mir nochmal drastisch vor Augen, dass meine frühere Beatles-Obsession nicht viel damit zu tun hatte, Teil einer Manie sein zu wollen. Die Fan-Energie für eine schon lange vergangene Band war so zufriedenstellend, weil sie einer Schatzsuche glich: Ich las alle Bücher, die es zu den Beatles gab, sammelte alte Postkarten mit Beatles-Bildern und kaufte alle Beatles-Filme auf VHS, um sie dann unzählige Male anzuschauen. Mein Fandom war die Suche nach Geistern in historischem Material und zwischen den Zeilen der Texte. Deswegen passte die Geisterhaftigkeit der Anthology-Songs so gut zu dem Bedürfnis, das mein Fandom erfüllte: ziellose Nostalgie für Vergangenheitsfetzen, die ich als identitätsstiftend empfand. 

Für diese Form von Hexenbrett-Nostalgie eignen sich Musikaufnahmen perfekt, denn Musik zu hören ist immer auch Geisterbeschwörung. Mit Hilfe von Speichermedien, Schallplatten, MP3s oder Notenblättern, kann Musik abgerufen werden, auch wenn die Komponist*innen schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ich denke oft daran, dass die initiale Reaktion vieler Menschen auf die Aufnahme ihrer eigenen Stimme, die der Phonograph im späten 19. Jahrhundert mit simplen Wachswalzen möglich gemacht hatte, faszinierter Grusel war. Es fällt aus heutiger Perspektive schwer sich vorzustellen, wie sich die ersten Begegnungen mit mediatisierten menschlichen Stimmen anfühlten. Wie es auf die Menschen wirkte, plötzlich der gespeicherten Stimme eines verstorbenen Menschen begegnen zu können. Der technische Wandel hatte eine neue Variante von Geistererscheinung möglich gemacht. Statt Musik ausschließlich live rezipieren zu können, war es nun möglich, aufgenommenen Stücken zu lauschen. Das Hören von Platten, später Musikkassetten, CDs und Live-Streams veränderte nicht nur die Musik selbst, sondern auch unsere Formen der Erinnerung.   

Mit neuen Aufnahmentechnologien konnte man die Stimmen der Toten in seine private Räume holen, Musik wurde zu einer intimen Erfahrung, die auch den Trauerprozess veränderte, wenn beliebte Künstler*innen starben. Ich erinnere mich daran, wie ich am Todestag von Amy Winehouse ihr letztes Album rauf und runter hörte. Die stimmliche Präsenz der von mir sehr geschätzten Sängerin empfand ich als tröstliches Erbe, das niemand uns, ihren traurigen Fans, nehmen konnte. Dabei gibt es in der langen Musikgeschichte unzählige populäre Sänger*innen, deren Stimme niemals auf Tonträgern konserviert werden konnte, weil die Technologie zu ihrer Lebenszeit noch nicht entwickelt worden war. 

Legendären Opernsängerinnen und -sänger, wie beispielsweise der schwedischen Operndiva Jenny Lind oder der in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreichen Schwarzen Opernsängerin Elizabeth Greenfield, können wir nur in den Beschreibungen ihrer Zeitgenossen begegnen. Die Geister aus der Zeit vor dem technologischen Durchbruch der Schallplattenaufnahme verweigern sich der Beschwörung auf den Plattentellern der Gegenwart. Findet der technologische Fortschritt erst nach tiefgreifenden kulturellen Veränderungen statt, dann verschwinden Musiktraditionen in der Geschichte. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tradition des Kastratengesangs, die für viele Jahrhunderte die Musik prägte. 

Nicht nur Händels und Monteverdis Opern sind für Castrati geschrieben, bis in das 19. Jahrhundert hinein wurden Jungen „sopranisiert“, um den Stimmbruch zu verhindern und sie potenziell zu erfolgreichen Sängern zu machen – potenziell vor allem deswegen, weil unklar und in der Forschung umstritten ist, wie viele Kastrationen überhaupt vorgenommen wurden, weswegen sich nicht eindeutig sagen lässt, ob der schwere verstümmelnde Eingriff zwangsläufig eine gut bezahlte Karriere nach sich zog. Diese menschenunwürdige Praxis ist Gott sei Dank beendet, auch wenn das bedeutet, dass zu einem bestimmten Stil der Musikgeschichte gegenwärtig kein Zugang mehr gefunden werden kann. Von nur einem einzigen Kastratensänger existieren überhaupt Tonaufnahmen: Alessandro Moreschi singt auf zwei Aufnahmen aus den Jahren 1902 und 1904. Die Kastratenstimmen aus der Zeit des bel canto sind in der Vergangenheit verschwunden.

Die 90er Jahre, in denen aus den Lennon-Tonbandaufnahmen Beatles-Songs produziert wurden, sind auch das Jahrzehnt, in dem versucht wurde, eine Kastratenstimme mit Computern zu erzeugen. Für den Film Farinelli von 1994, der die Biographie des berühmten Sängers erzählt, wurde aus zwei modernen Gesangsstimmen, einer Sopranistin und einem Countertenor, eine künstliche Kastratenstimme gemischt und die Mareschi-Aufnahmen konsultiert. 

Jeder technische Fortschritt im Bereich von Aufnahmetechnik und digitaler Bearbeitungsmöglichkeiten wird verwendet, um historische Stimmen in die Gegenwart zu transportieren. Der mit einem CT-Can modellierte Stimmapparat einer Mumie wurde vor einigen Jahren in Leeds mit dem 3D-Drucker nachgebildet, um zu hören, wie die vor 3000 Jahren verstorbene Person geklungen hat und auch die Stimme des Ötzis sollte mit technischen Mitteln wieder hörbar gemacht werden. 

Die aktuelle Entwicklung im Bereich des maschinellen Lernens macht auch vor Stimmbearbeitungen nicht halt. Es werden jedoch nicht nur Stimmen der Gegenwart manipuliert, sondern auch historische Aufnahmen für eine gegenwärtige Rezeption nachbearbeitet. Die Aufnahmen des Kastraten Alessandro Moreschi wurden beispielsweise mit digitalen Mitteln geglättet und auf Youtube hochgeladen, wo in vielen Kommentaren Grusel über die akustische Begegnung mit dem historischen Phänomen geäußert wird.  

Auch die schlechte Tonbandaufnahme von “Now and Then” wurde AI gestützt nachbearbeitet, sodass Tonlagen separiert werden konnten. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen war es Paul McCartney so wichtig zu betonen, dass die Musik in dem Lied vollständig real ist und alle vier Beatles an der Aufnahme beteiligt waren. Wie schon bei “Free as a Bird” und “Real Love” ist diese Authentizitätsbeteuerung meiner Meinung nach aber völlig unnötig, weil es bei den neu produzierten Beatles Songs viel eher um Geisterbeschwörung geht als um einen authentischen Bandauftritt.

Die unheimliche Gleichzeitigkeit des Nichtgleichzeitigen, die “Now and Then” schon im Titel enthält, wird in dem Musikvideo für den Song perfekt zum Ausdruck gebracht: Neben den alten Herren Ringo Starr und Paul McCartney tauchen alte Aufnahmen von Lennon und Harrison auf. Technischer Fortschritt wird für Zeitgenossen dann spannend, wenn er sich unheimlich anfühlt. Der britische Science-Fiction Autor Arthur Clarke hat das zu Beginn der 1970er als drittes seiner Clarkeschen Gesetze folgenderweise formuliert: “Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.” Mit Blick darauf haben die verbleibenden zwei Beatles es mit ihrem neuen Song geschafft, sich als Band jenseits der Limitierungen linearer Zeitlichkeit zu präsentieren und ihre eigenen Geister zu beschwören. 

Nur sechs Wochen Gardasee – Marie Nasemanns “Fairknallt”

von Matthias Warkus

»In Deutschland kann sich jeder alles leisten, nur nicht gleich oft.« Den Satz trug meine Sozialkundelehrerin ca. 1999 in dem Ton vor, mit dem man Binsenweisheiten äußert, die zwar nicht ganz stimmen, aber an denen schon irgendetwas dran sein wird. Es ging in dieser Unterrichtseinheit der gymnasialen Oberstufe in meiner wirtschaftsschwachen pfälzischen Heimat um Sozialstruktur und Ungleichheit. Ich erinnere mich an nicht mehr viel außer an das damals schon überholte Schlagwort der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, jahrzehntealte Diagramme zur Sozialstruktur (»Bolte-Zwiebel«, »Dahrendorf-Häuschen«) – und als Faustformel dafür eben jenen Satz.

Jeder kann sich alles leisten, nur nicht gleich oft: In diesem Satz steckt der Ausdruck einer spezifischen Augenwischerei beim Blick auf die eigene Gesellschaft und vor allem die eigene Wirtschaft, die in den Jahrzehnten seither eher noch zugenommen hat. Obwohl die bundesdeutsche Gesellschaft sich seit Menschengedenken geradezu obsessiv mit bestimmten Wirtschaftsthemen wie Staatsschulden und Lohnnebenkosten beschäftigt, ist das ökonomische Alltagsverständnis, wenn man einschlägigen Studien glauben darf, nicht das beste. Dies wird begleitet von eigenartigen medialen Phänomenen: So präsentiert die Reihe »Kontoauszug« in der Zeit, die seit 2017 exemplarisch die persönlichen Finanzen der Deutschen auseinanderklamüsert, vor allem Haushalte mit hohem bis sehr hohem Einkommen und kommt dabei zuweilen geradezu realsatirisch daher. Spitzenverdiener wie Friedrich Merz und Olaf Scholz sehen sich, wie inzwischen sattsam bekannt, irgendwie als Mittelschichtler. Der Milliardär Dirk Roßmann inszeniert sich neulich im SZ-Magazin vor allem als leidender Schöngeist, der nur einen einzigen Anzug besitzt und ein zerbeultes Auto fährt, aber immerhin noch bedauert, »dass die Armen das Leben nicht genießen können, weil ihnen das Geld fehlt, und die Reichen nicht, weil ihnen Maß und Mitte fehlen«. Geldhaben oder -nichthaben erscheint als eine Lebensstilfrage unter vielen – und eben nicht als die materielle Grundlage, die allem Lebensstil vorausgeht.

Auch Marie Nasemanns Buch Fairknallt. Mein grüner Kompromiss (Ullstein extra 2021, 258 S.) kann man als Kommentar zur sozioökonomischen Selbstvergessenheit der Deutschen lesen. Und das macht dieses ansonsten recht vergessbare Celebrity-Buch dann doch interessant. An der Oberfläche handelt es sich um ein Sachbuch, das Hinweise zu einem »nachhaltigeren« Konsumverhalten gibt und damit um das Buch zur Website »fairknallt.com«, die das ansonsten vor allem durch den dritten Platz bei GNTM 2009 bekannt gewordene Model Nasemann 2016 begründet hat. Faktisch ist Fairknallt aber vor allem eine Autobiographie, und zwar die Autobiographie eines Menschen, der nicht nur mit 19 prominent wurde und sich mit 23 die erste Eigentumswohnung in München kaufte, sondern schon zuvor sein gesamtes Leben in erheblichem Wohlstand verbracht hatte, wenn auch gerade nicht in spleenigem Reichtum. Nasemanns Memoiren zeigen einen Lebensstil, in dem wenig vorkommt, was für deutsche Durchschnittsverdienende kategorial unerreichbar wäre. Aber was vorkommt, kommt eben sehr oft bzw. in großen Mengen vor. Dies ist die Grundlinie, von der aus Nasemann erläutert, wie sie zu einem »nachhaltigeren« Umgang mit Mode und anderem Konsum gekommen ist.

Beispielhaft für ihre Weltwahrnehmung steht der in den sozialen Medien bereits kräftig durch den Kakao gezogene Satz auf S. 57, in dem bedauert wird, dass Nasemann und ihre Familie in der Pandemie mehrere geplante Reisen streichen mussten und es letztendlich »nur sechs Wochen Gardasee« wurden.

In der günstigsten für einen so langen Zeitraum buchbaren Unterkunft, die man in Nasemanns Lieblingsort am Gardasee, Gargnano, auf Booking.com findet, kosten sechs Wochen für zwei Erwachsene und zwei kleine Kinder knapp 15 000 Euro, also, das muss man sich vergegenwärtigen, in etwa zwei Drittel des Nettojahreseinkommens eines deutschen Median-Haushalts. Man darf zwar vermuten, dass Nasemann als Tochter eines renommierten Münchner Augenarztes (und Enkelin eines klinikleitenden Medizinprofessors mit Pool in der Villa) dort ein familieneigenes Haus bezogen haben wird und kein gemietetes, aber auch diese Möglichkeit steht dem Median der Gesellschaft tendenziell nicht offen. 

Nun ist Nasemann vielleicht mit um Größenordnungen mehr Haushaltseinkommen groß geworden als die Mitte der Gesellschaft, aber, wie schon gesagt, nicht in byzantinischem Luxus. Was sie über Konsum in ihrer Kindheit und Jugend schreibt, passt bestens in alle Klischees des Aufwachsens in der altbundesrepublikanischen Mittelschicht – Süßzeugs aus der Bäckerei um die Ecke, Diddlmäuse sammeln, ein schon etwas angejahrter VW Sharan als Familienkutsche. Und das, obwohl das Nettomonatseinkommen ihrer Eltern vorsichtig geschätzt das Elffache des Medians betragen haben dürfte.

Der Unterschied zwischen Nasemanns Lebensstil und jenem einer hypothetischen Klassenkameradin mit Eltern, die nicht Facharzt und Fachjournalistin, sondern z.B. Polizist und Krankenschwester sind, liegt mutmaßlich weniger in den Qualitäten dessen, was getan, erlebt, konsumiert wurde, sondern in der Quantität. In Deutschland kann sich selbstverständlich nicht jeder alles leisten, aber der Wohlstand, der Nasemann und ihr Milieu ausmacht, besteht darin, dass man sich etwas, was sich viele leisten können, in besonders großen Mengen leistet. 

Dabei scheint wirklich die Unterstellung mitzuschwingen, dass diese vielen eigentlich »wir alle« seien, wenn Nasemann etwa schreibt: »[D]ie meisten von uns haben auch schon unzählige Fernreisen gemacht« (22). Wie viel ist unzählig? (Nasemann ist 34 Jahre alt.) Echter Luxus im Sinne von Verschwendung, wie man ihn von den eigentlich Bilderbuchreichen unserer Zeit wie Rappern und Silicon-Valley-Unternehmern kennt, taucht hingegen gar nicht auf. Die Vorstellung, dass Nasemann im Club eine Flasche Champagner zum Preis eines guten Gebrauchtwagens bestellt oder eine Penthousewohnung renovieren und direkt wieder entkernen lässt, weil sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, wirkt absurd.

Fairknallt ist in seinen Sachbuchaspekten also ein Buch darüber, wie jemand wie Nasemann (und damit in der Verlängerung: jemand wie »wir alle«) sich dazu motivieren kann, von den großen Konsumquantitäten irgendwie wieder herunterzukommen und zum Beispiel weniger von der Kleidung zu kaufen, mit der ihre »fünf mattweißen Ikea-Kleiderschränke« (73) vollgestopft sind. Das Buch nimmt dann Züge eines autobiographischen Selbsthilferatgebers an. Nasemann hat beispielsweise eine bestimmte Routine eingeübt, um das ›Craving‹ nach Einkaufen zu brechen: »Wenn ich spüre, ich werde zum Online-Shoppen verleitet, lege ich Handy oder Laptop auf die Seite, schließe meine Augen, lege meine Hände auf den Bauch und atme zehnmal tief ein« (222).

Die tendenziell interessantesten Facetten von Nasemanns Biografie, nämlich die größeren Brüche, mit denen sich auch Psychotherapieerfahrungen verbinden – eine Essstörung, Trennungen –, werden dabei nur angedeutet oder zumindest eher summarisch abgehandelt. Eine Fehlgeburt wird vor allem in dem Zusammenhang thematisiert, dass Nasemann deswegen während der darauffolgenden Schwangerschaft wieder Fleisch aß. So entsteht der kuriose und sicherlich falsche Eindruck, dass Konsumfragen im Leben der Verfasserin größeren Raum einnehmen und ihr mehr Anlass zur Reflexion bieten als echte Schicksalsschläge.

Die Ratschläge zu »bewussterem Konsum« usw. wirken dann durchaus vernünftig, allerdings kolportiert Nasemann z.B. den unausrottbaren Mythos, zu viel Haarewaschen würde die Talgproduktion der Kopfhaut verstärken (146), was ein bisschen Zweifel an der mehrfach beschworenen soliden Recherche und Faktenbasiertheit der Empfehlungen aufkommen lässt. Schon aus rein ideologiekritischen Gründen interessant und vermutlich völlig repräsentativ für die deutsche Gesellschaft ist, dass Nasemann anscheinend beständig mit einem einzigen, undifferenzierten Begriff von »gutem Konsum« arbeitet, der lauter Eigenschaften einer Ware oder einer Genusspraxis gleichsetzt, die eigentlich nicht notwendigerweise miteinander zu tun haben.

Das fängt schon mit der Vermischung von Ernährung und Umweltschutz an, wenn Nasemanns früheste Assoziation zum Thema Ökologie ist, dass es in ihrer Kindheit »nur naturtrüben Apfelsaft zu trinken« gegeben habe (20). Ob Apfelsaft umweltfreundlich erzeugt wurde, steht schließlich in keinerlei kausalem Zusammenhang damit, ob man ihn hinterher durch einen Filter drückt oder nicht. Das kennen »wir« nun eventuell wirklich alle: Was umweltfreundlich ist, ist zugleich »fair« und somit gesellschaftlich progressiv, es ist gesund für den Körper und trägt zum seelischen Wohlbefinden bei. Jedes individualmoralische Thema ist immer ein Ernährungsthema für das »Milieu, das alle Probleme der Welt durch richtigen Konsum, also durch Fressen lösen möchte« (Leo Fischer 2014). 

Wo bei Nasemann nicht gleich eine solche falsche Kausalität imaginiert wird, stehen die Themen Ökologie, Gesundheit, Fairness, Achtsamkeit usw. doch wenigstens nebeneinander, was der Aufbau des Buchs befördert. Es geht u.a. um »Fair Fashion«, den eigentlichen Kernbereich der Expertise von Nasemann, die hier selbst an der Entwicklung von Kollektionen mitwirkt, nachhaltige Kosmetik, aber auch zumindest punktuell um klimafreundliche Mobilität. Vegetarische und vegane Ernährung nimmt breiten Raum ein – in der Mitte des Buchs steht sogar, allein und etwas verloren, ein Rezept für vegetarische Bolognesesauce aus der Feder von Nasemanns Mann. Es gibt dabei nicht einen Erzählteil und einen Ratgeberteil, sondern autobiografische Erzählung und Erläuterungen zu verschiedenen Nachhaltigkeits- und Social-Justice-Themen wechseln einander frei ab.

Als oberstes Kriterium, an dem über das Gut und Schlecht von Lebensstil- und damit Konsumoptionen zu urteilen ist, erscheint somit nolens volens, ob sie Nasemanns persönlichem Wohlbefinden zu- oder abträglich sind. Das gibt dem Buch eine erstaunliche Egozentrik. Auf dem Weg erfährt man unter anderem, dass Nasemann mit ihrem Mann 2019 in eine 140-Quadratmeter-Wohnung gezogen ist (»eine Klimasünde«, 42), oder dass sie seit 2018 keine Langstrecke mehr geflogen sei, was sich mittlerweile wieder erledigt haben dürfte, da sie mit ihrer Familie wohl das gesamte erste Quartal 2023 in einem Airbnb in Kapstadt verbracht hat. (Kapstadt erscheint im Buch noch als Negativbeispiel für ein besonders fernes Fernreiseziel.) Besonders im Gedächtnis bleibt, dass Nasemann in ihrer Jugend öfters Vorwürfe gemacht wurden, weil ihr Kleidungsstücke abhanden kamen – es stellte sich dann heraus, dass das Hauspersonal sie gestohlen hatte, weswegen sie bis heute, wann immer sie etwas vermisst, zuerst denkt, jemand könnte es gestohlen haben (34f.).

Die Tendenz, sich, obwohl sehr wohlhabende bis reiche Persönlichkeit aus Medien und Kulturwirtschaft, als Normalbürgerin zu zeichnen, hat natürlich nicht nur Nasemann. Ich musste z.B. sofort an Judith Holofernes’ autobiographisches Buch Die Träume anderer Leute denken, in dem in großer Detailfülle beschrieben wird, wie ein Leben als A-Listen-Popstar mit Familie in Deutschland logistisch funktioniert, ohne auch nur am Rande zu thematisieren, dass mehrere permanente Babysitterinnen und eine Zweitwohnung eben implizieren, dass man Personal und viel Geld hat. Wenn das Comedy-Powercouple Hazel Brugger und Thomas Spitzer (beide mal wieder Kinder klinikleitender Professoren) offen zugibt, dass es anstrebt, ein halbes Dutzend Wohnungen zu kaufen, hat das demgegenüber fast etwas Erfrischendes.

Wie zu Anfang angesprochen, scheint es in Deutschland eine Sache der Identität und der politischen Einstellung, sich der Mittelschicht zu- oder aus ihr herauszurechnen. Viele der einkommensstärksten Menschen in Deutschland sehen sich wie Merz und Scholz als irgendwie der Mitte zugehörig. Nils Wischmeyer hat in der Spitzenverdienerpostille Süddeutsche Zeitung darüber geschrieben. Einkommen und Vermögen sind aber objektive Verhältnisse und kein Vibe. Es ist ganz gleich, wie »bürgerlich« ich mich fühle – entweder verdiene ich zwischen 1500 und 4000 Euro brutto oder ich tue es nicht.

Solche Fehleinschätzungen funktionieren von oben und von unten: von unten, wenn im polemischen Jargon der sozialen Medien so getan wird, als hätten schon Kinder von Beamten im gehobenen Dienst »reiche Eltern« – das hat vielleicht mit verzerrten Vorstellungen der realen Verhältnisse zu tun, schlimmstenfalls ist es Proletariatscosplay. Von oben geht es aber eben auch. Wischmeyers Text macht eigentlich selbst Einordnungsfehler, wenn er nämlich den Durchschnittsleser-Haushalt seiner Zeitung mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 4665 Euro, was z.B. schon zwei Facharbeiter*innen in einem Maschinenbauunternehmen zusammenbekommen können, »reich« nennt. Ein erfolgreicher Facharzt wie Marie Nasemanns Vater kommt netto auf ein Vielfaches des Monatseinkommens des SZ-Leserhaushalts, aber selbst er ist nicht einmal annähernd zu vergleichen mit z.B. einem Großaktionär wie Stefan Quandt, der im Jahr noch ca. 2500-mal mehr einnimmt als der Arzt, und zwar unabhängig von Qualifikationen und tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten, einfach nur, weil er zufällig als Nachfahre eines Industriellen zur Welt gekommen ist. Aber wenn in Deutschland öffentlich über Geld gesprochen wird, geht es eigentlich nie um solche Verhältnismäßigkeiten.

*

In Per Anhalter durch die Galaxis kommt (erstmals 1978) ein fürchterliches Folterinstrument vor: der Totale Durchblickstrudel (»Total Perspective Vortex«), der jenem, der an ihn angeschlossen wird, eindringlich und schlagartig vermittelt, wie klein er im Verhältnis zum Universum ist. Leider führt diese Erkenntnis zur Zerstörung des Verstandes. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte, die zu dieser Maschine erzählt wird, stellt sich die Motivation zu ihrem Auftauchen in der Handlung leider als unschön misogyn heraus: Der Erfinder des Durchblickstrudels wollte es damit seiner Frau heimzahlen, die ihn immer wieder aufforderte, einen Sinn für Verhältnismäßigkeiten zu entwickeln. Etwas in Verhältnisse einzuordnen und aus einer objektivierten Perspektive sehen zu wollen, ohne gleich den völligen Durchblick durch absolut alles anzustreben, wird implizit als nervige und kleingeistige Angewohnheit markiert. 

Douglas Adams gibt damit (vermutlich nicht einmal absichtlich) ein starkes Bild für einen bedeutenden Aspekt des ideologischen Grundrauschens unserer Gesellschaft. »Einordnen« ist das, was Journalisten tun, wenn sie anlässlich der Tagespolitik die ganz großen Begriffshämmer rausholen – aber »einordnen« im Sinne eines beständigen numerischen Einsortierens des Konkreten, mit dem Ziel eines echten Überblicks über reale Phänomene, kommt im medialen Tagesgeschäft nicht vor. Es ist sogar eher stigmatisiert. Wenn ich, was ich recht häufig tue, bei Personen des Zeitgeschehens zu ergoogeln versuche, wie ihre wirtschaftlichen Verhältnisse sind, mit wie viel Geld sie aufgewachsen sind, fühle ich mich bei aller Mühe, mir klarzumachen, wie groß die Rolle ist, die dies spielt, immer auch ein bisschen schmutzig. Über Gehälter und Honorare redet man nicht, über Vorschüsse, zumal hohe, noch weniger, und am allerwenigsten redet man über das Geld der Eltern.

Viele Menschen in unserer Gesellschaft identifizieren sich mit bestimmten ökonomischen Umständen so sehr, dass für die Identifikation irrelevant wird, ob diese Umstände überhaupt vorliegen oder nicht. Geringverdiener wenig oberhalb der Armutsgrenze betrachten sich ebenso als »Mittelschicht« wie Millionäre; solide bürgerlich lebende linke Kulturbetriebler*innen sehen sich als Angehörige eines Massenheeres verelendeter Prekärer; Milliardäre mimen reihenweise den bescheidenen, etwas schrulligen Workaholic.

Der ideologische Hintergrund, der das alles ermöglicht, wird durch Bücher wie Nasemanns sicherlich nicht erst erzeugt, aber doch mit aufrechterhalten. Es ist eine Binsenweisheit, dass selbst Menschen mit viel Geld echte Probleme haben können, und der vielbespöttelte Podcast, den Nasemann mit ihrem Mann, dem Wirtschaftsanwalt und Eierlikör-Startup-Gründer Sebastian Tigges, betreibt, hat sicherlich Momente, in denen man ihn als Mensch mittleren Einkommens nicht bloß unfreiwillig komisch findet. Ich glaube aber, dass es für alle Beteiligten letztlich besser wäre, wenn Nasemann und ihre Milieugenoss*innen vor sich und anderen offener damit umgingen, dass sie eben nicht »wir alle« sind, auch wenn sie »uns allen« Ratschläge erteilen.

Wege des Nichtsehens – Naomi Klein schreibt in „Doppelgänger“ über politische Verwechslungen

von Jacob Birken

Online ist es ja normal, dass wir uns verkehrt sehen. Auf Zoom oder Skype wird unser eigenes Bild meistens gespiegelt, um einem Selbstbild zu entsprechen, das wir eben vor allem aus dem Spiegel kennen: uns so zu sehen, wie die anderen uns (und wir sie) sehen, würde uns nur verwirren. Die Öffentlichkeit ist grundsätzlich eine immense Maschine, die immer neue Bilder von Personen erzeugt, die jemandes Erwartungen gehorchen sollen. Heute ist noch der Computer dazugekommen, der gegebenenfalls besser weiß, wen wir wie sehen wollen.

Diese zahllosen Repräsentationen sind uns ähnlich oder nicht ähnlich genug, was wiederum die Herstellung weiterer Repräsentationen herausfordert. Manchmal sind diese Repräsentationen auch etwas Anderem ähnlich, wie beispielsweise einem Stereotyp oder einfach einer anderen Person. Die kanadische Autorin Naomi Klein ist so in den letzten Jahren immer öfter in die dubiose Situation gekommen, in einer anderen Naomi – der US-Autorin Naomi Wolf – erkannt zu werden. Auch mir war das irgendwann passiert, als ich mich beim Doomscrollen darüber gewundert und geärgert hatte, dass selbst Naomi Wolf umgekippt war; früher eine wichtige kritische Stimme, jetzt ein weiterer Aluhut, der skurrile Theorien über massenhafte Zwangssterilisation durch Covid-Impfungen und Todesstrahlen vom 5G-Mast verbreitete.

Nun hatte ich hier sofort fälschlicherweise an Naomi Klein gedacht, der solche Verschwörungsgeschichten zum Glück fremd sind. Beide Naomis sind sich eigentlich auch nur sehr oberflächlich ähnlich: Vom Aussehen und den Namen her, aber auch, weil sie beide als Kritikerinnen einer kapitalistischen wie chauvinistischen Gesellschaft bekannt wurden – radikale Frauen, die sich das System vornahmen. Wolf hatte 1990, noch in ihren späten Zwanzigern, The Beauty Myth (Der Mythos Schönheit) veröffentlicht, eine Kritik an ‚Schönheit‘ als normativem Instrument patriarchaler Unterdrückung. Klein, acht Jahre jünger, dekonstruierte in No Logo 2000 die kapitalistische Markenwelt und wurde schnell als eine Vordenkerin der globalisierungskritischen Bewegung gesehen, wie wiederum Wolf mit der dritten Welle des Feminismus assoziiert wurde.

Damit standen beide vor einem gemeinsamen, wenngleich sehr unscharfen Hintergrund. Das ist nicht zuletzt die Timeline, auf der wir uns durch Hot Takes und Schreckensnachrichten doomscrollen, und deren Themen weiterhin (oder jetzt erst recht) diejenigen sind, die Wolf und Klein vor Jahrzehnten gesetzt haben. Beide Naomis sind Stimmen in der öffentlichen Diskussion der zusammenhängenden Krisen der Gegenwart. Nun war mit der Covid-Pandemie eine weitere Krise hinzugekommen, und Wolf nahm dazu (erwartbar) eine radikale Position ein, die sie (unerwartet) auf die andere Seite des politischen Spektrums führte – anfangs irgendwo links oder zumindest progressiv verortet, trat sie plötzlich regelmäßig mit Rechtsradikalen wie Steve Bannon auf. Früher schrieb sie gegen die Militarisierung der USA und die ungehinderte Verbreitung von Schusswaffen an, jetzt ist sie mit ihrem früheren Bodyguard – einem Ex-Soldaten – verheiratet und berichtet begeistert von ihrem privaten Arsenal.

Dass viele, für die Wolfs frühere Arbeit relevant war, dies jetzt als Verrat an der gemeinsamen Sache verstanden, ist nachvollziehbar, dass sie sie nun mit Klein verwechselten und sie bei jedem neuen Unfug ihrer Namensvetterin mit wütenden Mails bombardierten, weniger. Diese Verwechslung ist nicht ganz so trivial, wie es wirkt; für mich spielte sicherlich die Sorge oder schlimme Ahnung hinein, dass auch Klein ‚in diesen schwierigen Zeiten‘ kippen könnte. Seit der Pandemie, spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine schien das ein Schicksal zu sein, das viele Linke und allgemein Intellektuelle ereilte.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der um die Jahrtausendwende wesentliche Texte zur Theorie des Ausnahmezustands und der totalitären Menschenvernichtung veröffentlicht hatte, sah jetzt den Totalitarismus bereits darin realisiert, dass Hochschullehre während der Pandemie über Zoom stattfinden musste; Byung-Chul Han, sonst eher für sanft konservative Kulturkritik am digitalisierten Kapitalismus zuständig, schwadronierte in Interviews 2020 von einer „Hysterie des Überlebens“, während der aktivistische Dramaturg Anselm Lenz vor der Berliner Volksbühne mit ausgewiesenen Rechtsradikalen zum „Demokratischen Widerstand“ gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur demonstrierte.

Das reihenweise Umkippen öffentlicher Intellektueller und Kulturleute hatte etwas Unheimliches. Methodische und ethische Ansprüche schienen sich von einem Tag auf den anderen verkehrt zu haben. Lästige Banalitäten wie Fernlehre oder die Impfung wurden mit industrialisiertem Massenmord verglichen, die solidarische Sorge umeinander (das Nicht-Anstecken mit einer potentiell tödlichen Krankheit) zu einem Übel, gegen das die hedonistische Verwirklichung des Individuums oder der Gemeinschaft verteidigt werden musste.

Dass Han im Interview die Sorge um das Überleben mit dem misogynen Begriff der „Hysterie“ belegte, war sicher kein Zufall. Es war aber auch kein Zufall, dass er seine Kritik an den staatlichen Covid-Maßnahmen ausgerechnet mit einer Referenz auf die ‚gute‘ Naomi herleitete: Wie Klein 2007 in The Shock Doctrine (Die Schock-Strategie) anhand von Beispielen zwischen Militärputschen während des Kalten Kriegs und den Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet hatte, werden gerade Krisensituationen dazu genutzt, um autoritäre Projekte bei einer verunsicherten oder desorientierten Bevölkerung durchzusetzen.

Das ist eine wichtige, scharfe Beobachtung. Klein hat dafür den Begriff desDisaster Capitalism“ geprägt, den 2015 der Journalist Antony Loewenstein für ein gleichnamiges Buch mit weiteren Fallstudien aufgriff. Desaster-Kapitalismus ist die Logik einer vermeintlichen Unausweichlichkeit im Krisenmoment, von Margaret Thatchers Slogan „There is no alternative“: Es gibt keine Alternative dazu, den Sozialstaat, öffentliche Verkehrsmittel oder humanistische Universitätsfakultäten durch Einsparungen kaputtzuschrumpfen; es gibt keine Alternative dazu, nach einer Naturkatastrophe den Wiederaufbau den zugleich teuersten und fahrlässigsten Großkonzernen zu überlassen; es gibt, und das ist die Folge von alledem, keine Alternative dazu, ganze Gesellschaftsschichten der Prekarisierung auszuliefern, damit sie selbst keine Alternative dazu haben, sich der Industrie als billigste Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. In der Tat gibt auch die Covid-Pandemie einige Beispiele für Desaster-Kapitalismus her: von der Maskenaffäre hin zu den Profiten, die Firmen wie Microsoft oder Zoom durch die erzwungene Umstellung auf digitale Lehre machten.

An einer solchen konkreten Kapitalismuskritik war Han freilich weniger interessiert als daran, wie die „digitale Biopolitik […] mit ihrem Kontroll- und Überwachungssystem die Kontrolle über unsere Körper in einer biopolitischen Disziplinargesellschaft ergreift“. Dennoch bereitete es mir ein ganz persönliches Unbehagen, wie nahtlos der Übergang war, wie anschlussfähig die materialistische Analyse des Ausbeutungskapitalismus für das apokalyptische Geraune schien.

Wo ist die Grenze zwischen einer kritischen Untersuchung, in der komplexe politische Phänomene auf eine elegante Formel wie Desaster-Kapitalismus reduziert werden, und der paranoiden Suche nach den ‚wahren‘ Gründen für die augenfälligen Probleme und Ungerechtigkeiten? Mit solchen Fragen wird die paranoide Perspektive zum übergreifenden Weltbild. Gerade weil ich Kleins Shock Doctrine so überzeugend fand und selbst regelmäßig zur reaktionären Politisierung von Krisen schrieb, stellte ich sie und letztlich mich unter Verdacht, auf die Schwurbelzone zuzusteuern, in der Wolf, Agamben oder Han so mühelos angekommen waren.

In der Verwechselbarkeit der beiden Naomis schien sich dieses Problem allegorisch zuzuspitzen und zwang Klein aus dieser vielleicht aufklärerischen, vielleicht paranoiden Logik heraus, sich damit ernsthafter zu beschäftigen – das heißt, ein verstörendes Phänomen unserer Gegenwart so weit zu durchdringen, bis es sich auf elegante Formeln reduzieren und in ein lesenswertes Buch fassen lässt. Doppelganger (2023, auf Deutsch noch nicht angekündigt) ist teils autobiographisch, teils eine sehr umfassende Bestandsaufnahme der politischen Kultur der letzten Jahre. Es ist nicht als philosophischer Text geschrieben, wirft aber grundsätzliche Fragen zu einer politischen Epistemologie auf. Klein nutzt die Figur des „Doppelgängers“ und die einer dazugehörigen „Spiegelwelt“, um die unheimliche Verwechselbarkeit zwischen kritischen linken Positionen und der nach rechts weit offenen Schwurbelzone auszuloten, die sich am Ende trotzdem als unaufhebbar widersprüchlich erweisen.

Doppelgänger:innen in Märchen, Filmen oder Romanen sind Verkörperlichungen einer Identitätskrise, die zur Gefahr für die Person wird, wenn sie durch ihr Doppel ausgetauscht oder überschrieben wird. Sie sind nur in einer Gesellschaft denkbar, in der das Individuum als einzigartig verstanden wird und dessen Einzigartigkeit zugleich instabil bleibt, gewissermaßen immer nur flüchtig zwischen Person und Gesellschaft ausgehandelt: Der Eigenname im Ausweis, auf dem Buchumschlag oder im Social-Media-Profil, der mit den eigenen Erinnerungen und denjenigen anderer korrespondiert. Auf einer grundlegenden psychologischen Ebene geht es hier um Objektpermanenz, die Fähigkeit, jemanden oder etwas als dieselbe, denselben, dasselbe wiederzuerkennen, selbst wenn wir sie zwischendurch nicht sehen.

Objektpermanenz ist ein unerlässliches Mittel der Psyche, um Gemeinschaftlichkeit überhaupt denkbar zu machen – dennoch bleibt sie gerade in ihrer sozialen Anwendung zu einem winzigen Teil immer spekulativ, wenn wir beispielsweise annehmen, dass eine Person auch heute so sein wird, wie wir sie von früher kennen. Umgekehrt reflektieren wir, dass und wie wir von anderen als eine andauernde Persönlichkeit wahrgenommen werden. Als Kapitalismuskritikerin kommt Klein nicht umhin, dies vor dem Hintergrund einer den Regeln des Marktes unterworfenen Gesellschaft zu diskutieren, in der Identität als Marke (z.B. ‚die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein‘) aufgebaut und gepflegt werden muss. Soziale Medien fördern und fordern das. Wie Klein beschreibt, entsteht der zumindest indirekte Zwang, sich selbst als Doppelgänger:in auf den üblichen Plattformen anzulegen, um dort die von der eigenen Peer Group als ‚richtig‘ angesehene Haltung zu performen.

Dieses Zurechtstutzen der Person auf eine wiedererkennbare, wettbewerbsfähige Haltung führt mit dazu, die Gesellschaft in „Spiegelwelten“ aufzusplittern, deren jeweilige Ethik nicht aus der Auseinandersetzung mit konkreten Umständen und Vorstellungen von Gerechtigkeit abgeleitet wird, sondern nur im Gegensatz zur Position der anderen Seite stehen muss. Politik ist nicht länger ein Prozess gesellschaftlicher Veränderung, sondern nur noch Markentreue. Von der Diagnose einer ‚gespaltenen Gesellschaft‘ brauchen wir nicht allzu viel zu halten, um solche Phänomene beobachten zu können. Die Weigerung, Komplexität jenseits einfachster Bekenntnisse für ‚gut‘ und gegen ‚böse‘ anzuerkennen, verflacht auch die Person zum Display, auf dem die Haltung des Augenblicks abgefragt werden kann.

Dass das Profil auf Social Media Persönlichkeit als Kontinuität darstellt, im besten Fall als öffentliches Tagebuch gelesen werden kann, interessiert nicht weiter, wenn es nur auf die aktuelle Performance ankommt. Umgekehrt werden oft genug alte Posts herausgesucht, um damit die fehlende moralische Integrität einer Person anzuzeigen. Post um Post setzen wir weitere Doppelgänger:innen unserer selbst in die Welt, die uns gegenüber zu nichts verpflichtet sind, im Zweifelsfall aber stets gegen uns aussagen werden.

Das alles ist unheimlich, und soll es vielleicht sein – ein kollektives Gaslighting, in dem niemand sicher vor den eigenen Doppelgänger:innen bleibt. Wolf wird für Klein unheimlich, weil sie in ihr gegen ihren Willen (wieder-)erkannt wird: Als kritische Autorin, die die Machtstrukturen hinter aktuellen Krisen aufdecken will, aber auch als jüdische Frau. So sehr Doppelgänger:innen dabei an das Problem der individuellen Identität rühren (was würde passieren, wenn ich mir auf der Straße selbst begegnen würde?), so sehr sind sie ein Mittel paranoider Gesellschaftskritik (was ist, wenn die Menschen auf der Straße nicht die sind, für die ich sie halte?). Der, die oder das Andere als ein Gegenüber des Individuums – eben nicht ich – kann im gesellschaftlichen Zusammenhang zum Anderen werden, das nicht der eigenen Gemeinschaft angehört. Doppelgänger:innen werden damit politisch – bedrohliche Un-Personen, die ein Kollektiv unterwandern. In der Popkultur wird das zum Motiv von Horror- oder Sci-Fi-Geschichten wie Das Ding aus einer anderen Welt oder Die Körperfresser kommen.

Es ist bezeichnend, wie einfach diese Storys aktualisiert und an gegenwärtige gesellschaftliche Fragen angepasst werden können – bereits beim ersten Körperfresser-Film, Don Siegels Die Dämonischen von 1956, könnte der schleichende Austausch der Menschen durch emotionslose Außerirdische eine Allegorie auf eine kommunistische Unterwanderung der USA oder auf den Konformismus der antikommunistischen McCarthy-Ära sein. Wenn Naomi Wolf also ihre bizarre Mär davon vorträgt, wie die Impfstoffe die „Energiefelder“ der Menschen verändern, sie gefühllos, wie „Hologramme“ wirken und „Teenager und ältere Kinder sich wie Zombies oder Roboter“ bewegen lassen, werden dabei bekannte Motive aus der Science Fiction abgerufen und mit der Kritik an einem vorgeblichen Konformismus der Geimpften verwoben.

Dies trägt nicht zuletzt dazu bei, die Anderen zu entmenschlichen. Im persönlichsten Abschnitt des Buches schreibt Klein über ihre eigenen Erfahrungen als Mutter eines autistischen Kinds. Die anfangs eher in ‚alternativmedizinischen‘ Kreisen verbreitete Falschinformation, dass Autismus eine Nebenwirkung von Impfstoffen sei, nimmt im neuen Zusammenhang der Covid-Pandemie eine bedrohlichere Note an. Wolfs dystopische Beschreibung von Geimpften als empathielos, kommunikationsunfähig und letztlich nicht ganz menschlich spiegelt gängige Vorstellungen von autistischen Personen. Klein zeichnet nach, wie die Pathologisierung autistischer Kinder zu Doppelgänger-Figuren in vielerlei Hinsicht eine Gewaltgeschichte ist: Von der ersten Bestimmung als Krankheit durch Hans Asperger, der autistische Kinder mitunter als genialisch verklärte, aber viele mit seiner Diagnose effektiv in den Tod im NS-Euthanasie-Programm schickte, bis hin zu Eltern, die eine solche Diagnose vor allem als eine persönliche Enttäuschung wahrnehmen und sie durch die rücksichtslose Anpassung des Kindes an die eigenen normativen Vorstellungen wiedergutmachen wollen.

Im Narrativ vom ‚falschen‘ Kind erkennt Klein eine den Doppelgänger:innen verwandte folkloristische Figur wieder – das Wechselbalg, ein dämonisches, monströses Wesen, das Eltern anstatt des eigenen Kindes untergeschoben wird. Als Märchen kann das der Ausdruck von Ängsten sein, aber auch die nahezu ritualisierte Rechtfertigung, als anders empfundene Kinder gewissermaßen für deren falsche Existenz zu bestrafen: Oft gehört zu diesen Geschichten, dass das Wechselbalg extremer Gewalt ausgesetzt werden muss, damit es wieder ins Reich der Feen flüchtet und mit etwas Glück das ‚echte‘ Kind zurückkehrt.

Dass es sich bei historischen Wechselbalg-Geschichten ‚eigentlich‘ um eine Chiffre für Gewalt gegen neurodiverse Kinder handeln könnte, zeigt, dass sich selbst eine kritische Hermeneutik nie aus einer verschwörerischen Logik befreien kann: Hier ist es eben die andauernde Verschwörung gegen das autistische Kind, die im alten folkloristischen Motiv aufgedeckt wird. Wie lässt sich hier eine klare Grenze ziehen? Wechselbälger oder zombifizierte Geimpfte sind Fiktionen, höchstens von denjenigen als wahr empfunden, die sich die Welt auf andere Weise nicht erklären könnten.

Dennoch steht hinter der falschen Erklärung ein Erklärungsbedarf. Verschwörungstheoretiker:innen mögen bei den Fakten falsch liegen, schreibt Klein, doch nicht im Gefühl. Und in der Tat lag während der Pandemie vieles im Argen, was auf konkrete Machtverhältnisse zurückgeführt werden könnte – seien es die Prekarisierung der Pflege, das Geschacher der Pharmaindustrie um Patente, anstatt die Impfstoffe für weltweite Herstellung freizugeben, oder die klaren Interessen der Techindustrie an einer erzwungenen Digitalisierung. Weshalb also eine Erklärung für solche Missverhältnisse suchen, die auf den ersten Blick als wirre Fantasterei zu erkennen sein sollte – warum schlechte Science-Fiction über verimpfte Überwachungschips verbreiten, anstatt sich beispielsweise für offene Softwarestandards und eine gerechtere Gesundheitspolitik einzusetzen?

Die erste Antwort ist: Weil es zu kompliziert wäre. „Der paranoide Verstand ist viel kohärenter als die wirkliche Welt“, schrieb der Historiker Richard Hofstadter bereits 1964 in seinem Essay „The Paranoid Style in American Politics“. Wenn Bill Gates und George Soros als übermächtige Strippenzieher für alles verantwortlich sind, was in der Welt schiefläuft, bleiben nicht allzu viele Fragen offen und erst recht nicht diejenige, auf welcher Seite man steht. In dieser Vereinfachung auf ein Schema von Gut vs. Böse fällt vieles weg, und genau dies könnte die Taktik dahinter sein. Klein nennt dies „Wege des Nichtsehens“, eine Weltsicht, davon geprägt, an den wesentlichen Problemen, an den konkreten menschlichen Anliegen vorbeizuschauen, die hinter den immer weiter gespiegelten Doppelgänger:innen verborgen bleiben.

Nun hat Klein selbst politische Anliegen, und aus diesen lässt sich die zweite Antwort ableiten: Weil es zu kompliziert wäre, sich mit dem Kapitalismus (und der eigenen Verstrickung in dessen Machtverhältnisse) auseinanderzusetzen. Erneut werden wir mit einer Verschwörung konfrontiert, die diesmal hinter dem Verschwörungsdenken selbst steht. Hier lassen sich allerdings keine finsteren Strippenzieher:innen ans Licht zerren, sondern nur die eigene, selbstverschuldete Unmündigkeit gegenüber einem System, das auf Ausbeutung und Ungleichheit aufbaut (an dieser Stelle der allfällige Disclaimer, dass auch dieser Text auf Geräten geschrieben und gelesen wird, in deren Produktion höchstwahrscheinlich Kinder- und/oder Zwangsarbeit eingeflossen ist). Anders gesagt: Bill Gates als dämonischer Blutsauger lenkt den Blick weg von Bill Gates als Vertreter eines kapitalistischen Systems, von dem selbst die meisten Aluhüte dadurch profitieren, indem auch sie nicht in einem Sweatshop oder einer Coltan-Mine arbeiten müssen.

Ein pragmatischer Zugang zum Dilemma um Doppelgänger:innen und Spiegelwelten wäre also die Frage, was verborgen bleibt oder wird, wenn vermeintlich etwas ‚aufgedeckt‘ wird – ein Zugang, der nicht auf das beschränkt bleiben darf, was wir von vornherein als Augenwischerei abtun. Klein weiß sehr wohl, dass Aufklärungsarbeit niemals neutral bleibt, weil sie schließlich von historisch und kulturell verorteten Menschen betrieben wird.

Dass es ausgerechnetjüdische Intellektuelle waren, die sowohl im frühen Marxismus wie in der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts den Kapitalismus als Ideologie und Machtstruktur dekonstruierten, ist ein antisemitisches Narrativ, aber ebenso – wie Klein zu einem plot twist verdichtet – die jüdische Reaktion darauf, zum Sündenbock für gesellschaftliche Zustände gemacht zu werden, die eigentlich dem Kapitalismus anzulasten sind. Das ist im 21. Jahrhundert nicht weniger aktuell: US-amerikanische Rechtsradikale verwenden mittlerweile routiniert die Chiffre vom „Kulturellen Marxismus“, aus dem vorgeblich die zeitgenössische Identitätspolitik und ergo sämtliche die ‚westliche Zivilisation‘ (sprich, die heteronormative weiße Gesellschaft) bedrohenden Phänomene zwischen Black Lives Matters und körperlicher Selbstbestimmung stammen.

An Perfidie ist das kaum zu überbieten – dem simplen Anliegen schwarzer oder trans Menschen, nicht ermordet zu werden, wird die Legitimität entzogen, weil sich dahinter eigentlich ein politisches Projekt dubioser (jüdischer) Marxist:innen verberge; zugleich werden letztere als Gruppe identifiziert, die aus dem Diskurs und schließlich der Gesellschaft ausgeschlossen gehört. Chris Rufo, der als Stratege der radikalen Rechten in den USA solche Narrative erfolgreich verbreitet hat, arbeitet bereits daran, den Nahost-Konflikt auf ähnliche Weise nutzbar zu machen: Konservative sollten „einen starken Zusammenhang zwischen Hamas, BLM, DSA [den demokratischen Sozialist:innen], und der akademischen ‚Dekolonisation‘ im öffentlichen Bewusstsein herstellen“ – eine neue Kohorte von Doppelgänger:innen also, dank der dann in den USA das Uni-Seminar zur Geschichte der Sklaverei und danach die Gewerkschaft in der Autofabrik verboten wird, weil sie irgendwie für die in Israel durch die Hamas durchgeführten Massaker mitverantwortlich seien.

Es ist schwer, sich gegen solchen Unfug zu wehren. Zum einen können kontrafaktische Mythen überzeugender sein, da sie schlichtweg einfacher sind, unmittelbar ein Feindbild bieten, das zur Verantwortung gezogen werden soll. Zum anderen findet dies alles innerhalb von Diskursen statt, die als Wettbewerb und nicht als gemeinschaftsbildender Prozess geführt werden. Als Angehöriger einer Minderheit zögere ich oft selbst, mich zu diesbezüglichen Konflikten zu äußern, gerade weil ich weiß, dass das als Versuch interpretiert werden würde, mir einen Vorteil zu verschaffen – wenn zum Beispiel hochrangige deutsche Politiker:innen über ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ und eine ‚Einwanderung ins deutsche Sozialsystem‘ sprechen, als wäre der Wunsch nach besseren Lebensumständen nicht selbstverständlich, sondern eine kriminelle Masche, gehe ich als sogenannter Spätaussiedler vorsichtshalber davon aus, dass selbst die glatteste ‚Integration’ gerade als Beweis dafür angebracht werden könnte, sich hier etwas erschlichen zu haben. Im Sinne Kleins muss ich immer damit rechnen, dass in oder statt mir mein Doppelgänger des ‚Einwanderers‘ erkannt wird, den ich als Individuum immer vertrete, ohne über seine Identität bestimmen zu können – „du kannst dieses Doppel nicht abschütteln, weil du es nicht selbst erschaffen hast“, wie sie zu solchen identitätspolitischen Doppelgänger:innen schreibt.

Und dann kann es sogar ganz verlockend werden, sich selbst in den Spiegelwelten zu verirren. In einem sonderbaren Text für den Guardianschrieb Klein wenige Tage nach dem Gewaltausbruch in Israel zu Antisemitismus. Es ist wieder ein persönlicher Text, doch auch einer, dem man förmlich die Anstrengung des Nichtsehens anmerkt. Am Antisemitismus scheint ihr weniger wesentlich, dass er Gewalt legitimiert, als dass er in Folge den „militanten Zionismus“ anfeuert; an den israelischen Opfern muss sie daher schnell vorbeischauen, in eine unausweichliche Zukunft, in der die Israelis wieder dem entsprechen, was Klein in ihnen sehen will: Täter:innen, eben. Inmitten der gegenwärtigen Spiegelwelten, in denen genug Akteur:innen ohne zu zögern Rassismus gegen Antisemitismus ausspielen werden, um den Kampf gegen beide zu sabotieren, bleibt es wesentlich, sich klar gegen Gewalt und Unrecht zu positionieren; es sollte aber der Sache nie schaden, einfach kurz zu schweigen, wenn man im Chaos des Augenblicks nichts anderes produzieren würde als weitere Doppelgänger:innen.

Sag alles ab – Wie ich einmal fast Stadtschreiber von Gelsenkirchen geworden wäre

von Tobias Siebert

Der Anruf kam, als ich an einem Mittwochmittag im April in einem Second-Hand-Laden in Verona stand. Die Stimme auf der anderen Seite sagte, sie freue sich, mir mitteilen zu können, dass sich die Jury für mich als nächsten Stadtschreiber in Gelsenkirchen entschieden haben. „Oh, da freue ich mich“, stammelte ich verlegen. „Teilen Sie mir doch bis Montag mit, ob Sie das Stipendium annehmen möchten“, sagte die Frau, und wir verabschiedeten uns damit, dass sie mir nochmal eine Mail mit den weiteren Details schicken würde und ich mich bis zum nächsten Montag zurückmelden würde.

Ich war gerade mit Autor*in C im Italienurlaub. Die Bewerbung und das mögliche Stipendium hatte ich so gut wie vergessen. Ich streifte durch den Laden und sagte zu C: „Ich hab das Gelsenkirchen-Stipendium bekommen.“ Nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, wurde mir sofort schlecht. Ich musste den Laden verlassen und eine Zigarette auf dem Vorplatz rauchen. Auf meinem Handy suchte ich nach der Ausschreibung. Drei Monate Gelsenkirchen von Mitte Juli bis Mitte Oktober. Eigene Wohnung plus 1.500 Euro pro Monat, dazu Fahrtkosten für An- und Abreise. Gefordert wurde, Texte über Gelsenkirchen zu produzieren, die das Leben literarisch einfangen. Was auch immer das heißen sollte.

„Womit hast du dich beworben?“, fragte C.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich dasselbe wie immer. Irgendwas mit Jugendlichen und Subkultur.“

Die Bewerbung hatte ich wie so oft aus älteren Bewerbungen zusammenkopiert, angepasst, übertrieben, geflunkert – eben so, dass es für die Jury richtig klingen könnte. Was ich eigentlich gewollte hatte, war Zeit, um an meinem Roman zu schreiben. Keine Ablenkung, etwas Geld, ein bisschen Ruhe. Die kitschige Vorstellung einer Literaturresidenz eben. Natürlich war ich nicht davon ausgegangen, dass ich das Stipendium überhaupt bekommen würde und hatte mich beworben, weil es halt dazu gehört. Ständig irgendwo irgendwas hinschicken und hoffen, dass es klappt.

Im letzten Jahr hatte ich das Glück, für zwei Residenzen ausgewählt worden zu sein. Glück? Naja.

Ich verbrachte zunächst vier Monate in Altena. Irgendwo zwischen Hagen und Siegen. Ich wohnte allein in einer Wohnsiedlung, traf  so gut wie keine Menschen, ging mit dem Hund spazieren und aß um Punkt 12 Uhr Mittag, schaute das Vorabendprogramm im Fernsehen, aß um 18 Uhr zu Abend und ging manchmal vor um 21 Uhr ins Bett, weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Die letzten Wochen und Tage dort waren schlimm. Genoss ich am Anfang noch die Abwechslung des ländlichen Lebens, fieberte ich ab der Hälfte der Zeit darauf hin, zurück nach Leipzig zu kommen, meine Freund*innen zu treffen, Essen zu gehen, Leute zu sehen, raus zu gehen. Als ich Ende Juni wieder in meiner Wohnung ankam, war ich völlig neben der Spur, wusste nicht, was ich tun sollte, konnte kaum rausgehen, Menschenmengen waren mir zu viel. Es war alles zu laut und zu voll. Zugegeben, ich konnte in Altena ziemlich gut schreiben. Ich hatte Struktur, setzte mich jeden Morgen brav an den Schreibtisch und schrieb meine Seiten voll. Als ich wieder in Leipzig war, konnte ich den Text nicht mehr anrühren und brauchte eine ganze Zeit, um mich wieder an das alte Leben zu gewöhnen.

Kurz nach meiner Rückkehr bekam ich eine Residenz in Augustusburg zugesprochen. Bis dahin wusste ich nicht mal genau, wo Augustusburg liegt. Irgendwo bei Chemnitz. Es sah idyllisch aus, mit Schloss und Berg. Die Zusage kam Mitte Juli, die Residenz sollte Ende August beginnen. Ich musste zunächst aushandeln, dass ich später kommen könnte, da ich mir auf der Arbeit nicht so schnell freinehmen konnte. Schon damals fragte ich mich, was es für eine Erwartungshaltung ist, dass ich innerhalb von vier Wochen dort hinkommen könne. Immer alles freihalten, es könnte doch noch eine spontane Zusage kommen. Planbarkeit? Fehl am Platz.

Nun also Gelsenkirchen und die nächste Residenz. Drei Monate weg. Drei Monate kaum soziale Kontakte. Drei Monate in einer fremden Wohnung hocken, die Zeit absitzen. Dazu den Deal eingehen, Texte zu schreiben, die sowieso niemand liest, die irgendwo verschwinden, unbeachtet, aber immerhin mit Lokalbezug. Dafür 1.500 Euro gesponsert von der Gelsenwasser-Stiftung. Lohnen würde sich das Ganze sowieso nur, wenn ich meine Wohnung in Leipzig untervermieten würde und mir so die Möglichkeit nähme zwischen den Orten zu pendeln. Dass das Pendeln sowieso unrealistisch war, stellte ich fest, als ich sah, dass die Zugverbindung zwischen Leipzig und Gelsenkirchen über sechs Stunden betrug.

Natürlich freute ich mich auch über die Zusage und darüber, dass ich ausgewählt wurde, dass sich irgendeine Jury für mich und meine Arbeit entschieden hatte. Trotzdem war der Urlaub an der Stelle für mich gelaufen. Die Vorstellung den ganzen Sommer in Gelsenkirchen verbringen zu müssen, bereitete mir Panik. Ich wusste, dass ich dort nicht hinwollte, obwohl ich mich beworben hatte. Nicht weil ich über Gelsenkirchen schreiben wollte, sondern weil es eben so läuft, weil das der Betrieb so will – noch ein Stipendium, noch eine Residenz für den Lebenslauf. Damit es gut aussieht, damit sich Verlage irgendwann für mich interessieren. Nur für ein kleines bisschen Aufmerksamkeit, um die Karriereleiter aufzusteigen.

Ich weiß, dass meine Situation privilegierter ist als die der meisten. Abgeschlossenes Studium am Literaturinstitut Leipzig, ein flexibler Home-Office-Job, der die Fixkosten deckt und mir Zeit zum Schreiben lässt. Keine Familie, keine Kinder, um die ich mich zu Hause kümmern muss, keine körperlichen Einschränkungen. Denn das wollen die meisten Literaturresidenzen: biegbare Autor*innen – zeitlich und räumlich. Dass ich es mir nicht leisten konnte, drei Monate Leipzig zu verlassen, war mir eigentlich von Beginn an klar. Anfang des Jahres hatte ich erneut eine Therapie angefangen, drei Monate nicht in Leipzig zu sein, würde bedeuten, den langersehnten Platz aufgeben zu müssen. An einem anderen Zeitpunkt wieder von vorne anzufangen. Die eigene psychische Gesundheit auf Halde zu setzen für das Ziel, irgendwann irgendwo ein Buch zu veröffentlichten.

Was bin ich bereit, dafür einzugehen? Was will ich aufgeben? Wie wahrscheinlich ist es, dass ich in Gelsenkirchen einen Buchvertrag finden würde? Tendenz gegen null, gestand ich mir ein. Ich schrieb eine Mail an die zuständige Koordinatorin und fragte nach den genauen Bedingungen der Residenz, log, dass ich erst mit der Arbeit abklären müsste, ob ich so lange fortsein könne, in der Hoffnung, vielleicht eine Lösung zu finden, bei der ich das Stipendiengeld bekommen könnte, ohne 12 Wochen am Stück in Gelsenkirchen sein zu müssen. Denn natürlich freute ich mich über den finanziellen Teil des angekündigte Stipendiums. In der Antwort hieß es, man ginge schon davon aus, dass das Stipendium größtenteils vor Ort wahrgenommen werde, dass man aber bis jetzt noch keinen Vertrag gebraucht hätte, um das festzuhalten, dass es noch bezahlte Lesungen gäbe und dass eben genannte Texte über die Stadt entstehen sollten. Von einer Plattform, auf der die Texte erscheinen würden, war nicht die Rede. Sinnloses Produzieren von Textmaterial als künstlerische Werbung für die Stadt. Mehr nicht. Kein Interesse an einer nachhaltigen Förderung für Autor*innen.

Hier liegt das Problem: Literaturresidenzen, vor allem solche als Stadtschreiber*in, fordern in erster Linie Eingeständnisse von Autor*innen. Ich schreibe jenen Text über eine Stadt, damit ich heimlich an meinem wirklich, richtig, echten Text arbeiten kann. Es ist ein Katz- und Maus-Spiel. Ich verkaufe meine Zeit, meine Anwesenheit an einem Ort, den ich nicht kenne, ohne Leute, die ich kenne. Ich bin auf mich allein gestellt und soll im besten Fall Stadtmarketing betreiben. Ich werde einkauft. 1.500 Euro pro Monat als Vollzeitstelle. 24 Stunden vor Ort sein. Dass dabei die Autor*innen auf der Strecke bleiben, scheint in den meisten Ausschreibungen völlig verdrängt zu werden. Die Städte wollen sich mit Literatur und der großzügigen Geste auf dem Rücken der Autor*innen schmücken. Wer kann es sich denn leisten, mehrere Monate diesen Kompromiss einzugehen? Wer kann überhaupt mehrere Monate von quasi jetzt auf gleich den Ort wechseln? Wer hält es mehrere Monate ohne soziale Kontakte aus?

Die hiesige Literaturförderung hinkt gewaltig und hat nicht erst seit gestern ein strukturelles Problem. Literaturresidenzen gehen oftmals völlig an den Bedürfnissen der Autor*innen vorbei. Natürlich kann ein Ortswechsel in der künstlerischen Arbeit helfen und inspirierend sein, doch es wird eine riesige Kompromissbereitschaft für ein kleinwenig Zeit und Geld erwartet, Vereinbarungen, die nur von den wenigsten überhaupt erfüllbar sind. Das Problem ist nicht die grundsätzliche Bereitschaft Literatur zu fördern, sondern wie viele dieser Programm umgesetzt werden und wie suggeriert wird, es werde etwas für die Literatur und die Autor*innen getan. Als Autor werde ich in eine Ecke gedrängt, in der ich gar nicht stehen möchte, aber vielleicht stehen muss, wenn ich es denn endlich schaffen möchte.

Ich sagte das Stipendium mit einer Lüge ab. Ich schrieb, dass ich es mir aufgrund der Lohnarbeit nicht erlauben könne, drei Monate die Stadt zu verlassen. Meine psychische Gesundheit wollte ich nicht als Grund anführen. Ich hatte keine Lust auf Diskussionen, auf ein Aushandeln, wie oft ich da sein müsste, damit es in Ordnung ist. Natürlich ist es schade um das Geld und die Zeit, aber ich weiß, dass ich diese drei Monate nicht schadenfrei überstanden hätte. Es gibt immer wieder die Momente, in denen ich die Entscheidung, das Stipendium nicht angetreten zu haben, bereue. Habe ich damit alles verspielt? Darf ich überhaupt absagen? Eine Antwort auf meine Absagemail habe ich übrigens nie bekommen.

Ich schrieb diesen Sommer also in Leipzig mit nicht ganz so viel Zeit und mit den Kompromissen der Lohnarbeit. Dafür konnte ich nach dem Feierabend in den Garten gehen, zum See fahren oder mich mit Freund*innen auf eine Limo treffen. Das ist wahrscheinlich wichtiger als eine weitere Zeile im Lebenslauf und drei Monate Selbstausbeutung in Gelsenkirchen.

Foto von Waldemar

Zum Niederknien – Schnürsenkel im mittelalterlichen Island

von Anita Sauckel

Schnürsenkel gehören vermutlich nicht zu den meistbeachteten Gegenständen im täglichen Leben vieler Menschen. Dennoch sind sie allgegenwärtig – und zwar seit Jahrtausenden. Heutzutage gibt es sie in unterschiedlichsten Farben und Ausführungen und für beinahe jede Lebenssituation ihrer Träger*innen: Von breiten bunten Stoffbändern für modische Abwechslung an den neuen Sneakern, über sogenannte Rundsenkel aus Baumwolle oder Kunstfaser für klassische Schnürstiefel, bis hin zu elastischen Ausführungen für Sportschuhe und robusteren Modellen für Wander- und Arbeitsschuhe.

Ich persönlich nehme Schnürsenkel meistens dann wahr, wenn sie zu einem stets ungelegenen Zeitpunkt reißen oder gar zur gefährlichen Stolperfalle mutieren. Tatsächlich habe ich meinen denkwürdigsten Sturz der letzten zehn Jahre den Schnürsenkeln meiner Winterschuhe zu verdanken: Auf dem Weg in die Stadt lösten sich die Bänder meines linken Schuhs aus ihren hakenförmigen Schnürösen auf Knöchelhöhe, um eine ebenso kuriose wie unheilige Allianz mit den Ösen des Nachbarschuhs einzugehen. Der so entstandene Stolperdraht blieb von mir aufgrund der Dunkelheit unbemerkt, bis ich plötzlich vornüberkippte und der Länge nach auf dem gefrorenen Asphalt aufschlug.

Um das Gefahrenpotenzial von Schuhbändern wusste man auch schon im mittelalterlichen Island – ein Ort, der wohl den Wenigsten einfallen dürfte, wenn sie an Schnürsenkel denken. Der kleine Inselstaat im Nordatlantik hat ein sehr umfangreiches mittelalterliches Literaturkorpus aufzuweisen, das zweitgrößte Europas nach dem Französischen, um genau zu sein. Bis um 870 n.Chr. galt Island als weitestgehend unbesiedelt, die sogenannte „Landnahme“, wie die Besiedlung bezeichnet wird, erfolgte bis ca. 930. Familien aus Norwegen, aber auch von den Britischen Inseln, ließen sich auf Island nieder und gründeten dort einen mittelalterlichen Freistaat. Als Grund für die isländische Landnahme wird in den altnordischen Quellen stets das Machtstreben König Harald Schönhaars (isl. Haraldur hárfagri) in Norwegen angegeben, der mit seiner unerbittlichen Herrschaftspraxis freiheitsliebende Untertanen ins Exil nach Island getrieben haben soll. Diese Einschätzung ist von der Forschung allerdings revidiert worden: Es dürfte sich in Bezug auf die norwegischen Siedler vielmehr um Familien der Oberschicht gehandelt haben, die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollten. Über die Schicksale der Landnehmer und ihrer Nachkommen berichten die sogenannten Isländersagas (Íslendingasögur): Bei ihnen handelt es sich um anonyme, auf altnordischer Sprache verfasste Prosaromane unterschiedlichen Umfangs, die sich in moderner Übersetzung beinahe wie historische Romane lesen lassen. Der Zeitraum, in dem diese Geschichten sich zutragen, ist die sogenannte Sagazeit (ca. 930-1030). Sie fällt aus historischer Sicht mit dem späten Frühmittelalter zusammen, zu dem auch die Wikingerzeit (ca. 750–1050) in Nordeuropa zählt.

Verfasst wurden die „Sagas“, wie sie oft abgekürzt genannt werden, allerdings erst ab dem 13. Jahrhundert. Kein einziger Text ist im Original erhalten geblieben, das älteste erhaltene Handschriftenfragment datiert auf ca. 1250. Zentrale Themen sind Fehden und andere Konflikte der Bewohner, aber auch Abenteuer auf Auslandsreisen und Wikingerfahrten, das Übernatürliche (etwa Wiedergänger), starke Frauenfiguren und Liebe spielen eine Rolle. Sagafiguren, insbesondere die Protagonisten, entsprechen weniger mittelalterlichen „Typen“, sondern sind als Individuen wahrnehmbar. Einige Sagas berichten sogar ausführlich vom Leben Geächteter und gewähren erstaunliche Einblicke in ihre Gefühlswelt und Ängste.

Was haben nun diese mittelalterlichen Texte mit Schnürsenkeln zu tun? Sagaverfasser*innen setzten eine Vielzahl an Kleidungsstücken und Kleidungsbestandteilen, darunter Schuhbänder, als literarisches Gestaltungsmittel ein. Anders als lange Zeit angenommen, dienen Bekleidung und „Accessoires“ wie etwa Stirnbänder und Kopftücher, aber auch verzierte Waffen nicht zur reinen Illustration der mittelalterlich-isländischen Umwelt. Vielmehr haben sie eine wichtige Funktion für den Handlungsverlauf, gravierenden Einfluss auf das Schicksal ihrer Träger und teilweise ein regelrechtes Eigenleben. Diese Vorliebe der Verfasser für Kleidung mag nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass in der altnordischen Mythologie der Mensch erst durch Bekleidung zum Menschen wird.

Die Isländer kleideten ihre wikingerzeitlichen Vorfahren mitnichten in speckiges braunes Leder und dunkle, dreckbeschmierte Stoffe. Seitlich kahlrasierte, tätowierte Schädel findet man in den Texten ebenso wenig wie den „Man Bun“, der in modernen Verfilmungen des nordischen Frühmittelalters von Wikingerkriegern alternativ zum seitlichen Kahlschlag getragen wird.

In der Welt der Isländersagas zählt dagegen ein gepflegtes und v.a. gut gekleidetes Äußeres – dementsprechend prachtvoll waren die vermögenden, aus mächtigen Familien stammenden Charaktere ausstaffiert. Dass es auf Island weder Adelige noch ein Königshaus gegeben hat, tut der Vorliebe für Prunk keinen Abbruch: Viele der vestimentären Kostbarkeiten stammen von fremden Herrscherhöfen und waren somit Importgüter: Dazu zählen Gewänder in leuchtenden Farben wie Rot, Blau und Grün aus exklusiven Stoffen wie etwa Leinen, Seide und Scharlach. Bei Letzterem handelt es sich um einen sehr fein geschorenen, mit Kermes eingefärbten Wollstoff, der eine Textur ähnlich dem uns heute bekannten Kaschmir besessen haben dürfte. 

 Stirnbänder, die von Männern über dem sorgsam frisierten, gern lockigen Haar getragen wurden sowie Kopftücher oder Schleier waren mit Goldfäden durchwirkt, Säume von Ober- und Überbekleidung mit kostbaren Borten bestickt. Exklusive Pelze von Hermelin, grauem Eichhörnchen und Polarfuchs finden als Besatz und Futter von Mänteln und Tuniken ebenso Erwähnung wie der Überwurf aus Wolfspelz.

Bei dieser Fülle an exklusiven Kleidungsstücken und Accessoires mag es merkwürdig erscheinen, dass ausgerechnet Schuhbänder in einigen Sagaszenen eine bedeutende Rolle spielen. Im (Alt-)isländischen als skóreimar und skóþvengir bezeichnet, vermögen sie zum Beispiel in der sogenannten Eyrbyggja saga („Die Saga von den Leuten auf Eyr“), die auf der westisländischen Halbinsel Snæfellsnes spielt, einen potenziellen Mörder zu enttarnen: Ein Sklave namens Egill „der Starke“ erhält von den Söhnen seines Herrn den Auftrag, auf einer lokalen Spielveranstaltung deren verhasste Konkurrenten zu ermorden. Nach erfolgreicher Ausführung dieser Tat solle er die Freiheit erhalten. Egill begibt sich heimlich zu den Spielen und hält sich eine Weile auf einem nahen Berg versteckt. Als abends die Feuer entzündet werden und sich viel Rauch in den provisorisch errichteten Unterkünften bildet, der auch in Richtung Berg zieht, verlässt der Sklave sein Versteck und macht sich auf den Weg zu seinen Opfern, die sich in einer der Hütten aufhalten. Die Eyrbyggja saga schildert unvermittelt, dass der gedungene Mörder Schuhbänder mit Quasten trage, „wie es damals Mode gewesen sei“. Eines der Bänder löst sich unbemerkt und schleift hinter dem Schuh her, als Egill die Hütte mit seinen Opfern betritt. Es kommt, wie es in Situationen mit losen Schnürsenkeln eben kommen muss: Egill tritt auf das lose Band und versucht, ausgerechnet mit dem dadurch fixierten Fuß, einen Schritt nach vorne zu machen. Er stolpert und schlägt der Länge nach krachend auf dem Fußboden auf. Sein Aufprall sei so laut gewesen wie der eines frisch geschlachteten Rindes, das zu Boden fällt, kommentiert die Saga. Egill wird entdeckt, von seinen Gegnern ergriffen und nach abgelegtem Geständnis getötet. Die Stelle, an der Egill erschlagen wurde, hieße seitdem Egilsskarð („Egilskluft“).

Egills Schuhbänder erfüllen für die Sagahandlung gleich mehrere Funktionen: Sie machen das Scheitern des Mordvorhabens nachvollziehbar, für das der Sklave mit seinem Leben bezahlen muss und liefern eine Erklärung für die Herkunft des Ortsnamens Egilsskarð. Darüber hinaus gibt es eine weitere Botschaft: Egill, der mit seiner sozialen Stellung in der Sagagesellschaft unzufrieden ist, und seine Herrn oft um Freilassung bittet, strebt nach Höherem. Dieses Streben wird ebenfalls in der Beschaffenheit seiner Fußbekleidung offenbar: Es handelt sich um Schuhe mit explizit modischen Schuhbändern (Quasten). Neumodische Kleidung passt allerdings nicht zu einem Sklaven, bzw. zu einem Sklavenkörper. Gemäß den Konventionen mittelalterlicher Literatur sind modische Extravaganzen der Oberschicht vorbehalten: Tragen Figuren nicht standesgemäße Kleidung entsteht eine Inkongruenz von Körper und Kleid, die zwangsläufig aufgelöst werden muss. Dies kann, wie im Fall von Egill, durch das Scheitern der Figur erreicht werden. Geschulten Rezipienten der Sagaliteratur kündigen solche Inkongruenzen bedeutende Ereignisse an.

Doch auch Angehörige der Oberschicht sind nicht gefeit vor dem Eigenleben ihrer Schuhbänder, die zum Beispiel in der im Gebiet des nordisländischen Eyjafjörður angesiedelten Reykdæla saga („Die Saga von den Leuten aus dem Reykjadalur“) in einen Mordanschlag „verwickelt“ sind: Der Geächtete Grímur erhält den Auftrag, den mächtigen Protagonisten der Erzählung, Skúta Áskelsson, zu erschlagen. Um sich seinem Opfer anzunähern, begibt er sich zu Skútas Hof und bittet ihn um Obdach. Was nach einer unkomplizierten Vorgehensweise klingt, ist für Grímur nicht ungefährlich. Schließlich wird Skúta Áskelsson nicht umsonst Víga-Skúta, also „Totschlags“-Skúta, genannt. Außerdem war es verboten, Geächtete zu unterstützen. Allerdings scheint der Plan zunächst aufzugehen, denn Skúta nimmt den Ausgestoßenen tatsächlich bei sich auf.

Als sich die beiden Männer eines Tages auf den Weg zum See machen, um dort ausgelegte Netze einzuholen, ergibt sich für Grímur plötzlich die Gelegenheit zur Ausführung seines Auftrags: eines von Skútas Schuhbändern hatte sich unterwegs gelöst, sodass er zum Binden in die Knie gehen muss. Grímur versetzt seinem Herrn prompt einen gewaltigen Axthieb. Allerdings trägt Skúta ein Kettenhemd unter seiner Überbekleidung und die Waffe bleibt lediglich im wollenen Überwurf stecken. Das verfehlte Mordopfer ergreift den überraschten Grímur, der seinen Auftrag umgehend beichtet, und macht seinem Spitznamen alle Ehre: „Totschlags“-Skúta bindet Grímur nackt an einen Pfahl auf einer im See Mývatn gelegenen Insel, wo er qualvoll verhungert.

Obwohl die beiden Sagas auf unterschiedliche Art und Weise von losen Schuhbändern erzählen, gibt es Parallelen zwischen den beiden Episoden aus der Eyrbyggja saga und Reykdæla saga: Die potenziellen Opfer, Angehörige der Oberschicht, überleben unverletzt, während die gedungenen Mörder – Figuren vom Rand der Gesellschaft – für ihre Erfolglosigkeit mit dem Leben bezahlen müssen.

Schuhbänder verhindern aber nicht nur Anschläge: Sie tragen zum Beispiel zur Aufklärung von Diebstählen bei, oder sie zwingen ihren Träger dazu, seine momentane Tätigkeit zu unterbrechen und sich folglich auf ein konkretes Vorhaben zu besinnen: Die Ende des 13. Jahrhunderts entstandene „Saga von Njáll“ (Njáls saga) berichtet von solchen Begebenheiten: Sie ist die umfangreichste aller Isländersagas und erzählt von den Schicksalen mächtiger Familien im Süden Islands in den Jahrzehnten um das Jahr 1000, wobei einige Handlungsschauplätze auch außerhalb Islands verortet sind. Im Mittelpunkt steht die Familie des rechtsgelehrten und zukunftskundigen Njáll Þorgeirsson, der mit dem gesamten Haushalt auf seinem Hof Bergþórshvoll verbrannt wird, weshalb die Saga im Isländischen auch als Brennu-Njáls saga („Die Saga vom verbrannten Njáll“) bezeichnet wird.

Während einer Hungersnot wird der Sklave Melkólfur von seiner Herrin Hallgerður zum Diebstahl von Lebensmitteln angestiftet. Er soll diese ausgerechnet vom Hof eines gewissen Otkell stehlen, der Hallgerður und ihrem Mann Gunnar den Erwerb von Ressourcen verweigert hatte. In der Welt der Isländersagas ist Diebstahl ein ebenso gravierendes Verbrechen wie Mord, da Diebstahl ebenfalls heimlich ausgeführt wird. Melkólfur soll sich aber nicht nur die benötigten Nahrungsmittel aneignen, er wird obendrein damit beauftragt, das Vorratshaus niederzubrennen, um seine Spuren zu verwischen. Außerdem beabsichtigt Hallgerður sich durch den Brandanschlag an Otkell für die erlittene Schmach, die Verweigerung von Ressourcen, zu rächen. Der Sklave macht sich eines Nachts auf den Weg zu Otkells Hof und führt seinen Auftrag aus. Auf dem Rückweg reißt plötzlich eines seiner Schuhbänder; Melkólfur repariert die verschlissene Stelle mit seinem Messer und setzt seinen Weg fort. Allerdings vergisst er sein Messer an Ort und Stelle, sodass der Diebstahl aufgedeckt werden kann. Die Saga verliert kein Wort über das weitere Schicksal Melkólfurs, jedoch hat die Tat schwerwiegende Konsequenzen für Hallgerðurs Ehemann Gunnar, der fortan in eine Fehde verstrickt wird, die zu seinem Tod führt.

Das Binden von Schnürsenkeln verschafft nicht nur modernen Menschen eine kleine Verschnauf- und Besinnungspause: Skarphéðinn Njálsson, Sohn des Protagonisten Njáll, versierter wie erfahrener Krieger, muss in einer der bekanntesten Szenen der Saga sein Schuhband binden, bevor er zur eigentlichen Tat schreiten kann: Zusammen mit seinen Brüdern Grímur und Helgi sowie seinem Schwager Kári bricht er zu einem Rachezug auf. Ziel des Angriffs ist ein gewisser Þráinn Sigfússon, der die Reputation von Skarpheðinns Brüdern im Ausland schwer beschädigt hat. Als die drei Brüder ihr Opfer samt Gefolge mitten im Winter beim Überqueren des teilweise zugefrorenen Flusses Markarfljót überraschen und zum Angriff eilen, reißt eines von Skarpheðinns Schuhbändern, sodass er hinter seine Begleiter zurückfällt. Auf Grímurs Frage, weshalb er zurückbleibe, antwortet er lediglich „Ich binde meinen Schuh.“ Kári bemerkt daraufhin, er sei sich sicher, dass diese kurze Unterbrechung nicht dazu führe, dass Skarphéðinn den Gegner später erreiche als die übrigen Kampfgefährten. Tatsächlich springt Skarphéðinn nach erfolgreicher Fixierung seines Schuhbandes auf und sprintet mit hoch erhobener Axt auf den Fluss zu, stößt sich vom Ufer ab, landet auf dem Eis und gleitet seinem Widersacher so schnell entgegen, dass Þráinn nicht einmal Zeit hat, seinen Helm aufzusetzen, bevor ihm Skarphéðinns Axt den Kopf zerschmettert. Der Rachetotschlag ist somit vollendet. Das Reißen von Skarphéðinns Schuhband lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen auf diese Figur, man verfolgt ihren spektakulären Angriff und Axthieb.

Die Kombination von Schuhband und Kampfschauplatz findet sich noch ein weiteres Mal in der Njáls saga. In diesem Fall spielt sich das Geschehen aber nicht auf Island ab, sondern in Irland: Am Karfreitag (23. April) 1014 stehen sich zwei Armeen gegenüber, die in der Schlacht von Clontarf (heute ein Stadtteil von Dublin) um die Vorherrschaft in Irland kämpfen. Unter einer der Kriegsparteien befinden sich auch skandinavische Verbände aus Dublin, von den Orkneys und der Isle of Man. Die Saga berichtet, dass sich einige ihrer Figuren nach der Ermordung des Titelhelden diesen Verbänden als Söldner angeschlossen haben. Allerdings unterliegt das nordische Heer in der Schlacht und schließlich fliehen die besiegten Kämpfer panisch vom Schlachtfeld. Der Isländer Þorsteinn Síðu-Hallsson flieht allerdings nicht, sondern kniet sich nieder und bindet sein Schuhband. Als der siegreiche Heerführer auf Þorsteinn trifft, erkundigt er sich, weshalb er nicht wie all die anderen fliehe. „Deshalb, weil ich heute Abend nicht nach Hause komme, da ich auf Island zuhause bin,“ lautet seine Antwort. Sein Gegenüber ist von dieser Reaktion so beeindruckt, dass er Þorsteinn Frieden gewährt. Sein Mut, sich die Schuhbänder zu binden, rettet dem Isländer somit das Leben.

Die mittelalterlichen Isländersagas eröffnen faszinierende Perspektiven auf den Alltagsgegenstand Schnürsenkel, der sein ungewöhnliches Potenzial als literarisches Gestaltungsmittel entfaltet: Schnürsenkel werden u.a. in Mordaufträge „verwickelt“, tragen zur Aufklärung von Diebstählen bei und bewahren sogar Leben. Wie einige der Sagas zu erkennen geben, kannte man Schnürsenkel als gefährliche Stolperfallen im mittelalterlichen Island ebenso wie heutzutage. Gelegentlich ist es auch in unserer Gegenwart ganz erhellend, über die eigenen Füße zu stolpern – wenn man dafür nicht gerade erschlagen wird.

Sie macht wohl Witze? Über komische Frauen in der Popkultur

von Nele Sawallisch und Wieland Schwanebeck

Wenn Akademiker auf besonders akademische Art frauenfeindlich sein wollen, verkleiden sie sich manchmal als Anthropologen. Christopher Hitchens zum Beispiel – ein heller Kopf, enorm belesen und keiner polemischen Diskussion abgeneigt – denkt im Jahr 2007 in der Zeitschrift Vanity Fair, für die er auch schon Rezensionen und geistreiche Essays verfasst hat, über komische Frauen nach. Er kommt dabei zu, sagen wir mal, eigenwilligen Schlussfolgerungen. Männer, so Hitchens, hätten sich im Verlauf der Evolution eine Art Comedy-Gen antrainiert, um Frauen zu beeindrucken. Die von Natur aus attraktiven Frauen dagegen hätten es nie nötig gehabt, Männer von sich zu überzeugen. Deswegen hätten sie auch niemals eine Komikbegabung entwickeln müssen, weder die akrobatischen Verrenkungen des Slapsticks noch die intellektuelle Doppelbödigkeit des Witzes. Schließlich, so Hitchens, müssten sie ihre ganze Energie ihrer höheren Berufung widmen, nämlich dem Gebären, und das sei nun mal keine komische Angelegenheit. Auf ebenso absurde Weise und mit ähnlich pseudo-biologischen Untertönen, kommt eine berühmte Äußerung von Jerry Lewis daher, überliefert aus einem moderierten Gespräch im Jahr 2000: Mit komödiantischen Frauen habe er ein Problem, schließlich seien die ja eher Gebärmaschinen („a producing machine that brings babies in the world“).

Schwer zu sagen, was zuerst da war: die Ansicht, Frauen könnten nicht lustig sein, oder die von Männern dominierte Comedy-Szene. Beides dient als dürre Erklärung für das jeweils andere. Im 17. Jahrhundert behauptet sich die Dramatikerin Aphra Behn mit ihren Stücken tapfer auf den Spielplänen der Londoner Theater, wohlwissend, dass die Kritiker über jede derbe Pointe in ihren Komödien die Nase rümpfen, dieselben Gags aber mit Schenkelklopfen goutieren, wenn sie von männlichen Autoren angeboten werden. Noch heute übertreffen sich rechte Kommentatoren und YouTuber gegenseitig darin, weibliche Comedians demonstrativ unlustig zu finden. Sie filmen sich selbst dabei, wie sie mit versteinerter Miene einem Standup-Set von Amy Schumer oder einem Late-Night-Monolog von Lilly Singh folgen. Sie schreiben damit eine Tradition fort, die aus der (vermeintlichen) Abwesenheit von Frauen im Kanon der Humorschaffenden auf deren natürlichen Mangel an komischem Talent schließt. Dabei stützen sie sich auf eine imposante Zahl respektabler Gewährsmänner. Die großen Theorien der Komik und des (Ver-)Lachens sind mit Namen wie Aristoteles, Thomas Hobbes oder Sigmund Freud verknüpft. Sie alle gehen stillschweigend von einem weißen männlichen Subjekt aus, auf das die Welt zu beziehen sei, und man weiß nicht so recht, was schlimmer sein soll – mansplaining, adressiert an vermeintlich schlecht informierte Frauen, oder männliches Erklärgehabe, das exklusiv unter Männern bleibt, weil Frauen gar nicht erst zum Gespräch zugelassen werden.

Hobbes warnt vor der hässlichen Fratze des garstig Verlachenden und nimmt dabei eine Machtposition an, die Frauen zu seiner Zeit ohnehin kaum innehatten – um andere wegen ihres fehlenden sozialen Kapitals herabzusetzen, braucht man erstmal selbst welches. Freud flankiert seine Überlegungen zum Witz mit Kastrationsängsten und anderen männlichen Komplexen, fokussiert sich also ebenfalls ausschließlich auf den Mann. Wenn Frauen mal für Gelächter sorgen, dann unfreiwillig, etwa in dem von Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens (1904) zitierten Beispiel für die berühmte Freud’sche Fehlleistung. Eine junge Dame sorgt hier für Erheiterung, als sie in Gesellschaft die Vermutung äußert, ein Mann brauche nur „seine fünf geraden Glieder“, um zu gefallen. 

Frauen, die sich der Pauschaldiagnose der Humorlosigkeit widersetzten, wurden lange Zeit mit einem besonders garstigen Argument verunglimpft. Sie seien wahrscheinlich gar keine richtigen Frauen, sondern Hysterikerinnen oder aggressive Mannweiber. Noch heute kommt es einem Tabubruch gleich, wenn Frauen aufs Feld der Zote oder gar des Pipikacka-Humors vordringen. Die Gruppe herausgeputzter Brautjungfern, die sich im Film Brautalarm (2011) nach einem Restaurantbesuch auf dem Kundenklo des Brautmodengeschäfts die Seele aus dem Leib kotzt und kackt, drückt nicht nur den eigenen Darminhalt, sondern auch so manches Klischee über diskrete und klinisch saubere Weiblichkeit in die Schüssel. Der Soziologe Gregor Balke hat mit Poop Feminism (2020) eine geistreiche, mit vielen Beispielen unterfütterte Kulturgeschichte der weiblichen Fäkalkomik vorgelegt, die diesen Tabubruch als Geste der Selbstermächtigung deutet.

Das Feuilleton nimmt solche Zäsuren aufmerksam zur Kenntnis, feiert sie – im Fall von Brautalarm möglicherweise etwas zu einseitig – als Sternstunden der feministischen Komik und veröffentlicht Loblieder auf die zeitgenössische Comedy-Avantgarde. Hannah Gadsby, die in ihrem Programm Nanette (2018) das gesamte Standup-Format dekonstruiert, zählt ebenso dazu wie Tig Notaro, die in ihrer Show Boyish Girl Interrupted (2016) nach ihrer Krebserkrankung dem Publikum ihren Körper ohne Brüste präsentiert  und das Unbehagen im Saal spürbar auskostet.

Es sind überfällige Triumphe queerer Frauen, nachdem sich der Feminismus lange Zeit schwergetan hat, Witz und Ironie in sein rhetorisches Arsenal aufzunehmen. Ernstgemeinte politische Forderungen, so lautete die Befürchtung, könnten durch die Doppelbödigkeit des Witzes genauso aufgeweicht werden wie die kämpferische Haltung durch Ironie. Trotz der Furcht vor dem Stigma der vermeintlichen feministischen „Spaßbremse“ betont etwa Sara Ahmed, dass Humor ein wichtiges Instrument sein kann: „Wenn man etwas verlacht, kann man es greifbarer machen, überhöhen und ihm dabei zugleich seine Übermacht nehmen“ (Übersetzung durch die Verf.). Lachen und Gelächter tragen also zur Selbstermächtigung bei und sind damit Überlebensstrategien.

Dennoch ist es wichtig, weibliche Komik nicht mit feministischer Komik gleichzusetzen. Virginia Woolf ruft Aphra Behn in ihrem Buch Ein Zimmer für sich allein (1929) vor allem deshalb zum Vorbild für alle schreibenden Frauen aus, weil Behn von ihrer Arbeit leben konnte, nicht weil ihr Humor progressiver als der ihrer Zeitgenossen gewesen wäre – in ihrem berühmtesten Stück, The Rover, wird sogar auf Kosten vergewaltigter Frauen gescherzt. Wo Frauen sich das Recht erstritten haben, in den Sitcom-Schreibstuben, in den Redaktionen der Satiremagazine und an den Mikrofonen der Comedy-Clubs zu bestehen, da haben sie sich auch das Recht erstritten, genauso misogyn, reaktionär und einfallslos zu scherzen wie die erfolgreichsten männlichen Kollegen aus der „Kennste? Kennste?“-Schule des faulen Vorurteils.

Mangel an Diversität ist letztlich ein Phänomen, an dem weibliche Comedy genauso krankt wie männliche. In den letzten 20 Jahren ging der Emmy für die beste Comedy-Serie zwar häufig an Serien mit starken weiblichen Hauptfiguren bzw. mit paritätisch besetzten Ensembles, aber die Protagonistinnen in Sex and the City (1998-2004), 30 Rock (2006-2013), Veep (2012-2019), Fleabag (2016-2019) und The Marvelous Mrs. Maisel (2017-2023) sind allesamt weiße, heterosexuelle Frauen, die von ökonomischen Sorgen weitgehend verschont bleiben. Mit ihrem Erfolg haben die Stars und weiblichen Showrunner allerdings auch Türen für Kolleginnen wie Margaret Cho, Flame Monroe und Tiffany Haddish geöffnet. Diese bespielen mittlerweile erfolgreich große Bühnen einer Comedy-Szene, die sich im Zuge der #MeToo-Enthüllungen nachhaltig verändert hat.

Regina Barreca, die bereits vor knapp 30 Jahren eine umfangreiche Anthologie weiblichen Humors herausgegeben hat (The Penguin Book of Women’s Humor, 1996), weist zurecht darauf hin, dass Frauen genauso wenig in den 90ern auf einmal komisch geworden sind, wie sie in den 70ern ,über Nacht‘ beruflichen Ehrgeiz, in den 60ern ein sexuelles Bewusstsein oder Ende des 19. Jahrhunderts die Fähigkeit zum Denken entwickelt hätten. Was die gründliche Erschließung und Würdigung weiblicher Comedy-Geschichte angeht, stehen wir noch ziemlich am Anfang. Dass diese Geschichte zur Not auch als freche Schelmengeschichte im Mockumentary-Stil geschrieben werden kann, belegt die kürzlich von Elias Hauck herausgegebene Biographie der Ricarda Willimann (Wer war ich?, 2022). Ihr werden unter anderem die Verantwortung für die erfolgreichsten US-Late-Night-Formate und die Urheberschaft zahlreicher Loriot-Sketche zugeschrieben.

Ebenfalls leider nur fiktional ist die Geschichte der Marvelous Mrs. Maisel, der kürzlich beendeten, bombastisch ausgestatteten und mit viel Verve dargebotenen Serie über eine Pionierin der Standup-Komik, die sich über fünf Staffeln von männlichen Kollegen über den Mund fahren, belehren und an den Rand drängen lassen muss, ehe sie doch noch zum Star wird. Die Erfolgsgeschichte des von Rachel Brosnahan umwerfend gespielten Naturtalents, das sich aus der Umklammerung durch den vergötterten Papa, den Ehemann und die Kinder befreit, um auf der Bühne das Establishment mit Peniswitzen zu provozieren, ist eine ahistorische, wenn auch sympathische Wunscherfüllungsfantasie, die die Anfänge der weiblichen Standup-Kunst in den USA noch einmal zum Leben erweckt und dabei mit realen Pionierinnen der Comedy-Geschichte spielt. Einmal läuft Miriam Maisel etwa Jackie „Moms“ Mabley über den Weg, einer Ikone der afroamerikanischen Comedy-Geschichte, die, gemessen an ihrer langen und einflussreichen Bühnenpräsenz, noch mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Eher im Off bleibt dagegen Elaine May, von deren Werdegang sich die Serie viel abgeschaut hat und die bis vor wenigen Jahren in Vergessenheit zu geraten drohte. May hatte Anfang der 60er als Sketchpartnerin von Mike Nichols für Furore gesorgt und führte in den 70ern als einzige Frau Regie bei mehreren größeren Hollywood-Produktionen. Nach dem legendären Flop Ishtar (1987) wurde sie aber zum bestgehüteten Geheimnis der Branche und verlegte sich darauf, ohne Nennung im Vorspann Drehbücher aufzupolieren.

Es gilt noch manche solcher Werdegänge wiederzuentdecken, worin eine Chance und auch ein Fluch liegen mag. Die ikonische Überhöhung von Pionierinnen wie „Moms“ Mabley verspricht Strahlkraft und Vorbildwirkung, aber sie erhöht natürlich auch den Druck auf die Nachfolgerinnen. Der vom Brautalarm-Team aus der Taufe gehobene Neuaufguss der Ghostbusters (2016), der im Netz schon vor dem Kinostart unbarmherzig getrollt wurde, zeigt, dass Frauen längst noch nicht das Recht zugestanden wird, von dem Adam Sandler oder Eddie Murphy seit Jahrzehnten Gebrauch machen – 100 Millionen Dollar für allenfalls passable Comedy-Blockbuster zu verpulvern, die leidlich unterhalten, im Anschluss aber sofort wieder vergessen sind. Solange solche Großproduktionen Risiko-Investitionen darstellen, werden weibliche Comedians in etablierten Franchises eher als homöopathisch verabreichte Verjüngungskur toleriert. Phoebe Waller-Bridge durfte am Drehbuch des James-Bond-Requiems Keine Zeit zu sterben (2021) mitschreiben und zuletzt die müden Knochen von Indiana Jones vor sich hertreiben; mit ähnlichen Kurzauftritten haben auch Kate McKinnon, Audrey Plaza oder Tiffany Haddish aufhorchen lassen.Wer sich schon von solchen Cameos abwendet, der wird sich nicht zum Einfallsreichtum der ,funny women‘ bekehren lassen, denen die Zukunft gehört. Er wird auch nicht der schallend lachenden Roseanne Barr ins Gesicht schauen können, die über zehn Staffeln den Vorspann der nach ihr benannten Serie beschloss. Ihr Beispiel könnte Hélène Cixous im Sinn gehabt haben, als sie in den 1970er-Jahren in einem Essay das Gelächter der Medusa beschwor, vor dem viele zurückschrecken. Cixous ermutigt uns, der lachenden Medusa ins Gesicht zu schauen – sie kann uns einiges über uns selbst beibringen.

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