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Der Bürger am Ende der Welt – Zwei Bücher über unsere hartnäckige Normalität

von Leo Schwarz

„Danke, dass ihr unseren Selbstbetrug offen legt!“, sagte der Theaterregisseur Volker Lösch im April vor einer Menschenmenge in Berlin. Der selbsterklärte „Boomer“ sprach vor dem Brandenburger Tor auf einer Demo der Letzten Generation – jener Umweltgruppe, die es mit Straßenblockaden und beschmierten Kunstwerken immer wieder in die Nachrichten geschafft hat. Für sie hielt Lösch eine Dankesrede. Der Kampf der Letzten Generation sei ein „Kampf gegen die gesellschaftliche Verdrängung“ und den „Wahnsinn des Alltags“. Die Gruppe zeige, dass man nicht „an der destruktiven Normalität festhalten“ müsse.

Wie auch immer man Löschs Worte beurteilt: Das Gefühl, dass etwas Grundlegendes mit unserer Normalität im Argen liegt, beschleicht in letzter Zeit nicht nur ihn. Wie ist es eigentlich möglich, dass unser Alltag so hartnäckig bleibt wie er ist, trotz der drückenden Ahnung einer kommenden Katastrophe? Wieso scheinen die großen Krisen unserer Zeit in unserer Lebenswelt oft so weit weg und warum ist das Leiden vieler Menschen so selten in unserem Alltag präsent?  

Gefühlslagen und Vorstellungswelten

Zwei Bücher aus jüngerer Zeit suchen nach Antworten: Die Philosophin Henrike Kohpeiß denkt über Bürgerliche Kälte nach, der Soziologe Stephan Lessenich hält unsere Gegenwart für Nicht mehr normal. Es sind zwei grundverschiedene Bücher, bei Kohpeiß eine umfangreiche und komplexe Doktorarbeit – bei Lessenich ein thesenstarkes Sachbuch zur Lage der Welt. Und dennoch interessieren sich beide für eine ähnliche Problemlage: „Wie ist es möglich, dass wir die strukturellen Widersprüche unserer gesellschaftlichen Existenz wahrnehmen, in unserem Alltag aber doch durch die Bank so tun, als ob nichts wäre?“, fragt Stephan Lessenich. Und Henrike Kohpeiß staunt darüber, „wie erfolgreich die bürgerliche Gesellschaft ihr Überleben organisiert, obwohl ihre Überwindung politisch und kulturell geboten scheint“.

Für beide liegt die Antwort irgendwo in uns selbst, in unserer Subjektivität, unserem eigentümlichen Weltzugang. Für die Philosophin geht es hier um eine komplexe soziale Gefühlslage, die sie in Anlehnung an Theodor W. Adorno „bürgerliche Kälte“ nennt. Gemeint ist damit eine Art Technik oder Strategie, sich mit der Realität in Beziehung zu setzen und zugleich vor ihr zu schützen. In die bürgerliche Kälte können „die unmittelbaren Folgen vieler Katastrophen nicht vordringen.“ Lessenich wiederum interessiert sich für das „gesellschaftliche Imaginäre“ (nach Cornelius Castoriadis). Der Begriff beschreibt Bedeutungs- und Vorstellungswelten, die Gesellschaften selbst hervorbringen und die dann als selbstverständlich angesehen werden. Also kurz gesagt: was normal ist und was nicht.

Ganz normale Leute

Normal, das ist nach Lessenich in Deutschland seit der Nachkriegszeit die Idee von immer weiter steigendem Wohlstand, ständig erweiterter Konsumversprechen und (als Bedingung dafür) ewigen wirtschaftlichen Wachstums. Als ebenso normal gelte der Nationalstaat als eine natürliche Einheit mit klar geregelter Mitgliedschaft samt natürlicher Grenzen. Normal sind außerdem innerhalb dieser Grenzen dann vor allem normale (weiße) Menschen in normalen Lebensformen, also in normalen Arbeitsverhältnissen (unbefristet, Vollzeit) und normalen (heterosexuellen) Familien.

Nichts von dieser Vorstellungswelt entsprach jemals vollständig der sachlichen Wirklichkeit, aber Abweichungen und Nebenkosten hätte man, so der Soziologe, einigermaßen erfolgreich ausblenden können. Schließlich habe Deutschland tatsächlich irgendwie einen „Platz an der Sonne des globalhistorischen Geschehens“ eingenommen. Damit ist für Lessenich aber seit einiger Zeit Schluss. Die großen Krisen der letzten zwei Jahrzehnte und der Gegenwart setzten diese konstruierte Normalität immer mehr unter Druck. Die Finanzkrise rief in Erinnerung, dass die Steigerungs- und Verwertungsspiralen des Kapitalismus nicht unbedingt Wohlstand für alle bedeuten. Die „Flüchtlingskrise“ gemahnte daran, wie willkürlich und brutal die Zugehörigkeit zu nationalen Gemeinschaften geregelt ist. Die sich entfaltende ökologische Katastrophe entlarvt das ressourcengetriebene Wachstum als selbstmörderisch. Und im Streit um die Identitätspolitik bröckelt zuletzt auch die gesellschaftliche Dominanz weißer, heterosexueller Männlichkeit. Die verbreitete Vorstellungswelt von der Normalität – sie gerät ins Wanken. Und das bewirkt nach Lessenich eine zunehmende soziale Nervosität.

Ausmaß des Selbstbetrugs

Henrike Kohpeiß teilt viele Thesen mit dem Soziologen. Auch für sie lebt der westliche Bürger in seiner eigenen Vorstellungswelt, dessen Grenzen gewaltvolle Ausschlüsse mit sich bringen. Und auch für sie ist er Profiteur einer ungleichen Welt. Aber damit ist nach Kohpeiß noch nicht das volle Maß des Selbstbetrugs beschrieben. Der Bürger bringe das Kunststück fertig, sich trotz seiner Indifferenz für humanistisch, aufgeklärt und vernünftig zu halten. Daher müsse er sich in einer noch anspruchsvolleren Weise über sich selbst und seine Beziehung zur Welt täuschen.

Grundlegend für Kohpeiß Analyse ist ihre Annahme einer engen historischen Verbindung von bürgerlicher Subjektivität mit dem Kolonialismus sowie dem transatlantischen Sklavenhandel. Bürgerliche Gesellschaft und Kolonialismus seien „gleichursprüngliche Großprojekte“,  Sklaverei ein „irreduzibler Teil der westlichen Zivilisation“. Daraus folgt für sie, dass die europäische Bürgerlichkeit in ihrem gesamten Selbstverständnis auf dem Ausschluss von kolonisierten und versklavten Menschen beruht. Freiheit für die einen verweise auf radikale Unterwerfung für die anderen, die Vernunft verweise auf die Unvernunft, Eigentum und Bürgerrechte auf radikale Besitzlosigkeit und Entrechtung. Im Kern liege der europäischen Kultur eine „rassiale Differenz“ zugrunde, die auf Besitzergreifung, Herrschaft, Überlegenheit und Ausschluss basiere.

Hier liegt die faszinierende Provokation von Kohpeiß‘ Studie. Gerade in seinen edelsten Idealen –  Rechtsstaatlichkeit, persönliche Autonomie und, ja, auch Vernunft und Aufklärung  – ist der Bürger für Kohpeiß „hochverdächtig“. Ein sich selbst transparentes, sich selbst besitzendes, sich in Selbstkritik übendes Subjekt, dass seine Vernunft für eine universelle Währung hält, ist für Kohpeiß der Kern des Problems. Als „erkaltetes Wesen“ sei der Bürger ungnädig gegenüber allem, was nicht seinem eigenen Ideal entspricht.

Diesen sich selbst zur Krone der Schöpfung hochschwindelnden weißen Bürger kann man dann nach Kohpeiß auch nicht mit eigenen Waffen schlagen. Und das hat Konsequenzen für ihre philosophische Herangehensweise. Wenn die „Vernunft selbst zum Gegenstand“ des Verdachts wird, dann bleibt für Kohpeiß lediglich eine „dekonstruktive Begriffsarbeit“, die „nur auf den Zerfall der problematischen Anteile“ hoffen kann. So arbeitet sie bewusst ohne Definitionen und Ideengeschichte.

Wer ist der Bürger?

Das hat seinen Preis. Besonders, wenn sie die Begriffe mit ihren „historischen Bezügen stetig kippeln lässt“, zugleich aber historische Großthesen von schwindelerregender Allgemeinheit vertritt. Kann man bei der großen Vielfalt rassistischer Ausgrenzung wirklich behaupten, dass  „Antiblackness“ das Fundament ist, „auf dem alle stehen“? Oder wenn Kohpeiß schreibt, dass der Humanismus „als Ganzes faul“ ist, müsste sie dann nicht genauer bestimmen, was mit dem Begriff gemeint ist? Und dann ist da noch die Frage nach dem Bürger. Wie kann man Bürgerlichkeit „transhistorisch“ fassen und gleichzeitig auf ihrem Ursprung mit der neuzeitlichen Sklaverei und dem Kolonialismus bestehen? Bürger bedeutet eben vieles auf einmal – aber bildet der Begriff dann noch ein adressierbares Ganzes, dessen „Merkmale man in unterschiedlichen historischen Konstellationen“ auffinden kann?

Das Problem, wer eigentlich genau gemeint ist, beschäftigt auch Lessenich. Als Soziologe weiß er natürlich um die tiefe Ungleichheit auch innerhalb westlicher Gesellschaften. Aber für ihn ist es eben nicht nur das „berühmt-berüchtigte eine Prozent“ der Superreichen, das in die Verantwortung genommen werden muss. Auch „die oberen und mittleren Mittelschichten“, also die Gruppe „der zu erwartenden Leser- und Leserinnenschaft“ seines Buches (und wohl auch dieses Artikels), die mit ihren Aktiendepots und ihren Eigentumswohnungen nicht nur Spielball, sondern auch Spieler*innen des Kapitals sind. Und letztlich seien sogar „alle heute lebenden Bürger und Bürgerinnen der reichen Gesellschaften“ in ihren Lebensentwürfen an Erhalt und Steigerung eines materiellen Wohlstands orientiert, dessen ökologische und soziale Kosten unhaltbar sind. „Tief in unserem Inneren sind wir Wachstumssubjekte“, schließt Lessenich.

Vernunft, Verdrängung, Verantwortung

Also hat Kohpeiß doch Recht? Ist das bürgerliche Subjekt in seinem gesamten Selbstbild und damit auch die Vernunft der Aufklärung zu überwinden? Nach Lessenich müsste man eher von einer „irrationalen Rationalität“ sprechen, die unsere Wirklichkeit bestimmt. Damit wäre Vernunft aber immer noch ein Maßstab gesellschaftlicher Verhältnisse. Und ist es denn wirklich die Vernunft, die bei der Philosophin ins Visier gerät – oder doch eher ihre Verkehrung? Die erniedrigende Unfreiheit der Sklavin ist doch kein „gelebter Einwand gegen die Idee der Autonomie selbst“, wie Kohpeiß schreibt. Man müsste doch eher – in der genialen Formulierung der Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan – die „Aufklärung vor den Europäer*innen retten“.

Man hört schon den naheliegenden Einwand: Sind wir denn wirklich für alles verantwortlich? Muss man denn, wie Lessenich, auch noch den russischen Angriffskrieg zum Spiegel unserer Vermessenheit machen? Haben wir denn nicht genug eigene Sorgen? Wir müssen ja auch die Miete zahlen, die Kinder erziehen, Steuererklärungen machen und die tausend anderen Dinge der ewigen To-Do-Liste erledigen. Wer hat schon Zeit für das große Ganze. Und wer versteht schon die Weltgesellschaft?

Ganz falsch sind die Einwände nicht. Natürlich gibt es strukturelle Zwänge und volle Terminkalender und unübersichtliche Verhältnisse. Aber man braucht eben auch keine ökonomische Theorie, um zu wissen, wer die Smartphones baut und wer die T-Shirts näht. Man muss nichts von Menschenrechten wissen, um über den Umgang mit Geflüchteten zu urteilen. Und jenseits der zahllosen Ungerechtigkeiten unserer globalen Normalität ist inzwischen ein Ereignis auf den Plan getreten, an dem niemand mehr vorbeikommt. Mit größter menschenmöglicher Gewissheit rollt eine ökologische Katastrophe auf uns alle zu. Kein noch so privilegiertes Leben kann hoffen, davon unberührt zu bleiben.

Und dennoch wollen „die Leute“ es nicht hören. Nicht mit Vernunft, sondern vernünftelnd reagiert der Bürger auf das drohende Ende seiner Welt: mit falschem Realismus, falscher Ausgewogenheit und falscher Sorge um die „Akzeptanz in der Bevölkerung“. Hierin unterscheidet sich die gegenwärtige Situation vielleicht von allem, was früher schon als Ideologie kritisiert wurde. Die Fakten liegen auf dem Tisch und jeder kennt sie. Und es bedarf dann schon einer handfesten „Verdrängung“, wie Volker Lösch in seiner Rede sagte. Oder, wie der Soziologe Nils Kumkar in Bezug auf Alternative Fakten schreibt, um die „Verneinung“ einer geteilten gesellschaftlichen Wahrheit.

Man muss keine Historikerin sein, um sich auszumalen, was mit einer Demokratie passiert, wenn erst einmal die Ernten ausfallen und das Wasser knapp wird. Darum ist es nicht Geringschätzung der demokratischen Verfahren, sondern die höchste Sorge um deren Fortbestand, die Menschen aktuell in den zivilen Ungehorsam treibt. Auch hier beweist die Letzte Generation mehr Realismus als ihre konservativen Kritiker*innen. Die Gruppe fordert inzwischen einen Gesellschaftsrat, in dem eine repräsentative Zahl von Bürger*innen aus allen gesellschaftlichen Gruppen und unter fachlicher Beratung Vorschläge erarbeitet, wie Deutschland doch noch in kürzester Zeit klimaneutral werden kann. Vorschläge, die dann natürlich noch in letzter Instanz ein freies Parlament beschließen muss.

So problembeladen und unzulänglich solche Forderungen wirken, vielleicht gehen sie doch in die richtige Richtung. Denn angesichts unserer hartnäckigen bürgerlichen Normalität ist die Frage ja gerade: Wie überwinden wir eine verarmte Vorstellung von Politik, die nur als staatliche Dienstleistung begriffen wird und von der man möglichst wenig behelligt werden möchte? Wir brauchen dringend neue demokratische Formen, die den Menschen das Gefühl geben, selbst politisch wirksam zu sein – und damit verantwortlich nicht nur für den eigenen Vorgarten. Verantwortlich auch für die unsichtbaren Kosten des eigenen Lebens, im selben Boot mit den anderen, die nicht zufällig denselben Pass haben. Und nur in diesem Sinne, als unbedingte Zeitgenossen und Teile des Ganzen, wären wir dann doch (mit allen anderen) verantwortlich für alles.

Foto von Marcin Joswiak auf Unsplash

Guilty Pleasures – Die Dornenvögel revisited

von Cecilia Colloseus

CN/TW: Grooming, katholische Kirche, sexualisierte Gewalt, Inzest

Die Dornenvögel gilt weltweit als eine der meistgesehenen Miniserien aller Zeiten. Im Frühjahr 1983 wurde der Vierteiler, basierend auf dem 1977 erschienenen Roman von Colleen McCollough, erstmals ausgestrahlt. Als sogenannter Straßenfeger holte das als Vom Winde verweht Australiens bezeichnete Epos auch in Deutschland ein Millionenpublikum vor die Fernsehbildschirme. Bereits vor der Ausstrahlung sorgte es aber auch für kontroverse Diskussionen und erntete harsche Kritik.

Kirchenvertreter auf der ganzen Welt sahen in der Geschichte um die Beziehung zwischen einem Priester und einer jungen Frau einen Affront gegen die katholische Kirche. Der Skandal wurde vor allem in der Verletzung des Zölibats gesehen, die in der Miniserie gezeigt wird. Auch der Zeitpunkt der US-Erstausstrahlung (in der Karwoche 1983) wurde als problematisch erachtet. Dass in der Verfilmung des Bestsellers die „romantische“ Annäherung zwischen einem Priester und einem neunjährigen (!) Kind ein zentrales Handlungselement ist, wurde damals hingegen mit keinem Wort thematisiert, geschweige denn problematisiert.

Vor dem Hintergrund der sexualisierten Gewalt und ihrer Vertuschung in der katholischen Kirche, die in den vergangenen Jahrzehnten – im deutschsprachigen Raum vor allem seit 2010 – bekannt wurde, wären weder der Roman und seine Verfilmung noch die damals geäußerte Kritik daran heute denkbar. Und es ist durchaus erstaunlich, dass es in der Zwischenzeit keinerlei öffentliche kritische Auseinandersetzung mit der Miniserie gab. Immerhin werden die vier jeweils zweistündigen Filme seit 1983 immer wieder im deutschsprachigen Fernsehen wiederholt. Andererseits nimmt es aber auch nicht wunder, dass eine öffentliche Rückschau ausblieb, galten doch der Roman und seine Verfilmung als seichte „Frauenliteratur“, als „sentimentale Unterhaltung, die an der Wirklichkeit vorbeizielt“ und deshalb nicht der Rede wert sind.

Ich will zum einen versuchen, die kritische Debatte um den Bestseller und seine Verfilmung – zumindest im Kleinen – nachzuholen. Ich beschäftige mich mit Grooming, grenzverletzendem Verhalten, sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Zum anderen begebe ich mich aber auch auf die Suche nach Antworten, woher die Faszination für das Werk kommt, und befasse mich mit seinen homoerotischen Subtexten, dem Female Gaze, der (katholischen) Camp-Ästhetik und der „Hot Priest“-Trope. 

„Love. Unattainable. Forbidden. Forever.” – Die zentrale Handlung

New South Wales 1915: Der junge irische Priester Ralph de Bricassart wurde wegen Ungehorsams gegenüber seinem Bischof nach Australien versetzt. Dort wird er von der wohlhabenden Großgrundbesitzerin Mary Carson protegiert. Die beschließt, ihren mittellosen Bruder Paddy Cleary mit seiner Familie als Pächter ihrer Schaffarm Drogheda einzusetzen, für die Ralph als Pfarrer zuständig ist.

Bereits bei ihrer ersten Begegnung fühlt Ralph eine besondere Verbindung zu Paddys einziger Tochter, der neunjährigen Meghann (genannt Meggie). Da sie von der Familie vernachlässigt wird, nimmt sich der junge Priester ihrer an. Ralph und Meggie bauen eine enge emotionale Beziehung auf. Je älter Meggie wird, desto deutlicher wird, dass sich beide auch erotisch zueinander hingezogen fühlen. Das bleibt Mary Carson nicht verborgen, die den als besonders attraktiv geltenden Ralph ebenfalls begehrt. Unmittelbar vor ihrem Tod sorgt sie durch eine Testamentsänderung dafür, dass Ralph dazu gezwungen wird, Karriere in der katholischen Kirche zu machen (ja, das ergibt keinen Sinn). Er verlässt Drogheda, um zunächst Bischof von Sydney und später Kurienkardinal zu werden, d.h. ein hochrangiger Beamter im Vatikanstaat. Die tief verletzte Meggie heiratet den Tagelöhner Luke O’Neill, der eine vage äußerliche Ähnlichkeit mit Ralph hat, und bekommt die gemeinsame Tochter Justine. Luke hat jedoch keinerlei Interesse am Familienleben und bringt Meggie als Haushälterin bei einem befreundeten Paar unter, um selbst auf einer Zuckerrohrplantage zu arbeiten.

Als Meggie zu einem Erholungsurlaub auf die australische Insel Matlock geschickt wird, kommt es zum Wiedersehen und einer kurzen leidenschaftlichen Affäre mit Ralph. Der entscheidet sich jedoch erneut gegen Meggie und für sein Leben als geistlicher Würdenträger. Nach ihrer Rückkehr von Matlock Island schläft die nun von Ralph schwangere Meggie ein letztes Mal mit Luke, um keine Spekulationen um ihre Schwangerschaft aufkommen zu lassen, und lässt sich scheiden. Mit ihrer Tochter und dem neugeborenen Sohn Dane kehrt sie zurück nach Drogheda. 

Nach einem Zeitsprung von 19 Jahren kehrt Ralph, inzwischen Kardinal, nach Australien zurück und lernt den erwachsenen Dane kennen. Er baut eine väterliche Beziehung zu Dane auf, in dem Glauben, dass Luke dessen Vater sei. Dane entscheidet sich, auch beeinflusst durch seinen engen Kontakt zu Ralph und sehr zum Leidwesen seiner Mutter, ebenfalls für den Priesterstand. Während einer Reise nach Griechenland stirbt Dane und Meggie offenbart Ralph dessen Vaterschaft. Kurz darauf stirbt auch Ralph.   

“She was a child and therefore no danger to his priestly reputation” – Ralphs Zuneigung zu Meggie als Grooming

No one thought of her as important, which meant there was a space in her life into which he could fit himself and be sure of her love; she was a child, and therefore no danger to his way of life or his priestly reputation; she was beautiful, and he enjoyed beauty; and, least acknowledged of all, she filled an empty space in his life which his God could not, for she had warmth and a human solidity. Because he could not embarrass her family by giving her gifts, he gave her as much of his company as he could, and spent time and thought on redecorating her room at the presbytery; not so much to see her pleasure as to create a fitting setting for his jewel. No pinchbeck for Meggie. (McCollough 2008, 111)

In ihrem Essay Grooming in the Thornbirds arbeitet Grace Lapointe heraus, dass Ralphs Verhalten Meggie gegenüber als Grooming gelesen werden kann oder sogar muss. Sie plädiert dafür, die Beziehung der beiden konsequent nicht als Romanze zu lesen, sondern als Geschichte eines lebenslangen emotionalen Missbrauchs. Wie in der zitierten Passage deutlich wird, ist Meggie in erster Linie eine Projektionsfläche für die Intimitätsprobleme eines erwachsenen Mannes. Unumwunden wird hier formuliert, dass es eben nicht um die Emotionen des Kindes geht, sondern um die krankhafte Fixierung auf eine idealisierte und gleichzeitig objektifizierte Person. Im selben Kontext beschreibt McCollough:

She had moved him unbearably, and he didn’t really know why. There was […]her character, which he saw as the perfect female character, passive yet enormously strong. No rebel, Meggie; on the contrary. All her life she would obey, move within the boundaries of her female fate. (McCollough 2008, 111)

Hier wird explizit ein „perfekter weiblicher Charakter“ heraufbeschworen, der durch gleichzeitige Passivität und Stärke gekennzeichnet ist. Der erwachsene Mann projiziert diese „perfekte Weiblichkeit“ auf ein Kind. Es muss also unterstellt werden, dass Ralphs Absichten nicht auf eine väterliche Sorge um Meggie beschränkt sind, sondern er schon in dieser frühen Phase ihrer Beziehung ein erotisches Interesse an ihr hat. Dass er dieses nicht reflektiert und die entsprechenden Konsequenzen daraus zieht, hat für Meggie verheerende Folgen, da sie alle Erwartungen für ihr späteres Leben an eine einzige Person knüpft. In einem Interview kurz vor ihrem Tod gab Colleen McCollough an:

Meggie in The Thorn Birds is basically my mother. I detested her. Can you imagine writing a 280,000-word book and hating your heroine? She was everything I despise in a woman. She suffered and, worst of all, she enjoyed suffering.

Bereits zu Beginn der Handlung hat Meggie unter der internalisierten Misogynie ihrer Mutter zu leiden – in deren Welt zählen nur die Söhne – und keine emotional zugewandte Bezugsperson. Diese Leerstelle füllt Father Ralph aus, der als sanftmütiger und herzlicher Gegenpol in einer kalten und harten Umgebung gezeichnet wird. Dass diese Zuneigung der Beginn einer lebenslangen Leidensgeschichte ist, aus der sich Meggie nicht befreien möchte, sondern immer wieder die Nähe zu Ralph sucht, unterstreicht die Aussage der Autorin, ihre Romanheldin genieße es, zu leiden. Dass Opfer von emotionaler Gewalt oder Manipulation oft nicht anders können, als in der schädigenden Beziehung zu bleiben, reflektiert McCollough nicht.  

Als Teil einer unbewussten Frauenfeindlichkeit der Autorin muss auch die Charakterisierung von Mary Carson verstanden werden. Sie entspricht dem Klischee der Vetula, der alten, lüsternen und enthemmten Vettel, und will den gutaussehenden Priester für sich selbst in Besitz nehmen. Sie kritisiert dessen enge Bindung zu Meggie, zieht daraus aber die völlig falschen Schlüsse. Besonders deutlich wird das in einer Szene, die so nur in der Verfilmung vorkommt. Meggie berichtet hier ihrer Tante von ihrer Unterbringung im Wohntrakt einer Klosterschule, die sie seit kurzem besucht und lädt Mary ein, sie dort zu besuchen:

Meggie (zu Mary): Father Ralph gave me my very own room — right next to his!

Mary: I wouldn’t want to disturb all your little … arrangements.

Mary problematisiert das „Arrangement“. Allerdings nicht, weil hier ein Erwachsener offenbar Grenzüberschreitungen gegenüber einem Kind begeht, sondern weil sie eifersüchtig ist. Auf ein neunjähriges Kind. In der Romanvorlage macht sie aus ihrer Eifersucht keinen Hehl und ist die Einzige, die Ralph auch zu diesem Zeitpunkt schon ein sexuelles Interesse an Meggie unterstellt:

„Why don’t you like her?“ Father Ralph asked […] „Because you do,“ she answered. „Oh, come now!“ For once she made him feel at a loss. „She’s just a waif, Mary.“ „That’s not what you see in her, and you know it.“ […] „Do you think I tamper with children? I am, after all, a priest!“ „You’re a man first, Ralph de Bricassart! Being a priest makes you feel safe, that’s all.“ Startled, he laughed. Somehow he couldn’t fence with her today; it was as if she had found the chink in his armor, crept inside with her spider’s poison. […] „I am not a man,“ he said. „I am a priest …. It’s the heat, maybe, the dust and the flies …. But I am not a man, Mary. I’m a priest.“ (McCollough 2008, 143)

Vor dem Hintergrund all dessen, was in den vergangenen Jahrzehnten zu sexueller Gewalt in der katholischen Kirche öffentlich wurde, ist diese Passage besonders bestürzend, die hier bemühte Argumentation heute kaum mehr vorstellbar. McCollough legt ihrem Father Ralph offenbar ein konservativ-naives Verständnis des katholischen Priesters zugrunde, der erstens durch sein Weiheamt einen besonderen, eben sakrosankten, Status innehat und zweitens aufgrund des Zölibats als asexuell, unschuldig und ungefährlich gelesen werden muss. Zwar werden weder in der Romanvorlage noch im Film physische Handlungen sexueller Gewalt beschrieben, doch können entsprechende Fantasien durchaus unterstellt werden – zumal Mary diese Unterstellungen ja auch mehr oder weniger explizit äußert und Ralph sich dadurch ertappt fühlt.

Ralphs Grenzüberschreitungen sind aber auch unabhängig von seiner Zugehörigkeit zum Klerus problematisch. So betrifft eine weitere Schlüsselszene die Menarche der mittlerweile 15-jährigen Meggie. In dem Glauben, sie leide an einem tödlichen Tumor, der die Blutung verursacht, und aus Angst, ihrer Mutter davon zu erzählen, wendet sie sich an Ralph. Er erklärt der verängstigten Jugendlichen die körperlichen Veränderungen, die mit der Pubertät einhergehen. Er beschränkt sich jedoch nicht auf die Menstruation, sondern erklärt Meggie auch deren „Zweck“, der für ihn darin besteht, dass sie eines Tages sexuell aktiv sein und Kinder gebären wird. Er lässt dabei auch nicht die religiöse Verbrämung aus und erläutert, dass Eva im Paradies noch nicht menstruiert habe und die Periodenblutung Teil der Strafe für den Sündenfall sei.

Abschließend empfiehlt er dem Mädchen, lieber nicht mit Männern (und auch sonst mit niemandem als ihrer Mutter) über die Monatsblutung zu sprechen. Was auf den ersten Blick wie eine zugewandte, liebevolle Aufklärung wirkt, untermauert Lapointes Deutung von Ralphs Verhalten als Grooming: Der Priester isoliert das Mädchen von anderen Bezugspersonen und wirkt an den entscheidenden Punkten ihres Lebens unmittelbar auf sie ein. So formt er Meggie (bewusst oder unbewusst) nach seinen Vorstellungen, auch um letztlich sexuelle Handlungen mit ihr vorzubereiten. Diese Absicht wird im Roman deutlich, nachdem er zum ersten Mal mit der erwachsenen Meggie Sex hatte. Hier reflektiert er:

Truly she was made for him, for he had made her; for sixteen years he had shaped and molded her without knowing that he did, let alone why he did. And he forgot that he had ever given her away, that another man had shown her the end of what he had begun for himself, had always intended for himself, for she was his downfall, his rose; his creation. (McCollough 2008, 409)

Es ist ziemlich bestürzend, dass dieser Clusterfuck jemals als „Romanze“ gelabelt werden konnte. Cora Kaplan hat Ende der 1980er Jahre in ihrem Essay Fiction, Fantasy, Femininity vorgeschlagen, dass McCollough in den Dornenvögeln eine erotische Fantasie beschreibe, die letztlich um das Inzest-Tabu kreist und die damit verbundene Fantasie, den eigenen Vater zu verführen. Diese Lesart kann heute definitiv nicht mehr bestehen. Auch Meggies „symbolischer Inzest“ ist letztlich Ergebnis eines psychologischen und emotionalen Missbrauchs und darf in keiner Weise verharmlost werden.

Eigentlich ist also alles an den Dornenvögeln indiskutabel. Trotzdem scheint das Werk – auch heute noch – eine gewisse Faszination auszustrahlen und wird in zahlreichen aktuellen Rezensionen nach wie vor als „große Liebesgeschichte“ gefeiert. Doch worin genau liegt der Reiz einer Geschichte mit einer so verstörenden Ausgangssituation? Diese Frage habe ich versucht, für mich selbst zu beantworten, und bin in einen Kaninchenbau gefallen, der mich von homoerotischen Subtexten in heteroromantischen Geschichten über katholische Ästhetik zu Camp und queerer Subkultur zur „Hot Priest“-Trope geführt hat.

“Sancte Sebastian, ora pro nobis!“ – Der homoerotische Subtext

Während McColloughs Romanvorlage insgesamt als ziemlich konservativ bezeichnet werden darf, thematisiert sie doch an diversen Stellen recht explizit queere Themen und erschafft einen deutlichen homoerotischen Subtext. Da sind zum Beispiel Meggies viele Brüder, die allesamt niemals Interesse an Frauen zeigen und unverheiratet bei ihrer Mutter bleiben, oder Meggies Ehemann Luke: Seinen Kollegen Arne und ihn scheint mehr zu verbinden als nur eine Bromance. Meggie kommentiert wiederholt, dass Luke wohl lieber Arne hätte heiraten sollen. Und auch die Beziehung zwischen Ralph und seinem Mentor Vittorio wird als so innig geschildert, dass ein homoromantischer Subtext erkennbar wird.

In der Verfilmung werden diese uneindeutigen männlichen Beziehungen durch die Bildsprache noch besser transportiert. Eine gewisse Schwüle bestimmt das gesamte filmische Erleben: Muskulöse Männer reiten auf ebenso muskulösen, glänzenden Pferden durch das australische Outback, lümmeln anschließend verschwitzt im Gras, zeigen viel Haut und große Emotionen, schauen versonnen ins Leere, weinen oft. In überdurchschnittlich vielen Szenen sind (durchweg attraktive) Männer zu sehen, die einander zärtlich berühren und umarmen, interessiert betrachten, wenn sie mit entblößtem Oberkörper Schafe scheren oder nackt aus der Dusche kommen. Als etwa Luke O’Neill zum ersten Mal auftritt, suggeriert die Bildsprache, dass er sexuell an Meggies Bruder Bob interessiert ist. Noch expliziter wird es in den Szenen, die auf der Zuckerrohrplantage spielen, auf der Luke arbeitet. Hier sind alle Frauen unerwünscht, um die Kameraderie der Arbeiter nicht zu stören. Als Meggie dennoch auftaucht, um Luke mit der Trennung zu konfrontieren, ist er gerade dabei, zum Vergnügen mit seinem Freund Arne zu ringen. Die beiden Männer liegen keuchend und erleichtert lächelnd aufeinander, als Luke Meggie bemerkt. Die schaut wissend.

Auch wenn Ralph als einerseits asexuell, weil zölibatär, aber andererseits auch als eindeutig heterosexuell vorgestellt wird, zeigt ihn die Verfilmung doch in einigen Szenen mit homoerotischem bzw. -romantischem Subtext. Wann immer er zum Beispiel ins Gebet vertieft ist, erhebt er, kniend, seinen flehenden Blick zu einem Kruzifix mit einem besonders wohlgeformten Gekreuzigten, dessen Lendentuch nur gerade so die Genitalien verdeckt. In den Gemächern, die er als Kardinal bewohnt, hängt ein riesiges Gemälde mit religiösem Sujet, in dessen Zentrum ein muskulöser nackter Mann zu sehen ist. Ist es nur religiöse Entrückung, die hier dargestellt werden soll, oder schwingt da Begehren mit?

Wenn Ralph die Soutane gegen Reithose und halb aufgeknöpftes Hemd tauscht und mit den Farmarbeitern ins Outback reitet, stört er die Kameraderie und die schwüle Körperlichkeit der Männer jedenfalls nicht, sondern fügt sich ziemlich stimmig ein. Richard Chamberlain, der Ralph verkörpert, outete sich schon sechs Jahre nach Veröffentlichung der Miniserie als homosexuell und gilt seither als Veteran und Ikone schwuler Kultur in Hollywood. Nicht ausgeschlossen, dass der erkennbare Subtext hier beabsichtigt ist. Und etwaige codierte Botschaften beschränken sich nicht nur auf die Inszenierung seines Körpers: In allen Szenen, die Ralph mit Erzbischof (später Kardinal) Vittorio di Contini-Verchese zeigen, wird deutlich, dass die beiden Männer eine tiefe Zuneigung zueinander hegen.

Die Innigkeit und Zärtlichkeit wird beispielsweise darüber transportiert, dass Ralph dem älteren Vittorio beim Ablegen der liturgischen Gewänder hilft (im späteren Handlungsverlauf ist zu sehen, wie Dane ebenso zärtlich die Knöpfe an den Gewändern des älteren Ralph öffnet). Die körperliche Nähe der beiden wirkt aber weniger sexuell aufgeladen als bei den raufenden Zuckerrohrschneidern, sondern eher romantisch. So, wie Ralph Meggie als Kind immer mit „my Meggie“ adressiert und sie liebevoll im Gesicht berührt, spricht Vittorio auch stets von „my Ralph“ und streichelt seine Wange. Vermutlich soll mit dieser Parallelführung gezeigt werden, dass beide eine väterliche Position einnehmen. Da die Väterlichkeit Ralphs Meggie gegenüber ja aber in einem „symbolischen Inzest“ endet, darf die Frage gestellt werden, ob auch Vittorio seinen „Sohn“ eigentlich begehrt. Jedenfalls taucht das Motiv einer Reise nach Griechenland häufiger auf.

Auf einer dieser gemeinsamen Reisen eröffnet Vittorio Ralph, er habe dessen Keuschheit immer wieder getestet, indem er ihn mit schönen Frauen umgeben habe. Und Männern. Gleichgeschlechtliches Begehren ist dem Kirchenmann, der oft von der engen Beziehung zu seiner Mutter spricht, also durchaus nicht fremd. Im Übrigen wirkt der von Christopher Plummer gespielte Vittorio so dandy- bzw. daddyhaft, wenn er im Purpurmantel in seinen Vatikan-Gemächern sitzt und eine teure Katze krault, dass es eigentlich verwunderlich ist, dass daraus noch kein schwules Meme entstanden ist. Für mich steht jedenfalls fest: Wenn es in den Dornenvögeln eine Romanze gibt, dann ist es mit Sicherheit nicht die Beziehung von Meggie und Ralph, sondern die zwischen Ralph und Vittorio. Hätte es das Internet 1983 schon gegeben, wären sicherlich unzählige erotische Ralph/Vittorio-Slashfictions erschienen. Und auch die Luke/Arne-Fanfiction schreibt sich eigentlich von selbst.

“One doesn’t often get such good theater. It’s pretty male, though.” – Katholizismus, Queerness und Camp

Ein Teil der Handlung von Die Dornenvögel spielt im Vatikan. Und zwar im Vatikan der 1920er bis 60er Jahre, sprich einer religiösen Theaterkulisse, die zu dieser Zeit noch viel pompöser und exaltierter war, als sie es heute ist. Der exklusiven Männerwelt des australischen Outbacks steht also die exklusive Männerwelt des Kirchenstaats gegenüber. Und die ist, wie die katholische Kirche insgesamt, auf eine ganz andere Art extrem sinnlich: Opulente Kirchenräume und Gemächer voll barocker Kunst, durch die Männer in eleganten Roben gravitätisch schreiten, liturgische Gesänge und Orgelklang, der schwere Duft von Weihrauch und Kerzenwachs – alle Sinne werden maximal angeregt, der Körper in das religiöse Erleben gezielt einbezogen. Der Religionswissenschaftler Chris Stedman schreibt hierzu:

For people whose exposure to Christianity was a certain kind of Protestantism — bare bones, Kool-Aid for communion — you encounter the ‘smells and bells’ of a Catholic church and you might gravitate toward it. It’s over-the-top, it’s colorful, it’s excessive, it’s campy.

Diese Camp-Ästhetik des Katholischen bringt die Miniserie perfekt zum Ausdruck. Die Bildsprache des Films ist insgesamt überladen und an der Grenze zum Kitsch, aber besonders campy wird es in den Szenen, die im Vatikan spielen. Als die junge Schauspielerin Justine zum ersten Mal dort zu Gast ist, stellt sie fest, dass ein so gutes Theater selten geboten würde, wenn es auch sehr männlich sei. Die Frauen seien auf die oberen Ränge (also die billigen Plätze) verbannt und dürften nicht mitspielen. Und obwohl Vittorio ihr blumig zu vermitteln versucht, dass die oberen Ränge in seiner Welt schließlich das Paradies seien, in dem mit Maria die wichtigste Frau überhaupt über allem thront, kann Justine nicht anders als die flamboyanten Männer zu belächeln, die lieber unter sich bleiben.

In ihren Notes on Camp (1964) etablierte Susan Sontag Camp als queere Ästhetik. Bereits im frühen 20. Jahrhundert war der Stil assoziiert mit „effeminierten” Männern und wurde als Code für gleichgeschlechtliches (männliches) Begehren verwendet. Diese Zuschreibung würde in der Betrachtung der Miniserie auch die These untermauern, dass die beiden Kardinäle eigentlich Liebende sind. Die Romanhandlung mag um Meggie als zentrale Figur kreisen, in der Verfilmung kommt sie praktisch kaum vor und bleibt so farblos wie ihr berühmtes „Ashes of Roses“-Kleid. Dagegen so gut wie immer im Bild und dabei stets schillernd und wunderschön: Father Ralph de Bricassart.  

“You would look magnificent in red” – Der schöne, ungefährliche Mann

Bereits in der Romanvorlage geht es ausführlich um die außergewöhnliche Attraktivität des Priesters. Besonders aus der Perspektive der bereits weiter oben als „Vetula” vorgestellten Mary Carson wird der Blick auf den Priester als passives Lustobjekt deutlich:

She [was] enjoying his beauty, his attentiveness, his barbed and subtle mind; truly he would make a magnificent cardinal. In all her life she could not remember seeing a better-looking man, nor one who used his beauty in quite the same way. He had to be aware of how he looked: the height and the perfect proportions of his body, the fine aristocratic features, the way every physical element had been put together with a degree of care about the appearance of the finished product God lavished on few of His creations. From the loose black curls of his head and the startling blue of his eyes to the small, slender hands and feet, he was perfect. Yes, he had to be conscious of what he was. (McCollough 2008, 70)

Richard Chamberlain – 1983 bereits 49 Jahre alt – galt damals immer noch als Heartthrob, wenn auch vermutlich eher für diejenigen, die ihn bereits als 60er-Serienheld Doctor Kildare kannten. Eine Castingentscheidung, die auch verdeutlicht, wer von der Miniserie vornehmlich als Publikum angesprochen werden sollte: Ältere Frauen. Chamberlains Aussehen entspricht zwar überhaupt nicht der Beschreibung aus der Romanvorlage, ist aber dennoch untrennbar mit der Rolle verbunden, vielleicht auch weil er als schwuler Mann für das weibliche Begehren ebenso unerreichbar ist wie der imaginierte „perfekte Priester“.

Das Costume Design (von William Travilla) setzt Chamberlain perfekt in Szene. Egal ob in der taillierten Soutane oder als kerniger Naturbursche mit weißem bis zur Brust aufgeknöpftem Hemd: Im Mittelpunkt steht immer sein perfekter glänzend-muskulöser männlicher Körper. Auch als aus Father Ralph Cardinal de Bricassart wird, geht es seinen Verehrer*innen nicht um seinen Zugewinn an Macht und Status, sondern um sein Aussehen. Die als Gegenentwurf zu ihrer Mutter Meggie charakterisierte forsche Justine kommentiert den rasanten Aufstieg Ralphs in der Kirchenhierarchie nur mit „I’ll bet you’re smashing in red!“, verweisend darauf, dass eine Kardinalsrobe wohl ebenso seine Vorzüge hervorheben würde wie Soutane und Bischofsgewand zuvor. Anders als in filmischen Darstellungen, die dem Male Gaze entsprechen, ist hier nicht der Körper einer Frau das zentrale Spektakel und Gegenstand der Schaulust, sondern der eines Mannes. In einer zentralen Szene betrachtet Mary Carson Ralph unverhohlen, der sich auf der Veranda ihres Hauses vollständig seiner verschmutzten Kleidung entledigt:

„You’re the most beautiful man I’ve ever seen, Ralph de Bricassart,“ she said. „Why is it so many priests are beautiful? The Irishness? They’re rather a handsome people, the Irish. Or is it that beautiful men find the priesthood a refuge from the consequences of their looks? […] Straightening, she laid her palm on his chest and held it there. „You’re a sybarite, Ralph, you lie in the sun. Are you as brown all over?“ Smiling, he leaned his head forward, then laughed into her hair, his hands unbuttoning the cotton drawers; as they fell to the ground he kicked them away, standing like a Praxiteles statue while she toured all the way around him, taking her time and looking. The last two days had exhilarated him, so did the sudden awareness that she was perhaps more vulnerable than he had imagined; but he knew her, and he felt quite safe in asking, „Do you want me to make love to you, Mary?“ She eyed his flaccid penis, snorting with laughter. „I wouldn’t dream of putting you to so much trouble! Do you need women, Ralph?“ His head reared back scornfully. „No!“ „Men?“ „They’re worse than women. No, I don’t need them.“ „How about yourself?“ „Least of all.“ […] Naked, Father Ralph stepped off the veranda to stand on the barbered lawn with his arms raised above his head, eyes closed; he let the rain pour over him in warm, probing, spearing runnels, an exquisite sensation on bare skin. It was very dark. But he was still flaccid. (McCollough 2008, 107f)

Eigentlich geht es in dieser Szene um das Machtgefälle zwischen der reichen älteren Mary und dem jungen mittellosen Ralph. Die sexuelle Übergriffigkeit, die traditionell mit männlichem Machtmissbrauch gegenüber (jungen) Frauen in Abhängigkeitsverhältnissen assoziiert ist, wird hier umgekehrt. Trotzdem konstruiert McCollough eine eigenwillig erotische Szene. Der schöne Mann ist hier ausschließlich für die Schaulust Marys (und des Publikums) da, spielt ihr indiskretes Spiel bis zu einem gewissen Punkt mit, ist aber sexuell völlig ungefährlich. Er verspürt keine Erregung durch die beschriebene Sinnlichkeit und bleibt „schlaff“. Von ihm geht keine Bedrohung aus. Cora Kaplan argumentiert in ihrem Essay, dass Die Dornenvögel eine sexuelle Fantasie ist, die vom (heterosexuellen) weiblichen Standpunkt her erzählt wird. Anders als in massenproduzierten Liebesromanen ihrer Zeit schreibt McCollough nicht das androzentrische Narrativ von Verführung fort, bei dem der Blick auf die Frau und ihren Körper gelenkt wird, sondern gestattet einen im besten Sinne schamlosen – weiblichen heterosexuellen oder schwulen – Blick auf den begehrenswerten Mann. Die Gefühle und Empfindungen der Frauenfiguren werden gar nicht erst beschrieben, denn die verspüren die Lesenden (oder Schauenden) ja selbst.

Ralph de Bricassart ist in einer solchen erotischen Fantasie der ideale Mann, denn er ist schön und viril, aber ungefährlich, und in den späteren Sex-Szenen ein geschickter Liebhaber. Das ist angesichts seiner zuvor konsequent zölibatären Lebensweise zwar unplausibel, aber das sind erotische Fantasien ja meistens. Kaplan fasst die Rolle des Priesters wie folgt zusammen: „in der Figur Ralphs schafft die Autorin einen idealen mütterlichen Mann, einen femininen Mann, zu dem sexueller Zutritt natürlich tabu ist.“ 

„Why is it so many priests are beautiful?” – Die “Hot Priest“-Trope

Die Dornenvögel war nicht die erste und nicht die letzte fiktionale Geschichte, die den katholischen Priester fetischisiert. Der „Hot Priest“ taucht immer wieder auf und kann also durchaus als Trope bezeichnet werden. Was macht die Figur des katholischen Klerikers so attraktiv? Liegt es am Reiz des Verbotenen, der durch den Zölibat heraufbeschworen wird? An der Fantasie, als Individuum so besonders zu sein, dass es den Priester dazu bringt, sein Gelübde zu brechen? Oder ist es nur die Soutane, die mit ihrem engen Schnitt einen normschönen männlichen Körper so ganz anders betont als andere Kleidung, eingeschlossen etwa den Talar? Die Soutane ist zum Beispiel immer wieder prominent vertreten auf den schwarz-weiß-Fotografien des berühmt-berüchtigten Calendario Romano. Dieser, auch als Hot Priest Calendar bekannte, Wandkalender ist ein beliebtes Mitbringsel aus Rom. Er zeigt Schnappschüsse von eindeutig als Priestern zu erkennenden attraktiven (jungen) Männern. Laut Angaben des Fotografen und Herausgebers sind zwar nicht alle der Models tatsächlich welche, aber der Großteil bekleidet das Priesteramt. Würden sich ebenso viele Fans für einen Kalender finden, der dieselben Models zeigt, ohne dass sie als Priester gekennzeichnet sind? Vermutlich eher nicht.

Der namenlose Priester aus der zweiten Staffel der Amazon-Serie Fleabag trägt zu keinem Zeitpunkt eine Soutane. Das wäre 2019 in Großbritannien auch wenig plausibel gewesen. Und trotzdem zieht auch hier das Narrativ vom unerreichbaren attraktiven Mann, der schließlich der verführerischen Sexualität nachgibt. Obwohl Fleabag anders als Meggie überhaupt nicht religiös oder gläubig ist, hat auch sie das Tabu rund um erotische Liebesbeziehungen mit Priestern verinnerlicht.

In der bereits zitierten Veranda-Szene sagt Mary:  

“I’ll bet the girls in Gilly just eat their hearts out over you.“ „I learned long ago not to take any notice of love-sick girls.“ He laughed. „Any priest under fifty is a target for some of them, and a priest under thirty-five is usually a target for all of them. But it’s only the Protestant girls who openly try to seduce me.“ „You never answer my questions outright, do you?” (McCollough 2008, 107)

Und sie stellt die Hypothese auf, dass es nicht das Priesteramt ist, das den Mann attraktiv macht, sondern sich attraktive Männer in den Zölibat flüchten, um den Konsequenzen einer gelebten Sexualität zu entgehen:

“And yet there was an aloofness about him, a way he had of making her feel he had never been enslaved by his beauty, nor ever would be. He would use it to get what he wanted without compunction if it would help, but not as though he was enamored of it; rather as if he deemed people beneath contempt for being influenced by it. And she would have given much to know what in his past life had made him so. Curious, how many priests were handsome as Adonis, had the sexual magnetism of Don Juan. Did they espouse celibacy as a refuge from the consequences?” (McCollough 2008, 70)

Guilty Pleasure – Aber anders

Auch 40 Jahre nach ihrer Erstausstrahlung sind die Dornenvögel immer noch ein Ereignis. Wer auf Pathos, 80er-Jahre-Bildgewalt und allgemeine Flamboyanz steht, bekommt hier einiges geboten. So etwas schön und ansprechend zu finden, ist meiner Meinung nach absolut nicht verwerflich. Dass „Herzschmerz-Schnulzen“ als guilty pleasure bezeichnet werden, weil sie eben einen gewissen (weiblichen) Geschmack bedienen, finde ich überheblich und nicht mehr zeitgemäß. Schuldig sind für mich viel mehr diejenigen, die eine Missbrauchs-Geschichte als Unterhaltung und Liebesgeschichte inszeniert haben. In einer Zeit, in der die Institution Kirche unverzeihbare Schuld auf sich geladen hat, indem sie sexuelle Gewalt zugelassen und vertuscht hat. Wer diese historische Folie ausblenden kann und die opulente Ästhetik genießen möchte, kann sich aber an folgende Gebrauchsanweisung halten: Einfach den ersten Teil überspringen, in dem der, hart an der Pädokriminalität vorbeischrammende Handlungsstrang rund um die junge Meggie abgearbeitet wird (Einzige Ausnahme ist diese Veranda-Beefcake-Szene). Dann lässt sich auch ganz gut ausblenden, dass Ralph de Bricassart zwar sehr schön, aber eben ein fieser Kinder manipulierender Karrierist ist, der vor allem sich selbst liebt, und dass die Geschichte nicht an allen Stellen Sinn ergibt.   

(Die 1996 nachgelieferten Missing Years habe ich mir übrigens auch angeschaut. Aber das ist wirklich unzumutbarer 1990er-Jahre-TV-Kitsch und 0% Camp.) 

Tödliche Intelligenz – Science Fiction und K.I.

von Matthias Warkus

Am 7. Juli 2023 beschwor eine Schlagzeile im »Guardian« ein fürchterliches Szenario: Alle Menschen auf der Erde könnten in derselben Sekunde tot umfallen. Der Auslöser: künstliche Intelligenz. Am 9. August stellte dann auch  der »Tagesspiegel« vor dem riesigen Bild eines verpixelten Atompilzes die Frage: »Ist KI die neue Atombombe?«

Computer, die die Menschheit vernichten könnten: Das Thema ist wegen der aktuellen gut sichtbaren Fortschritte bei KI-Systemen und vermehrter Warnrufe prominenter Galionsfiguren der kalifornischen Ideologie offensichtlich gerade wieder einmal ganz oben auf der Agenda. Aber neu ist es nicht. Silicon-Valley-Propheten und ihre Hausdenker wie etwa Nick Bostrom warnen schon seit etwa zwanzig Jahren vor der Auslöschung der Menschheit durch eine universelle künstliche Intelligenz. (Der Urheber der Guardian-Vision der synchron tot umfallenden Menschheit ist übrigens Bostroms Mitarbeiter, der berühmt-berüchtigte Nerd-Ideologe Eliezer Yudkowsky, bekannt geworden vor allem durch – kein Scherz – den umfangreichen Fanfiction-Roman »Harry Potter and the Methods of Rationality«, 2010–2015.)

Ein gewichtiger Grund dafür, warum Warnungen vor solchen Szenarien sich medial so gut verkaufen lassen, ist, dass es für sie so gute fiktive Vorlagen gibt. Spätestens seit »Terminator« (1984) gehört die Vorstellung einer künstlichen Superintelligenz, die aus irgendwelchen Gründen beschließt, die Menschheit auszurotten, unangefochten zum popkulturellen Zeichenvorrat.

Wenn man das Motiv zurückverfolgt, findet man als berühmten frühen Vertreter Harlan Ellisons Story »I Have No Mouth, and I Must Scream« von 1965. Auch dort geht es wie in »Terminator« letztlich um einen zur Führung des Dritten Weltkrieges entwickelten Supercomputer. Er hat die Menschheit fast völlig ausgelöscht und findet sein einziges Vergnügen darin, einige wenige Menschen zu quälen, die er am Leben gelassen hat. Doch Ellisons Höllenvision, vielfach anthologisiert und adaptiert (u.a. 1995 als preisgekröntes Computerspiel), verdeckt, zumindest für den Blick von außerhalb des Science-Fiction-Betriebes, eine noch etwas früher beginnende Reihe von Storys, Novellen und Romanen, die das Konzept »KI gegen Leben« im Detail durchdeklinieren, nämlich den sogenannten »Berserker«-Zyklus von Fred Saberhagen (1930–2007).

Die namensgebenden Berserker sind intelligente Maschinen, die unter der Direktive operieren, alles Leben zu vernichten. Sie tauchen in unterschiedlichster Form auf, als bewaffnete Raumschiffe, als ortsfeste Computer, als bewegliche Kampfroboter aller Art. Sie wurden in vorgeschichtlicher Zeit von einer außerirdischen Zivilisation entwickelt, um eine andere intelligente Spezies zu bekämpfen, haben aber beide ausgerottet und sind seitdem als ständige Bedrohung in der Galaxis unterwegs.

Saberhagens Beschäftigung mit dem Thema beginnt 1963 mit Kurzgeschichten, die oft eine überraschende Pointe und damit einen gewissen Rätselcharakter haben, eine Tradition, die über die Meister des Genres der Science-Fiction-Story zurückgeht bis zu Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe. Relativ bald folgen aber größere Erzählungen, zwischen 1969 und 2005 auch eine Reihe von – für heutige Verhältnisse angenehm kurzen – Romanen. Große Teile des Zyklus spielen dabei eher am Rande des Geschehens, in Zeiten und Gegenden, in denen große Schlachten des Krieges gegen die Berserker bereits geschlagen, relative Ruhe und zögerlicher Optimismus eingekehrt sind. (Nicht das schlechteste Setting – »Das Imperium schlägt zurück« ist ja nicht von ungefähr der beste Star-Wars-Film.)

Es ist berückend, wie leichtfüßig Saberhagen mit verwickelten Prämissen umgeht. So spielt die Rahmenhandlung von »Brother Assassin« (1969) auf einem Planeten, auf dem und um den herum Zeitreisen möglich sind. Die Berserker greifen dort an, indem sie unterschiedliche Waffen und Roboter in der Zeit zurückschicken, um die Vergangenheit zu manipulieren (15 Jahre vor »Terminator«!). Ich muss zugeben, dass ich das Buch beim ersten Lesen, direkt nachdem ich die Prämisse verstanden hatte, wieder weggelegt habe, weil ich befürchtete, die Darstellung dieses »Zeitkriegs« könnte anstrengend, langweilig und verwirrend werden, wie es bei Science-Fiction über Zeitreisethemen oft der Fall ist. Aber genau dazu kommt es nicht – das Buch bleibt immer hinreichend plausibel und zugleich mitreißend. Ich halte es für eine der besten Darstellungen von Zeitreisen in der Science Fiction überhaupt, was noch erstaunlicher wird, wenn man berücksichtigt, dass die Zeitkrieg-Rahmenhandlung überhaupt nur geschrieben wurde, um drei bereits zuvor fertiggestellte novellenhafte Episoden zusammenzuhalten.

Das alles wäre aber nicht so spannend, wenn das interessanteste Phänomen in Saberhagens Killerroboter-Saga nicht existierte: die Menschen, die darin als »Goodlife« bezeichnet werden; Menschen, die mit den Berserkern kollaborieren und somit an der Vernichtung ihrer Mitmenschen mitwirken. Dafür gewähren die Maschinen ihnen ein komfortables Leben und die Aussicht, erst als Allerletzte sterben zu müssen, und dann auf schmerzlose Weise. »Goodlife« sein heißt, um den Preis, sich an einem immensen Verbrechen mitschuldig zu machen, die Gewissheit zu haben, dass es für einen selbst »nicht ganz so schlimm« werden wird. Und es gibt längst nicht nur Goodlife und Helden,  auch menschlicher Alltag und durchschnittliche Schicksale im Angesicht der Bedrohung werden glaubwürdig skizziert. Der Roman »The Berserker Throne« (1985) beginnt damit, dass eine Untergrundorganisation bei einem Volksfest aufblasbare Berserker-Attrappen steigen lässt und so Chaos stiftet – eine friedliche Protestaktion, um darauf hinzuweisen, dass die verdrängte Bedrohung durch die Maschinen nach wie vor besteht. Die Analogien zu den verschiedensten Ereignissen und Verhältnissen unserer Gegenwart brauche ich nicht auszubuchstabieren.

Saberhagen nutzt das Szenario, die Menschheit mit völlig fremdartigen, völlig unmenschlichen Maschinengegnern zu konfrontieren, als Vehikel dazu, in verschiedenster Hinsicht zu thematisieren, was eigentlich menschlich ist. Kunst, insbesondere Bildhauerei, spielt immer wieder eine bedeutende Rolle. Auch schafft es der Autor, ein praktizierender Katholik, einen glaubwürdigen und seriösen Umgang mit dem Thema Religion in sein Werk einzubringen. All das kontrastiert wohltuend mit dem reaktionären Machismo populärer militärisch akzentuierter Science-Fiction-Literatur (man denke an David Weber oder S. M. Stirling), die wenig Sinn fürs Schöngeistige hat und sich eher an panzerquartetthaften Beschreibungen militärischer Hardware ergötzt.

*

Die Lektüre von Saberhagens Berserker-Stories und -Romanen lohnt sich nicht allein wegen des aktuellen Interesses am Thema destruktiver Künstlicher Intelligenz. Man lernt bei ihr darüber hinaus etwas darüber, was Science Fiction sein kann und einmal war; auch wenn man es heute, aus Gründen, die vor allem mit der Struktur des Marktes für Genreliteratur zusammenhängen, nicht mehr von ihr erwartet.

Wenn wir nur auf die Literatur im engeren Sinne schauen (also nicht auf Comics und audiovisuelle Medien), findet Science Fiction heutzutage hauptsächlich im Medium des Dickromans ab etwa 400–500 Seiten statt. Mindestens genauso, wenn nicht noch stärker, betrifft dies die Fantasy, die Science Fiction an Popularität und Regalraum irgendwann um die Jahrtausendwende herum übertroffen hat. Böse Zungen sagten schon damals, die minimale publizierbare Einheit bei Science Fiction und Fantasy sei inzwischen die Romantrilogie. Es ist ein stehender Topos des Redens über die Vergangenheit der westlichen Science Fiction, dass damals in wesentlich kürzeren und in der Regel freistehenden Werken (Erzählungen und relativ kompakten Romanen) viel mehr passierte als in den aktuellen, viel umfangreicheren Werken, die meistens den Charakter von Episoden größerer Zyklen haben.

Das Genre wurde einmal von Kurzgeschichten und Fortsetzungsromanen in Zeitschriften getragen. Der Übergang von Magazinen zu Büchern im dominierenden amerikanischen Science-Fiction-Markt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch das Ende des kriegsbedingten Papiermangels sowie durch Verschiebungen in der Verlagsindustrie, unter anderem durch den Untergang des quasi-monopolistischen Zeitschriftengrossisten ANC (American News Company) 1957, katalysiert. Der Übergang von freistehenden, recht schmalen Romanen und Anthologien zu Zyklen und Serien von Dickbüchern war seinerseits maßgeblich dadurch getrieben, dass Genreliteratur Literatur für Viel- und Schnellleser*innen ist, normiert auf schnelle Weglesbarkeit ist, weswegen mehr Seiten in aller Regel mehr Nutzungsdauer und damit mehr Unterhaltung bedeuten. Zudem verkaufen sich Bücher stark über die Dicke, was unter anderem dazu geführt hat, dass Science Fiction heutzutage gerne in recht lockerem Satz auf dickem Volumenpapier gedruckt wird. (Dasselbe gilt mindestens genauso sehr für Fantasy und für Jugendliteratur. Der Trend geht aktuell zu Papier, das bei immer größerem Volumen gleich viel wiegt. Polemisch könnte man sagen, dass der Bedruckstoff genauso zur Schwammigkeit tendiert wie die Texte.)

Der Blick auf Saberhagens Berserker-Reihe ist daher so aufschlussreich, weil sie ihren Ursprung in  einer Übergangszeit hatte, in der sich die Norm der endlosen Verlängerbarkeit und der endlosen Serienproduktion von Sequels (bei Fantasy spricht man gerne von »Extruded Fantasy Product«, ein 1999 geprägter Ausdruck) noch nicht etabliert hatte. Die Erzählungen, Novellen und Romane spielen im selben Universum und haben wiederkehrende Motive, sind aber alle weitestgehend freistehend (und zwar ganz offiziell). Wer heutzutage mit Genreliteratur sozialisiert wurde, atmet nun möglicherweise tief durch: Es gibt keine empfohlene oder notwendige Lesereihenfolge, keine Spoiler, keine Bandnummern, keine Werke, die ihren Sinn allein darin haben, Kleber zwischen anderen Werken zu sein, in denen mehr passiert. Es gibt auch die berüchtigten »Infodumps« nicht, also keine langen handlungslosen Passagen, die nur dazu dienen, Hintergrundwissen zu transportieren. Und die Romane sind zum allergrößten Teil nur etwa 200–300 Seiten lang.

Leider ist nahezu nichts aus der Berserker-Serie ins Deutsche übersetzt worden. Es existiert eine Übersetzung des ersten Erzählungsbandes »Berserker« von Leonore Petz (erschienen 1986 bei Moewig); sie war vermutlich kein Erfolg und ihr folgten meines Wissens keine weiteren. Angesichts des im positiven Sinne antiquierten Formats mit vielen Kurztexten und keiner festen Continuity sowie des eher konventionellen Space-Opera-Hintergrunds wäre ohnehin auf dem kleinen und umkämpften deutschen Science-Fiction-Markt kein Erfolg zu erwarten, der auch nur die Übersetzung finanzieren könnte. Daher kann ich notgedrungen nur empfehlen, die Originale zu lesen, die im Verlag JSS Literary Productions von Saberhagens Witwe digital erschienen sind und sich auf allen gängigen E-Book-Marktplätzen für 4,49 € pro Stück erwerben lassen.

Traditionell werden Science Fiction oft zwei komplementäre Rollen zugewiesen, nämlich einerseits triviale Unterhaltung und andererseits das (literarisch tendenziell blutleere) Spekulieren über technisch-wissenschaftliche Ideen. Saberhagens Berserker-Reihe unterhält wirklich bestens, hier explodieren Raumschiffe, ganze Planeten werden verteidigt oder vernichtet, schillernde Charaktere bestehen galaktische Abenteuer. Zugleich dekliniert sie eine Fülle von Aspekten des Grundeinfalls einer nichtmenschlichen, zerstörerischen KI durch. Aber – und das macht sie so gut: Man kann sie zugleich und vor allem auch als Literatur im ganz klassischen Sinne von Reflexion über die Conditio humana lesen. Es ist vielleicht nicht ganz Balzac mit Killerrobotern; aber es ist zumindest nah dran. So etwas konnte der Mainstream von Science-Fiction-Literatur einmal hervorbringen.

Die medienwirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen haben sich seither verschoben. Noch 1990 tauchen die Namen der 1940er-Jahre-Klassiker Isaac Asimov, Alfred Bester und Arthur C. Clarke bei den »Simpsons« als Paradigma für die Interessen nerdiger Schulkinder auf.

Aber diese Art von Science Fiction, die jahrzehntelang das entsprechende Milieu der amerikanischen Popkultur prägte, ist heute ein völliges Randphänomen geworden, und das wird sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Der Blick zurück kann sich jedoch zumindest punktuell durchaus lohnen. Speziell in diesem Fall könnte er zudem dabei helfen, unsere Wahrnehmung dafür zu schärfen, wie sehr die aktuell auf künstliche Intelligenz projizierten Befürchtungen durch popkulturelle Konventionen konditioniert sind, die bei Saberhagen als demjenigen, der den Topos populär machte, noch gar nicht etabliert sein konnten.

Ich danke Sebastian Pirling und Catherine Beck für die aufmerksame Lektüre. Sebastian danke ich zudem für wertvolles Feedback zur aktuellen Situation auf dem Science-Fiction- und Fantasy-Buchmarkt.

Foto von Aideal Hwa auf Unsplash

Alle sind wunderschön und niemand horny – Die Desexualisierung von Superheldenfilmen

von RS Benedict
übersetzt aus dem Englischen von Tobias Eberhard

Als Paul Verhoeven in den späten 1990er Jahren Starship Troopers drehte, wusste er damals schon, dass er die Zukunft voraussagte? Der endlose Wüstenkrieg, die allgegenwärtige Militärpropaganda, eine Person, die freudig schreiend den Sieg verkündet, während sich im Hintergrund die Körper immer weiter auftürmen.

In der Szene aber, die sich wahrscheinlich am nachhaltigsten in den Köpfen der 90er-Jahre-Kinder festgesetzt hat  – und die gleichzeitig unsere aktuelle Filmära vorwegnahm – kommen weder Insektenaliens noch Waffen vor. Es ist, wie sollte es anders sein, die Duschszene, in der unsere heroischen Soldaten und Soldatinnen ihr gemeinsames Körperpflegeritual zelebrieren.

Oberflächlich betrachtet herrscht die absolute Idylle: ethnische Harmonie, Geschlechtergleichheit, Einigkeit gegenüber einem gemeinsamen Ziel – und stramme Ärsche und Brüste.

Und dann unterhalten sich die Charaktere, natürlich über den Militärdienst. Eine hat sich gemeldet, um ihre politische Karriere voranzubringen. Ein anderer spricht davon, wie sehr es ihn danach verlangt, den Feind zu töten. Eine andere wiederum hatte gehofft, durch den Militärdienst schneller an ihre Lizenz zur Fortpflanzung zu kommen. Niemand schaut sein Gegenüber an. Niemand flirtet.

Ein Raum voll wunderschöner, nackter Körper, und alle sind einzig und allein geil auf den Krieg.

* * * * *

In den frühen 2000ern gab es eine kurze Phase, in der Schauspielerinnen vorgaben, dass sie von Natur aus, fast zufällig, dünn seien. Magere Berühmtheiten gestanden in Magazinen ihre Liebe zu Burgern und Pommes; Models verleibten sich in aller Öffentlichkeit Nudeln ein, während sie für Steckbriefe interviewt wurden; Hauptdarstellerinnen machten Witze darüber, wie wenig Sport sie trieben und wie sehr sie das Trainieren verabscheuten. Das war natürlich Quatsch: Ohne auf die Kalorienzufuhr zu achten, sieht niemand so aus. Wir wussten es damals, und wir wissen es auch heute. 

Mittlerweile machen wir uns aber nichts mehr vor. Wie auch, bekommen wir doch bei jeder Blockbuster-Promotionstour detailreiche Beschreibungen der Fitnesspläne der Darsteller*innen. Wir sehen Schauspieler*innen unter den strengen Augen der Personal Trainer Burpees machen oder Seile schlenkern. Ab und an wird von Diäten gesprochen, aber Genaueres darüber hört man selten – und natürlich verliert niemand ein Wort über Steroide oder andere Hormonzusatzmittel, wobei alles auf chemische Hilfsmittelchen hindeutet, wenn Schauspieler ihre sehr plötzlich sehr aufgepumpten Körper auf Instagram präsentieren.

Schauspieler*innen sind äußerlich perfekter als jemals zuvor: unfassbar schlank, schockierend muskulös, umwerfend frisiert, mit hohen Wangenknochen, makellosen chirurgischen Verbesserungen und reiner Haut – dieses Gesamtpaket wird uns in körperbetonten Superheld*innenkostümen präsentiert, wobei die obligatorische Oben-ohne-Szene natürlich nicht fehlen darf, damit wir die definierten Bauch- und tanzenden Brustmuskeln gebührend bewundern können.

Und das beschränkt sich nicht nur auf die Hauptrollen und Love Interests. Auch die Nebencharaktere sehen so aus, sogar die Bösewichte (oftmals unter monströsem Make-Up verborgen) werden von konventionell attraktiven Schauspieler*innen verkörpert. Selbst die Kompars*innen sehen gut aus, oder zumindest unanstößig nichtssagend. Niemand ist hässlich. Niemand ist wirklich dick. Alle sind wunderschön.

Und doch ist niemand horny. Selbst beim Sex nicht. Niemand fühlt sich zu irgendwem hingezogen. Niemandem verlangt es nach irgendwem.

Wenn sich Millennials oder Gen-X-Leute heute einen Film aus den 80ern oder 90ern anschauen, sind sie oft erstaunt über die mittlerweile in Vergessenheit geratenen sexuellen Inhalte: John Connors Zeugung in “Terminator”, Jamie Lee Curtis oben ohne in “Trading Places – Die Glücksritter”, der spektrale Blowjob in „Ghostbusters“. Niemand war beim ersten Sehen über diese Szenen schockiert. Natürlich kommt in Filmen Sex vor. Ist das nicht immer so?

Die Antwort ist klar: Nicht mehr – zumindest nicht im Fall der modernen Blockbuster.

Uns wird gesagt, dass Tony Stark und Pepper Potts ein Liebespaar seien. Aber in keinem der Filme spüren wir irgendeine romantische oder sexuelle Anziehung zwischen den beiden. Auch Wonder Woman und Steve Trevor fehlt sie, als Zuschauer*in nimmt man ihnen zu keiner Zeit ab, dass sie so sehr Bock aufeinander haben, dass einer von beiden einen komatösen Körper übernehmen würde (so wie es in “Wonder Woman” 1984 passiert), damit sie postum noch einmal miteinander rummachen können. Ganz untypisch für die nordische Mythologie grinst Chris Hemsworths Thor Natalie Portman nur dümmlich wie ein Hundewelpe an, ohne dass er jemals den Versuch unternimmt, naja, seinen mächtigen Hammer zu schwingen. Und es ist nicht so, als ob die Konkurrenz da irgendwie besser wäre. Auch wenn er immer wieder als Ikone der Incel-Bewegung bezeichnet wird, ist es Heath Ledgers Joker, und nicht Christian Bales keuscher und sexloser Batman, der in der Dark-Knight-Trilogie noch am ehesten irgendeine sexuelle Energie versprüht.

Und wenn wir gerade schon mal bei Christopher Nolans unerklärlich sexlosem Oeuvre sind – fand es sonst niemand seltsam, dass sie in “Inception” in die tiefste Ebene des Unterbewusstseins eines reichen Mannes vordringen und dort keinen abartigen psychosexuellen, ödipalen Alptraum vorfinden, sondern eine … Ski-Abfahrt?

* * * * *

Aber machen wir uns nichts vor: Das alte Hollywood war auch nicht gerade für seine progressive Body Positivity bekannt. Seit das frühe Sexsymbol Theda Bara von der Kinoleinwand Abschied genommen hatte, haben Schauspieler*innen stets das Äußerste unternommen, um einen bestimmten Look aufrechtzuerhalten. Rita Hayworth unterzog sich einem „ethnischen Umstyling“, um ihre spanischen Wurzeln zu verbergen und so mehr Hauptrollen zu bekommen. Die Stars der 1920er Jahre limitierten ihre Flüssigkeitszufuhr auf zwei Gläser am Tag, um damit Gewicht einzusparen. Jane Fonda litt am Zenit ihres Status’ als Sexsymbol an schwerer Bulimie, ebenso wie Marlon Brando.

Aber in alten Filmen sah man immer noch erkennbare menschliche Körper und Gesichter, Körper, die man als einfache Person ohne ein Team von Personal Trainern, Ernährungsberater*innen, Privatköch*innen und Chemiker*innen erreichen konnte, sollte man das denn wollen. 

In den Filmen der Achtziger und Neunziger sahen die Stars gut aus, klar, aber eben auch noch wie Menschen. Kurt Russels Snake Plissken war ein absoluter Traumtyp, aber in Oben-ohne-Szenen sieht man, dass seine Bauchmuskeln nicht wie ein Waschbrett aussehen. Bruce Willis war ansehnlich, aber er ist heutzutage muskulöser als er es in den Neunzigern war, als er noch als wahres Sexsymbol angesehen wurde. Wenn sich Isabella Rosselini in “Blue Velvet” auszieht, kommt ihre blasse Haut und ihr weicher Körper zum Vorschein. Sie sieht verletzlich und real aus.

Aber: Diese Charaktere haben noch gebumst. Dorothy Vallens und Jeffrey Beaumant bumsten in „Blue Velvet“. Michael Keatons Batman und Michelle Pfeiffers dominante Catwoman bumsten. Kyle Reese und Sarah Conner bumsten. Snake Plissken haben wir zwar nie bumsen sehen, aber der ganze Charakter verströmt diese überwältigende Energie von jemandem, der bumst. Und ich würde wetten, dass mir niemand einen Mainstream-Film nennen kann, in dem eine geilere und queerere Szene vorkommt als das sexy Saxophonsolo aus “The Lost Boys”.

* * * * *

Aus heutiger Sicht ist eine der markantesten Szenen aus “Poltergeist” (1982) nicht die mit der bösen Clownpuppe oder dem monsterhaften Baum, sondern ein Moment der unverkrampften Liebe zwischen den Eltern. Der Vater, gespielt von Craig T. Nelson, inklusive Glatze und Bierbauch, witzelt für seine Frau herum, während sie in ein altbackenes Nachthemd gehüllt einen Joint raucht und typische Grasgedanken zum Besten gibt und dabei über die Showeinlage ihres Mannes lacht. Schließlich wirft sich ihr Mann ausgelassen zu ihr aufs Bett. Die beiden sehen in dieser Szene nicht wirklich anmutig aus, aber ihre Beziehung fühlt sich greifbar und gewohnheitsmäßig und charismatisch und einfach echt an.

Auch ihr Haus wirkt echt. Überall liegen Spielsachen und Hefte auf dem Boden. Es stehen Pappkartons rum, die seit dem kürzlichen Umzug darauf warten, ausgepackt zu werden. Gerahmte Bilder lehnen an der Wand; offensichtlich ist noch niemand dazu gekommen, sie aufzuhängen. Die Küchenanrichten sind vollgestellt, die Mahlzeiten sind ausgelassen und chaotisch, wie man das in einem Haushalt mit drei Kindern erwarten würde. Sie bauen sich im Garten einen Pool, aber nicht um des Prestiges willen: Es soll ein Ort für die Kinder sein, zum Schwimmen, für die Eltern, um dort Partys zu schmeißen, und für den Vater, der dort seine Liebe zum Tauchen wieder aufleben lassen möchte.

Damals stand dieses Haus für eines der Ideale des US-amerikanischen Wohlstands. Im Kontrast dazu stehen die Häuser in heutigen Filmen, mit ihren riesigen, sterilen, gähnenden Räumen und minimalistischen Möblierung. Die Küchen haben Industrieausmaße und sind blitzblank, und nirgendwo ist etwas zu essen zu sehen. Es gibt kein Übermaß, kein Chaos.

In ihrem Blog „McMansion Hell“ bespricht die Journalistin und Architekturkritikerin Kate Wagner sehr genau, warum diese weithin verabscheuten 500-m2-Monstrositäten so furchtbar sind. Wieder und wieder kommt sie darauf zurück, dass diese „McMansions“ nicht dafür gebaut wurden, um als Zuhause zu dienen. Es sind kurzfristige Finanzanlagen.

Sie schreibt Folgendes: „Das Innere der McMansions wurde so designt, dass möglichst viele ‘Features’ zum kleinstmöglichen Preis hineinpassen.“ Diese Features sind allein dafür da, den Wiederverkaufswert des Hauses zu steigern, nicht um daraus einen Ort zu machen, an dem man gerne lebt. Es wird kein Gedanke an die Arbeit verschwendet, die nötig ist, um diese Häuser sauber und in Schuss zu halten. Das große Badezimmer ist mit fein gearbeiteten Steinoberflächen ausgestattet, die man nur mit einer Zahnbürste gereinigt bekommt. Die kathedralenartigen Decken im Wohnzimmer lassen die Heiz- und die Stromkosten für die Klimaanlage in exorbitante Höhen schießen. Der Kronleuchter in der Eingangshalle hängt so hoch, dass sich die Leuchten nicht mal mit einer Leiter tauschen lassen.

Das gleiche Schicksal hat unsere Körper ereilt. Ein Körper ist kein ganzheitliches System mehr. Er dient uns nicht mehr dazu, während unserer kurzen Zeit auf dieser Erde Freude und Genuss zu erfahren. Er ist kein Zuhause, in dem wir leben und glücklich sind. Auch er ist nur noch eine Ansammlung von Features: Sixpack, Thigh Gap, Cum Gutters. Diese Features haben auch nicht den Zweck, unser Leben angenehmer zu machen, sondern unseren Anlagewert zu steigern. Unsere Körper sind Investitionen, die ständig optimiert werden müssen. Nur warum eigentlich? Um uns das vage Gefühl zu geben, ein besseres Leben zu führen? Ist ein Leben mit Brot objektiv schlechter als eines ohne? Haben wir als Kinder davon geträumt, jede Kalorie und jeden Schritt zu zählen?

Noch vor ein oder zwei Generationen war es normal, dass Erwachsene nicht zur Selbstoptimierung sondern einfach nur zu ihrem Vergnügen Sport trieben. Menschen tanzten, weil sie Spaß daran hatten. Pärchen verbrachten zusammen Zeit beim Tennis. Kinder spielten Ball, weil sie nichts anderes zu tun hatten. Das Workout im Fitnessstudio erfüllte auch einen sozialen, und keinen moralischen Zweck. Menschen trainierten, um heiß auszusehen, damit sie andere heiße Menschen klarmachen und mit ihnen ins Bett steigen konnten. Wie auch immer man zu dem Ethos dahinter steht, das letztendliche Ziel war das Vergnügen.

Aber nicht heutzutage. Heute sind wir perfekte Inseln der emotionalen Selbstständigkeit, und das Verlangen danach, berührt werden zu wollen, wird als peinlich und co-abhängig angesehen. Wir machen das alles nur für uns selbst, da wir uns, natürlich ganz zufällig, verzweifelt nach einem körperlichen Standard sehnen, den eine gesichtslose Entität irgendwo in einem Versicherungsbüro festgelegt hat. 

Die Werbung für Fitnessstudios ist heutzutage meistens auf die streng autonome Selbstoptimierung ausgerichtet: Sei dein bestes Ich. Schaffe ein neues Ich. Wir treiben keinen Sport mehr – wir trainieren, mithilfe von Fitnessprogrammen, die Namen tragen wie Booty Bootcamp, als würden wir unsere Ärsche darauf vorbereiten, sie in den Großen Booty-Krieg zu schicken. Es gibt kein Versprechen von Intimität. Wie unsere Helden des Marvel-Cinematic-Universums und Rico und Dizzy und alle anderen Infanteriesoldat*innen aus Starship Troopers sind wir allein geil auf die Vernichtung.

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Eine Nebenwirkung der extremen Kalorienbeschränkung, über die wenig gesprochen wird, ist der Verlust der Libido. Dies passiert bei Bodybuildern, wenn sie auf Radikaldiäten sind, um schnell Fett zu verlieren, damit ihre Muskeln bei Wettbewerben besser zur Geltung kommen. Auch wenn sie physisch wie die angeblich perfekte Verkörperung der Männlichkeit aussehen, träumen sie nicht von Sexualpartner*innen, sondern von Burgern und Pommes. Viele Menschen, die an Essstörungen leiden, verlieren ihr Verlangen nach Sex vollständig und hören sogar auf zu menstruieren.

Werden einem Körper nicht ausreichend Kalorien zugeführt, muss er die zentralen lebenserhaltenden Systeme gegenüber allen Funktionen, die nicht unmittelbar für das Überleben des Körpers benötigt werden, priorisieren. Das sexuelle Verlangen gehört zur zweiten Kategorie, ebenso wie das höhere abstrakte Denken. Ein Körper, dessen Nahrungszufuhr bei gleichzeitiger erhöhter körperlicher Betätigung beschränkt wird, glaubt sich in einer Phase der Hungersnot – ein nicht gerade idealer Zeitpunkt zur Fortpflanzung.

Ist es nicht grausam puritanisch, ein sexuelles Ideal zu erschaffen, das gleichzeitig zum Verlust der Freude am Sex führt?

* * * * *

Wenn sich eine Nation bedroht sieht, pumpt sie sich auf. Deutschland und Norwegen waren zum Ende der napoleonischen Zeit geradezu besessen von individueller Selbstoptimierung durch körperliche Ertüchtigung. Die Briten übernahmen diese Körperkultur, als sich das 19. Jahrhundert – und das britische Weltreich – dem Ende zuneigte. Selbst Yoga, wie wir es heute kennen, nämlich als Form des meditativen Krafttrainings, entstammt der indischen Unabhängigkeitsbewegung der 1920er und 30er Jahre.

Der treibende Gedanke dieser Bewegungen besteht nicht darin, einfache Freude an der Fitness, an körperlicher Stärke und äußerlicher Schönheit zu finden. Stattdessen steckt etwas Kompetitives dahinter. Es geht darum, stark genug zu werden, um gegen den Feind zu kämpfen, wer auch immer das sein mag.

Auch die Bevölkerung der USA, wie sollte es anders sein, konnte sich dessen nicht erwehren. Der Presidential Fitness Test kam zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf, nachdem in Studien herausgefunden worden war, dass die US-amerikanischen Kinder ihren europäischen Altersgenoss*innen in einigen Turn- und Flexibilitätsprüfungen hinterher waren. Die Paranoia des Kalten Krieges verstärkte diese Ängste, besonders zum Beginn der 1980er Jahre. Was, wenn die Kinder zu dick sind, um den Kommunismus zu besiegen? Diese Besessenheit verschmolz wunderbar mit dem Boomer-Yuppie-Narzissmus und brachte schließlich den Aerobic-Trend hervor.

Dann kamen die Neunziger, die Berliner Mauer fiel, und Spandex und Schweißbänder wurden plötzlich zum peinlichen Ding der Vergangenheit. In den USA war man immer noch ganz scharf darauf, dünn zu sein, aber nicht aus Gründen der körperlichen Kraft. Zwei Dinge geschahen zum langsam anbrechenden neuen Jahrtausend, die die Körperkultur zurück auf den Plan rufen sollten.

Zunächst wurde im Jahr 1998 beschlossen, den BMI-Standard um ein paar Punkte zu ändern. War in der Vergangenheit noch ein BMI von 27 (für Frauen) oder 28 (für Männer) nötig, um als übergewichtig zu gelten, war dies beim neuen Standard nun schon bei 25 Punkten der Fall. Über Nacht wurden neunundzwanzig Millionen US-Amerikaner*innen übergewichtig, ohne ein Gramm zugenommen zu haben. Gemäß den neuen Richtlinien konnten Ärzt*innen nun Diätpillen verschreiben oder ihren Patient*innen Operationen zur Gewichtsreduktion empfehlen.

Eine landesweite Panik war die Folge. In drastischen Überschriften las man von einer neuen Plage an dicken Menschen, deren Körper tickende Zeitbomben darstellten, die die Gesellschaft jederzeit in Tod und Zerstörung stürzen konnten. Archivbilder von dicken Menschen in der Öffentlichkeit, die vom Hals abwärts gefilmt wurden, um ihre Persönlichkeitsrechte zu wahren (und sie noch effektiver zu enthumanisieren), waren ein allgegenwärtiger Anblick im Fernsehen, wo hagere Nachrichtensprecher*innen von den Horrorszenarien der Adipositas-Epidemie berichteten. Seltsamerweise hielt man es nur in sehr wenigen dieser Berichte für nötig, die Änderung des BMI-Standards zu erwähnen.

Das zweite Ereignis war natürlich der 11. September.

Der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon hatte einen neuen Krieg gegen den Terror zur Folge. Die USA musste sich also in Form bringen, um als Sieger daraus hervorzugehen. Die hypermilitaristische Militärkultur der USA nach 9/11 vermischte sich mit der Gewichtspanik und resultierte in einer angsteinflößenden Entwicklung. Zum Sportunterricht in öffentlichen Schulen gehörten nun spezielle Militär-Fitness-Tage, an denen die Schüler*innen unter anderem das Werfen von Granatenattrappen übten. George W. Bush fügte dem Presidential Fitness Program eine Fitness Challenge für Erwachsene hinzu. Über das US-amerikanische und britische TV rollte eine neue Welle an Dokumentationen und Reality-Shows hinweg, in denen die Gesellschaft dafür fertiggemacht wurde, dass sie zu dick für den Sieg über al-Qaida sei: Honey, We’re Killing the Kids; Supersize Me; You Are What You Eat, eine Show, in der Brit*innen angemotzt wurden, wenn ihre Fäkalien nicht irgendwelchen peinlich genau gesetzten Standards entsprachen. Oder natürlich The Biggest Loser, worin sich die dicken Kandidat*innen von schlanken Trainer*innen auf eine Art und Weise anschreien lassen müssen, die sehr stark an die stereotypischen Methoden eines Drill Instructors erinnert.

Und nun sind Muskeln – riesige, pulsierende, durch Steroide aufgeblasene Muskeln – wieder auf den Bildschirm zurückgekehrt. Nur geht der neuen Muskelära die Erotik des 80er-Jahre-Actionkinos ab. Arnold Schwarzenegger zeigte seinen Allerwertesten in Terminator, Sylvester Stallone zog sich für den ersten “Rambo” und für “Tango & Cash” aus; in „Bloodsport“ sehen die geneigten Zuschauer*innen mehr von Jean Claude Van Dammes Körper als vom Körper seines Love Interests.

Die Adonisse des aktuellen Kinos sind meistens jedoch Never Nudes. Das Marvel Cinematic Universe ist strikt auf PG-13 (etwa FSK 12) ausgelegt, so wie man das von einem Disney-Produkt erwarten würde, aber auch im DC-Universe findet man sehr wenig menschliche Sexualität. Die Fans rufen stets nach „erwachseneren“ Superheld*innenfilmen; was sie damit meinen ist mehr explizitere Gewalt, niemals aber mehr Sex. Sie verloren vollkommen die Nerven wegen Dr. Manhattans leuchtendem blauen Penis in Watchmen, und sie haben Joel Schumacher niemals dafür vergeben, dass er Nippel auf Batmans Anzug gepackt hat. 

Die heutigen Stars sind Actionfiguren, aber keine Actionheld*innen. Ihre perfekten Körper existieren einzig und allein dafür, anderen Menschen Gewalt anzutun. Spaß haben bedeutet schwach sein, sein Team im Stich lassen, dem Gegner eine Chance zum Sieg präsentieren. So wie der zwischenzeitlich dicke Thor in “Endgame”.

Dieser Filmtrend spiegelt die alldem zugrunde liegende Kultur wider. Selbst vor der Pandemie waren die Millenials und Zoomer weniger sexuell aktiv als die Generation vor ihnen. Vielleicht machen wir uns zu viele Sorgen um das Ende der Welt; vielleicht sind wir zu pleite um auszugehen; vielleicht sorgt die Tatsache, dass wir mit Mitbewohner*innen oder unseren Eltern zusammenleben müssen, dafür, dass es uns unangenehm ist, jemanden mit nach Hause zu bringen; vielleicht stören in die Umwelt entlassene Chemikalien unseren Hormonhaushalt; vielleicht wissen wir nicht, wie wir außerhalb der Rape-Kultur mit menschlicher Sexualität umgehen sollen; vielleicht hat die uns anerzogene Botschaft, dass unsere Körper eine nationengefährdende Bedrohung darstellen, unsere Freude an körperlicher Lust getrübt. 

Gleichzeitig hat die Häufigkeit der Essstörungen stets weiter zugenommen. Wir bereiten unsere Körper immer noch darauf vor, gegen den Feind zu kämpfen. Und da wir hier gegen ein abstraktes Konzept Krieg führen, ist dieser Feind unsichtbar und nicht (an)greifbar. Um ihn zu besiegen, müssen sich unsere Körper auch ihrer Solidität entledigen.

* * * * *

Aber es besteht Hoffnung. 

Robert Pattinson hat die Hauptrolle im neuen Batman-Film übernommen (2022). Er hat ganz stolz verkündet, dass er sich weigert, sich für die Rolle aufzupumpen, ganz zur Entrüstung der Fans. 

In einem Interview mit der Variety aus dem Jahr 2019 sagte Pattinson: „In meinen letzten drei oder vier Filmen hatte ich eine Masturbationsszene. In „High Life“. In „Damsel“. Und in „The Devil All the Time“. Mir ist das erst aufgefallen, als ich es zum vierten Mal [in “The Lighthouse”] gemacht habe.“

Ob er letztendlich der Held war, den wir brauchten, muss jede*r für sich selbst entscheiden.

Beitragsbild von Ali Kokab

Neue alte Männlichkeit – Zur Debatte um den Band ‚Oh Boy‘

von Peter Hintz

Oh Boy. Männlichkeit*en heute hieß eine Anthologie von Texten deutschsprachiger Autor*innen, die sich großer Aufmerksamkeit erfreute, bevor sie einen Monat nach ihrem Erscheinen vom Kanon Verlag wieder vom Markt genommen wurde. Boykottaufrufe und heftige öffentliche Kritik am Verlag und an den Herausgebenden Donat Blum und Valentin Moritz hatten es zunehmend unhaltbar gemacht, ein Buch, das für eine neue Form kritischer Männlichkeit stehen wollte, in der aktuellen Form zu belassen. Gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen hatte Moritz in seinem eigenen Beitrag einen sexualisierten körperlichen Übergriff thematisiert, den er selbst begangen hatte.

Die Anthologie ist Teil einer ganzen Reihe neuer deutschsprachiger Bücher, die explizit Männlichkeit thematisieren und sich in ihren introspektiven Erzählungen als selbstkritisch verstehen. Dazu gehören etwa Toxic Man von Frédéric Schwilden, Väter von Paul Brodowsky oder Prägung. Nachdenken über Männlichkeit von Christian Dittloff. Oh Boy präsentiert sich intersektional und beinhaltet auch Beiträge von queeren und nichtweißen Autor*innen, will also die Vielstimmigkeit von Männlichkeiten jenseits einer heteronormativ-weißen Geschlechtsidentität hervorheben. Es geht um “Bilder von neuen Männlichkeit*en bis heute.”

Dank der Uneindeutigkeit des Begriffs “neue Männlichkeit” lassen sich damit eine ganze Reihe männlicher Praxen zusammenwürfeln – von trans Männern über sorgende Väter bis hin zu alleinstehenden cis Männern, die sich als irgendwie selbst- oder “herrschaftskritisch” identifizieren. Von vornherein konnten Kritiken an den Herausgebenden oder einzelnen Beiträgen also mit Verweis auf andere, bessere Teile des Buches abgewehrt werden. So erscheint der Text des Herausgebers Valentin Moritz neben Beiträgen von bekannten queerfeministischen Autor*innen wie Sascha Rijkeboer oder postmigrantischen Schriftstellern wie Dinçer Güçyeter.

Konkreter verstehen die Herausgebenden und einige ihrer Autor*innen die ‘neue’ Männlichkeit als Kontrastfolie zu einer ‘alten’ Männlichkeit, die für die patriarchale Ausübung von Macht stand, gegen Frauen, vor allem aber gegen andere Männer, die durch rigide körperliche und soziale Normen selbst beschränkt werden. Im Vorwort heißt es:

„Es war im Dezember 2021. Wir saßen in einer Bar in Neukölln und tauschten uns über unser zwiespältiges Verhältnis zum Literaturbetrieb aus, über unser Schreiben und das der Anderen. […] Hier drinnen jedoch begannen unsere Köpfe zu glühen: Auf gewundenen Pfaden entwickelte sich die Vorstellung eines gemeinsamen Buches […] Oh Boy sollte das Buch heißen, denn, oh boy!, es würde mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Wie wurden wir zu ‘Männern’ gemacht? Von welchen Männlichkeitsidealen wurden wir geprägt? Warum grenzen wir uns von einigen ab und lassen andere gelten?“

Die ‘neue’ Männlichkeit betont emotionale oder physische Schwächen, eine gefühlige Innigkeit zwischen Männern jenseits von Homosexualität und überhaupt das offene Reden über die eigene Erfahrung mit Geschlechternormen. Donat Blums Ich-Erzähler*in, die*der sich selbst als “mansplain[er]” bezeichnet, erklärt: “Männlichkeit sind die Betten, die nach meinem pubertären Bruder riechen. Nach verkorkster Sexualität. Nach saurem Bier und stolzem Furz.”

Nicht einmal die Hipsterstädte (Freiburg und Berlin), an denen sich die Autor*innen im Gegensatz zu ihrer ländlichen Heimat heute gern aufhalten, sind angesichts sozialpolitischer Veränderungen der letzten Jahrzehnte besonders neu. Männliche Homosozialität und Feminismus wirken für die Herausgebenden allerdings wie Entdeckungen der letzten fünf bis zehn Jahre, da es zuvor an einem “selbstkritischen Dialog” gemangelt habe. Ein vom SWR produzierter Videobeitrag über Oh Boy zeigt Moritz, wie er sich stolz von einem Freund die Haare schneiden lässt und mit einer Frau Tischfußball spielt.

Statt einer fundierten Rahmung der einzelnen Beiträge wollen die Herausgebenden betont “kein monolithisches, durchgestyltes Werk einer einzelnen Expertenperson” bieten, sondern eine lose Sammlung von Essays und Kurzgeschichten, “in bester literarischer Tradition”. Mit diesem Verweis auf die literarische Form wird offengelassen, wer eigentlich in den Beiträgen von sich erzählt und die eigene Männlichkeitspraxis kritisch reflektiert – sind es fiktive Ich-Erzählende oder die Autor*innen selbst? Moritz’ Kurzbeschreibung seines Textes gibt allerdings an, dass er sich in seinem Text “die eigene Übergriffigkeit ein[gesteht].”

Wie spätere Statements von Verlags- und Herausgebendenseite auch zeigen, liegt in der strategischen Uneindeutigkeit von Fakt und Fiktion ein Schlüsselproblem der Männeranthologie. So haben nach der öffentlichen Kritik am Buchprojekt Donat Blum und der Verlag auf eine angebliche Fiktionalität des Beitrags von Moritz verwiesen. Vorwürfen, Moritz hätte sich über die Wünsche eines Opfers von sexualisierter Gewalt gesetzt, wurde ironischerweise also damit begegnet, dass die Aussagen im Text – und damit auch das Schuldeingeständnis und das Selbstbekenntnis zur kritischen Männlichkeit – als fiktiv zu bewerten seien.

Unklarheit über das, was jetzt eigentlich real ist und was nicht, durchzieht diesen Diskurs der neuen Männlichkeit auch in anderer Hinsicht. Zwar wird unentwegt die Unnatürlichkeit ziemlich abstrakter ‘alter’ Männlichkeitsbilder hervorgehoben, zugleich bleibt aber unhinterfragt, ob die dick aufgetragene Melancholie der Autor*innen (oder: Ich-Erzähler?) sich nicht selbst klassisch männlicher Tropen bedient und damit kulturell bedingt ist. Ganz im Gegenteil scheint es, dass mit dieser männlichen Gefühligkeit eine ‘neue’ männliche Natürlichkeit behauptet wird, die ironischerweise eine Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit durchaus anerkennen will.

So soll durch Gefühl, insbesondere dem Eingeständnis von Verletzlichkeit, einem Mangel an männlicher Authentizität beigekommen werden; unter den Wunden der alten patriarchalen Männlichkeit, ihren verdrängten Wünschen und Schwächen, liege eine Essenz männlicher Individualität. Dieser individualisierte und sich selbstkritisch gebende Männlichkeitsdiskurs ist nicht neu; er wird schon in den kanonischen Texten des liberalen Aufbruchs der 1960er und 1970er Jahre transparent, in Buddy Movies wie Easy Rider oder bei den männlichen Einzelgängern John Updikes oder Philip Roths. 

Bei vielen Texten in Oh Boy geht es damit gar nicht zuerst um männliche Selbsthinterfragung, die auch Antworten hervorbringen soll, sondern um emotionale Expressivität, also den Ausdruck von möglichst viel Selbstmitleid oder Schuldgefühlen bis hin zum Kitsch. Valentin Moritz (oder sein Erzähler) fragt sich, “[w]ie genau ich zum glücklichen Menschen werde, weiß ich nicht […] Ich fühle mich in der Schwebe wie eine Frisbee im Flug. […] Aber immerhin, ich lerne gerade, meine Gefühle zu benennen – und wenn es nur das Gefühl ist, eine Frisbee zu sein. Huiiiiiiii.” Und auch Daniel Schreibers Kurzgeschichte über einen sich als übermäßig angepasst empfindenden schwulen Mann endet mit der Pointe: “Er fragt sich, was er alles unterdrücken musste, um die Person zu werden, die er geworden ist, und ob ihm diese Person gefällt.”

Grenzen und Hierarchien dieser gefühligen und egozentrischen Männlichkeit bleiben unreflektiert, weibliche Perspektiven spielen im Buch kaum eine Rolle. Die Herausgebenden und manche ihrer Autor*innen reiten lieber auf patriarchalen Dorf- und Vatergeschichten aus der Jugenderinnerung herum. Die neue Männlichkeit bleibt homosozial, erzeugt sich im Vergleich mit vermeintlich weniger “herrschaftskritischen” Männern. Die Erneuerungsrhetorik der Herausgebenden verschleiert letztlich die Anleihen der neuen Männlichkeit beim Altbekannten.

Foto von Marcel Strauß auf Unsplash

„Hoffentlich ist es dann nicht zu spät“ – Ein Stolpertext

von Victor Sattler

Im Exil könnten sie wieder vereint sein, hofften die zwei jüdischen Männer. Was sich Robert Bachrach und Leo Hochner zwischen 1938 und 1944 schrieben, wissen wir nicht im Detail. Ihre Beziehung ließ sich für diesen Text nur auf Umwegen und über Angehörige rekonstruieren.

Für die ‚Stolpertexte‘ arbeiten Autor*innen mit dem Leo Baeck Institut zusammen, das die Nachlasse deutschsprachiger Jüdinnen und Juden bewahrt. Die Briefe von Robert Bachrach an die Feitlers und die Briefe von Leo Hochner an die Feitlers werden hier im Original zitiert, manche Passagen sind leicht gekürzt. Das fiktive Gespräch der Familie Feitler basiert lose auf Briefen und Airgraph-Nachrichten.

1     New York

Das Telefon der Feitlers klingelte seit Roberts Tod „ohne Unterlass“, heißt es in einem Brief aus dem April 1944. Sagen wir, es klingelte alle zehn oder fünfzehn Minuten von Neuem. Es hielt Loni also mit Sicherheit davon ab, zumindest tagsüber ein paar Stunden zu schlafen, nachdem sie die letzte Nacht hindurch wachgelegen hatte. Sie war eine ältere Dame, war erst kürzlich Großmutter geworden und konnte die Aufregung nicht gut vertragen. Sobald der Anrufer seine wahren Beweggründe zu erkennen gab, musste Loni ihn abwimmeln. Sie hängte geräuschvoll den Hörer auf. „Diese Klatschmäuler“, sagte sie, „lassen nichts unversucht. Das einzig Gute ist, dass Robert diesen Skandal um seine Person nicht mehr erleben muss.“

Ihr Ehemann Paul nickte traurig. Er saß auf dem Fußboden bei Cathy, der kleinen Enkelin. Paul bot sich während des Kriegs so oft wie möglich als Babysitter an, um Cathys Eltern zu entlasten. Das war von Paul nicht ganz uneigennützig, denn er fand die Zeit mit seiner Enkelin so tröstlich. Er hatte Robert einmal als seinen „besten Freund in New York“ bezeichnet und sich nie an dessen Homosexualität gestört. Nun waren die Feitlers so etwas wie Roberts einzige Hinterbliebene; bei ihnen meldeten sich alle Leute, die unter Schock standen und nach der Todesursache fragen wollten, weil sie es sich nicht erklären konnten.

Trotz des Dauerklingelns waren die Feitlers sehr hellhörig für den Aufzug in ihrem Wohnhaus. Um vier Uhr nachmittags kam ihre Tochter Elisabeth Gay, nun waren alle drei Generationen versammelt. Elisabeth trug einen Regenmantel und -schirm, sie war bei typischem Aprilwetter einmal quer durch den Central Park gelaufen. An der 104. Straße befand sich die Wohnung der Feitlers mit Parkblick. Hier hatten sie sich nach ihrer Flucht aus Wien ein neues Leben aufgebaut.

Loni kochte als erstes einen starken Kaffee, und Paul berichtete von den gemeinsamen Stunden mit Cathy, um die Stimmung zu heben. „Sie war heute wieder so lustig und fröhlich, sie macht ihrem Nachnamen Gay wirklich alle Ehre“, lobte Paul. „Dann wollen wir dafür sorgen, dass es so bleibt“, sagte Elisabeth. Mit ihrer Tochter auf dem Schoß hatte sie zwei Hände frei, die sie ihr auf die Ohren legen konnte, wenn das Gespräch auf Robert kam. Cathy reagierte mittlerweile auf jede Erwähnung seines Namens mit einer neugierigen Kopfbewegung. Sie konnte sich später als erwachsene Frau daran erinnern, wie oft Roberts Name in ihrer Familie fiel und was er jedes Mal auslöste.

Vor ein paar Wochen, als Elisabeth ihm zum letzten Mal begegnet war, hatte er noch einen gesunden Eindruck auf sie gemacht. Auf dem Totenschein war von einer diffusen Herz-Nieren-Erkrankung die Rede. Davon hatte er ihnen nie etwas erzählt. Vielleicht war es sehr plötzlich geschehen, dachte Elisabeth. Er war Jahrgang 1879, das heißt, er wäre im November dieses Jahres erst 65 geworden, und 65 war doch kein Alter.

Ihre Eltern schwiegen eine Zeitlang. „Wir haben uns in den letzten Wochen schon manchmal Sorgen um Robert gemacht“, sagte Loni schließlich, „ich wünschte, wir wären diesem Instinkt stärker nachgegangen.“ Sie stand auf, mit einer großen Last auf ihren Schultern, um etwas aus ihrem Schlafzimmer zu holen. Sie brachte ein Kuvert, auf dem eindeutig Roberts Handschrift zu erkennen war.

Elisabeth war eine leidenschaftliche Autorin. Wenn sie keinen Brief zu beantworten hatte, schrieb sie Essays und Kurzgeschichten, die ausdrücklich für die Nachwelt bestimmt waren. Fast immer ging es darin um reale Personen, meistens um solche, die ihr persönlich nahestanden. Elisabeth kannte die genauen Lebensumstände vieler jüdischer Familien im amerikanischen Exil, sie erkundigte sich bei allen nach ihrem Wohlergehen. So entging ihr nichts, kein Klatsch und keine lebensverändernden Umbrüche. Da Elisabeth den engsten Briefkontakt zu Robert gepflegt hatte, konnte sie sich jetzt kaum vorstellen, dass Loni ihr etwas Neues über ihn eröffnen könnte.

2     Zwischen Wien, Budapest, London, New York

Am Anfang hatten sich Loni und Paul Feitler mit Dr. Robert Bachrach angefreundet. Er gehörte ihrer Generation an, nicht Elisabeths. Er arbeitete als Urologe und Chirurg im 8. Bezirk von Wien, war 1,70 Meter groß, mit blauen Augen und braunen Haaren, war fleißig und hatte eine förmliche Ausdrucksweise. Obwohl er mit Loni und Paul all die Jahre per ‚Sie‘ blieb, fand er in den Feitlers eine Wahlfamilie, die ihn akzeptierte: Hier war eine jüdische Familie, die in ihrer Einstellung bereits so großzügig und modern war, und das zu einer Zeit der allgemeinen Ächtung von Homosexualität in Europa. Im Herbst 1938, ein halbes Jahr nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, schrieb Robert wieder einen Brief aus Wien nach New York. Er schilderte, wie sehr seine Zukunftspläne sich jetzt in der Schwebe befanden.

Robert schrieb: »Nach den letzten Entscheidungen gehöre ich zu den Ärzten, denen die Behandlung von nicht-arischen Patienten bewilligt wurde; ob man mir dazu gratulieren kann, wird sich erst herausstellen. Jedenfalls bin ich nicht zum absoluten Nichtstun verurteilt und wäre sonst gezwungen gewesen, anderenfalls meine Emigration vorzeitig zu forcieren, was heute ja fast nicht möglich ist.«

In jedem Halbsatz steckte ein anderer Zwang. Roberts Kundschaft war zwar drastisch verkleinert, aber ein Rest an Struktur und Sinn blieb ihm erhalten. Er schien zwiegespalten darüber zu sein, dass er das fast-nicht-Mögliche vorerst noch nicht versuchen müsste. Da die Feitlers zu dieser Zeit bereits emigriert waren, sorgten sie sich um jüdische Freundinnen und Freunde, die in Wien geblieben waren. Bald pflegte Robert vor allem eine Brieffreundschaft zur jungen Elisabeth, schickte ihr Bücher und Bilder über den Atlantik:

Robert schrieb: »Mein liebes Mädi (Fräulein Elisabeth)! Ich glaube, wir schaffen das Mädi ab, weil Du schon zu erwachsen dazu bist. Es lässt sich denken, dass Du mit Briefeschreiben ebenso viel zu tun hast wie ich, weil wir doch alle die Hälfte unseres Daseins mit dieser Erinnerungsarbeit zubringen.«

Elisabeth bildete den Knotenpunkt eines ganzen Netzes an Brieffreundschaften. Zum Beispiel unterhielt sie auch einen regen Kontakt zu dem Wiener Architekten namens Leo Hochner, der 1938 nach Budapest geflohen war und mit dem Robert bestens vertraut war. Fast hätte Elisabeth beim Beantworten ihrer Briefe durcheinanderkommen können, denn jeder Brief von Leo aus Budapest begann Monat für Monat mit der gleichen Anrede wie Roberts Briefe aus Wien: Mein liebes Mädi. Ob die beiden Männer wohl voneinander wussten, dass sie Elisabeth auf die gleiche Weise ansprachen?

Leo schrieb: »Mein liebes Mädi! Ich erhielt heute einen sehr ausführlichen und lieben Brief von Mutti, auf den ich morgen antworten will. Dir will ich heute nur für Deine Einladung zu der amerikanischen Ice-Cream herzlichst danken, in der Hoffnung, in nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit zu haben, dieser Einladung auch Folge leisten zu können. Ich freue mich unendlich über den heiteren Ton in Deinen Mitteilungen und schliesse daraus, dass Dir der Aufenthalt in der neuen Heimat nicht so schwer fällt wie den vielen anderen Leidens- und Schicksalsgenossen.

Der einzige Lichtblick war vorgestern die Mitteilung von Robert, dass er endlich nach vielen nervenaufreibenden Wochen seinen Auswanderer-Pass erhalten hat und somit die Möglichkeit besitzt, in kurzer Zeit das Land zu verlassen. Dass man ihm sein ganzes Vermögen abgenommen hat und er als Bettler hinausgeht, müsste ich eigentlich gar nicht erwähnen, denn das ist ja die Regel. Er geht über die Schweiz, wo ich ihn hoffentlich treffen werde, nach England, wohin er zunächst ein dreimonatliches, aber verlängerbares Permit hat. In der Zwischenzeit hofft er, die Einreise nach Kalifornien zu erhalten. Du kannst Dir vorstellen, dass mir diese Perspektive auch nicht als das Ideal meiner Lebensziele und Wünsche erscheint, aber man wird jetzt von den täglichen Sorgen so in Anspruch genommen und zermürbt, dass man die Spannkraft verliert, sich auf so lange Sicht Vorstellungen von der Zukunft zu machen.«

Die Spannkraft verlieren, so nannte Leo es. Er musste wohl selber gemerkt haben, wie verändert er war. Es war schwer zu sagen, welche Lebensziele und Wünsche er hatte, die nun in weite Ferne gerückt waren. Er war eigentlich ein leichtherziger Charakter, fast wollte man ihn sogar als leichtlebig bezeichnen; jedenfalls viel leichter als Robert. Vor seiner Flucht aus Wien hatte er reinrassige Dackel gezüchtet, von denen er nur zwei Welpen mit nach Budapest bringen konnte. Zu ihrem 12. Geburtstag hatte er Elisabeth ein Dackelweibchen mit einem langen adligen Namen geschenkt und ihr erlaubt, es einfach nur kurz „Mirli“ zu rufen. Diese Anekdoten würde Elisabeth später immer wieder haargenau so erzählen, bis ins kleinste Detail. Alle Geschichten aus der Zeit vor ihrer Flucht waren wie geronnen.

Wenn Leo zu den Feitlers nach Hause kam, war Mirli ihm ein willkommener Vorwand. Dass er keine eigenen Kinder hatte, schien er manchmal sehr zu bereuen. Elisabeth erkannte das und wusste seine Freundschaft genau in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie nannte Leo ihren Wahlonkel und ein wandelndes Lexikon, weil er so bewandert war. Sein Weltwissen war gar nicht trocken. Legendär war zum Beispiel dieser eine unvergessene Sommertag, als Elisabeths Mutter Loni aus ihrem Roman aufsah und in die Runde fragte, was man sich denn unter einem „Bauchtanz“ vorzustellen habe. Leo stand auf und machte es ihnen vor. Das beschrieb Elisabeth in ihrem Tagebuch. Er war ein außergewöhnlich guter Tänzer, schrieb sie. In Budapest konnte er zum Glück in der Textilfabrik seines Bruders Artúr Hochner arbeiten, auf der Szentendrei-Straße im 3. Bezirk.

Währenddessen war es Robert gelungen, über die Schweiz nach England zu kommen, um in London seine nächsten Schritte zu planen. Er verschickte nun Briefe in beide Richtungen seines Weges: in eine mögliche Zukunft in den USA und in seine Vergangenheit auf dem europäischen Festland.

Robert schrieb: »Von Leo habe ich ziemlich regelmäßig Nachricht. Es ist die einzige Verbindungsmöglichkeit mit meinen Schwestern und mir auch deshalb so wichtig; er schreibt ganz regelmäßig, Du kannst dir vorstellen, was das für ihn für ein Opfer sein muss. Stehst Du wieder mit ihm in Verbindung?« 

Und Leo schrieb: »Der Eindruck, den Du aus Roberts Brief gewonnen hast, dass er ständig in England zu bleiben gedenkt, ist nicht ganz richtig, denn ich habe ihm in meinen letzten Briefen schon geschrieben, dass ich es für besser halte, wenn er die Möglichkeit, nach U.S.A. zu kommen, nicht ungenützt lässt. Ich komme leider langsam selbst zu der Überzeugung, dass es in Europa fast unmöglich ist, sich eine neue Existenz zu gründen, wenn man einmal gewaltsam entwurzelt wurde. Was mich bisher abgehalten hat, mich intensiver mit dem Gedanken an die U.S.A. zu befassen, ist die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist und ich das Gefühl habe, dass meine Anwesenheit für alle notwendig ist, so dass der, an den ich zuletzt denken darf, ich selbst sein werde. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.«

Das war ein bemerkenswerter Brief von Leo. Er korrigierte Elisabeths Interpretation von Roberts letzten Briefen. Er legte Rechenschaft über all die Verstrickungen der letzten Monate ab. Elisabeth blieb an einer Stelle hängen, die sie sich unterstrich:

»die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist«

Dieser beiläufige Nebensatz war im Singular abgefasst. Es war keine Aufzählung all derer, die noch in Europa waren. Leo zählte Robert zu seiner Familie. Einst enge Vertraute in Wien, die durch Leos Emigration getrennt worden waren, standen die zwei Männer nach all dieser Zeit noch immer in Kontakt und nahmen starken Einfluss auf den Weg des jeweils anderen:

Leo gestand: »Ich habe immer Robert zugeredet, die Verwirklichung seiner Überseepläne zu verschieben. Ich halte aber selbst im Falle einer baldigen Beendigung des Krieges die Situation in Europa für wenig aussichtsreich und es ist sehr leicht möglich, dass ich in Verfolgung dieses Gedankenganges mich auch selbst nach U.S.A. orientieren werde.«

Nun war Robert dazu angehalten, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Leos Stimme in seinem Ohr hatte ihre Meinung geändert. Aus dem Zuraten zum Verschieben war plötzlich ein Zuraten zum Verwirklichen geworden. Im Oktober 1940 war es so weit. In Liverpool ging Robert an Bord der S.S. Northern Prince. Ihr Zielhafen war New York – die neue Heimat der Feitlers und so vieler anderer jüdischer Emigrant*innen. Wenn es ihnen dort wirklich so gut ergangen war, wie Elisabeth in ihren Briefen ja eindrücklich geschildert hatte, ohne jemals etwas auszulassen, warum dann nicht auch ihm?

the name of my wife or husband is ——————————

Robert konnte lesen und schreiben, wie alle Passagier*innen auf seinem Schiff. Er gab an, die deutsche und die englische Sprache zu beherrschen. Er kam aus Wien, Deutschland, aber er war geboren in Wien, Österreich, so stand es auf dem Papier. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Dahinter blieben auf dem Formular viele Zeilen frei. Bis auf Robert waren alle ledigen Personen auf seinem Schiff selbst noch Kinder.

3     New York

Für den Anfang durfte er bei den Feitlers wohnen, um sich in Amerika einzugewöhnen und leichter eine Bleibe zu finden. Das war für ihn eine große Erleichterung. Die vorige Wohnung der Feitlers war ebenfalls auf der Upper Westside, nur ein paar Häuserblocks weiter: Sie wohnten alle zusammen in 355 Riverside Drive. Das konnte man sich gut merken. Es hatte sich bei jedem erneuten Formular, das Robert ausfüllen musste, so schön für ihn gereimt. Er benötigte auch eine „Person, die immer meine Adresse kennen wird“, und er nannte dafür seinen guten Freund Paul.

Im Frühjahr 1941 wurde Robert in New York eingebürgert:

(14) Es ist meine Absicht nach Treu und Glauben, ein Bürger der Vereinigten Staaten zu werden und dort permanent wohnhaft zu sein.

(16) Ich bin kein Anarchist, auch kein Anhänger der gesetzwidrigen Beschädigung oder Zerstörung von Eigentum, oder der Sabotage: auch kein Gegner von organisierter Regierung; auch kein Mitglied in jeglicher Organisation oder Gruppe, die sich gegen eine organisierte Regierung stellt. So wahr mir Gott helfe.

Von den Gesetzen geschützt, statt schikaniert zu werden – das war das Versprechen, das Amerika als gelobtes Land für viele traumatisierte Emigrant*innen einlösen konnte. Robert hätte sich die gleiche Hoffnung gemacht. Er fasste langsam Fuß in der neuen Stadt, baute sich ein soziales Netz auf. Er verließ das Zuhause der Feitlers und zog in die 79. Straße, wie aus seinen Gerichtsunterlagen hervorgeht: „308-E79St“, steht als Adresse mit einem spitzen Bleistift hinter dem speckigen Einband des Gerichtsbuchs notiert.

In der Nähe gab es eine Schwulenbar, die Robert in seinem neuen Leben gern besuchte. Im Februar 1944 war sie das Ziel einer Polizeirazzia mit einigen Festnahmen. Robert wurde dem Richter Charles Ramsgate vorgeführt. Am Amtsgericht gab es keine Jury und in dieser Sache auch keinen Kläger, nur einen Polizisten namens Campbell. Robert wurde vor die Wahl gestellt zwischen 15 Tagen Zuchthausstrafe oder einem Bußgeld in Höhe von 50 US-Dollar. Dass er letztlich das Geld zahlte, wurde dort mit einem Häkchen bestätigt.

Die nationalsozialistische Propaganda im Deutschen Reich hatte Homosexualität immer wieder als ein jüdisches Laster bezeichnet. In den Ausgaben des „Stürmers“ wurden Juden mit ihrem Foto und Namen zusätzlich noch als Homosexuelle und Sittlichkeitsverbrecher angeprangert, die die Jugend gefährdeten. Gegen homosexuelle Juden konnten härtere Gerichtsurteile erlassen werden, auch mithilfe der Nürnberger Gesetze. Ihre Deportation wurde oftmals durch ihr Vorstrafenregister erleichtert, ihre Ausreise hingegen durch ihre Einträge ins polizeiliche Führungszeugnis vereitelt. In den Konzentrationslagern waren diese Männer mit einem doppelten Winkel gekennzeichnet (der rosa und der gelbe Winkel, zu einem Davidstern kombiniert) und wurden auffällig oft in den Krankenbau eingeliefert. Sie waren als die „175er“ bekannt, nach dem Paragrafen 175 des Reichsstrafgesetzbuches benannt.

Währenddessen war es im New Yorker Strafrecht die Sektion 722, Abschnitt 8 (unter der Überschrift „Entartung“), die männliche Homosexualität als „Verbrechen gegen die Natur“ ahndete. Zwischen 1923 und 1966 kam dieser Paragraf bei schätzungsweise mehr als 50.000 Männern zum Einsatz. Sie erhielten Geld- oder Haftstrafen, und viele verloren danach ihren Job. Robert Bachrach war einer dieser vielen, ohne in jeder Hinsicht wie sie zu sein. Der spezifische Ablauf war ihm ganz eigen, wie jedem einzelnen der vielen anderen auch. Robert wurde nach dem Gerichtsurteil wegen „moralischer Verwerflichkeit“ aus der New York County Medical Society ausgeschlossen. Er hatte also innerhalb weniger Jahre seinen Arztberuf zweimal, in zwei Ländern und aus zwei verschiedenen Gründen verloren.

4     Budapest

Leo heiratete in Budapest eine Jüdin namens Vera. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn. Wenige Tage später begann unter der Leitung von Adolf Eichmann und im Zuge der „Endlösung“ die massenweise Verfolgung und Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden. Für Leo und Vera erschwerte das ihren Plan, gemeinsam in die USA auszureisen. Um nur überleben zu können, musste sich Leo in der Textilfabrik seines Bruders eine deutsche Uniform anfertigen lassen, die er auf offener Straße tragen konnte; mit gefälschten Papieren, die ihn als Christen und NSDAP-Mitglied auswiesen, und mit nur gekauften Tapferkeitsorden.

Elisabeth schrieb in ihr Tagebuch (und in vielen anderen Zeitzeugnissen ist ebenfalls glaubhaft überliefert), dass Vera und Leo Hochner ein Versteck bei sich einrichteten. Auf dem Dachboden ihrer Wohnung in der Sas-Straße im 5. Budapester Bezirk fanden bis zu sieben Menschen gleichzeitig Platz. Hier kamen Jüdinnen und Juden unter, die aus dem Pester Ghetto geflohen waren oder die Leo von der Straße reingeholt hatte. Ein befreundeter Kinderarzt namens Géza Petényi versteckte Dutzende jüdische Kinder auf seiner Krankenstation. Bei Überfüllung durften einige Kinder zu Leo und Vera kommen.

Dr. Petényi brachte regelmäßig Medikamente und Hygieneartikel vorbei. Vera und Leo trugen dreimal am Tag Essen nach oben. Wenn keine Gefahr bestand, konnten ihre Schützlinge den Dachboden verlassen, um die Glieder zu strecken, ein Bad zu nehmen oder ein Buch zu lesen. Elisabeth schrieb dazu in ihr Tagebuch: Man könnte das hier alles für ein einziges großes Lügenmärchen halten, wenn man ihren Onkel Leo nicht kannte.

Dass Leo und Vera in Budapest blieben, war also einerseits den äußeren Umständen geschuldet und zeugte andererseits von Mut und Selbstlosigkeit. Wenn Robert doch nur hätte wissen können, was sie mit ihrem kleinen Versteck in Budapest leisteten, müsste er sich im April 1944 vielleicht nicht so verlassen fühlen, oder vielleicht entziehen sich Gefühle einer solchen Logik.

Im Herbst 1944 wurde Vera schwanger. In die USA kam die frisch gegründete Familie Hochner erst in den 50er-Jahren. Das war lang nach Kriegsende und nur im Rahmen eines Urlaubs. Sie besuchten die Familien Feitler und Gay in New York, sobald ihr kleiner Sohn Robert alt genug für diese Reise war.

5     New York

Loni bewahrte in ihrer Kommode Robert Bachrachs letzten Brief auf. Er war an sie adressiert, nicht an Elisabeth. Sie überreichte ihn ihrer Tochter und sagte, „diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen“. Spätestens jetzt zweifelte Elisabeth an der Erkrankung als Todesursache.

Roberts Briefe aus Europa waren nur ein schlechter Ersatz für ein echtes Gespräch mit ihm gewesen, nie hatte Elisabeth nachhaken können, wie er etwas meinte, jede Antwort ließ auf sich warten und setzte an einem ganz anderen Punkt der Flucht wieder an. Und nun stellte sich also heraus, dass er ihr auch in seiner New-York-Zeit, als Person aus Fleisch und Blut, wohl nicht immer alles erzählt hatte, was in ihm vorgegangen war. In Zukunft blieb ihr nur noch diese stumme Begegnung mit Robert auf dem Papier. Es ist ein Abschiedsbrief, und es gibt ein paar schwer leserliche Stellen darin:

Robert schrieb: »Meine liebe Loni, meine Stunde hat geschlagen, und ich will Ihnen gegenüber noch weniger undankbar erscheinen als zu irgendjemand anderem. Denn Sie haben ein solches Übermaß von Güte an mich verschwendet in diesen letzten Jahren, dass ich es Ihnen niemals hätte danken können. Und nur durch Sie, sowie durch Pauls und Elisabeths Einstellung zu mir, war es mir möglich, durch die letzten wahrlich schweren Jahre aufrechten Ganges durchzuhalten. Aber Sie haben mir noch [weit?] mehr geholfen durch Ihr tiefes Verständnis für meine [persönlichen Sorgen?], durch Ihre niemals ausgesprochene und doch so deutliche Teilnahme an der Sehnsucht nach [denjenigen?], die mich hier allein stehengelassen haben. Denn dadurch habe ich mich doch immer wieder verlassen gefühlt.

Wenn Sie den Leo noch je im Leben wiedersehen sollten, so sagen Sie ihm, dass ich bis zur letzten Minute meines Daseins seiner gedacht habe. Haben Sie Dank, Robert.«

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Die Deutschen und ihr Dichter – Über Hermann Löns

von Markus Thielemann

Da es ohne eindeutige Meldeadresse unmöglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind Straßennamen ein untrennbarer Teil unseres Alltags. Aus diesem Grund gibt es Petitionen und Proteste, die Namen von Mördern von den Schildern und aus den Adressbüchern zu entfernen. Denn die allerwenigsten Menschen möchten bei der wöchentlichen Onlinebestellung den Namen eines Faschisten oder Kolonialgenerals in die Suchmaske eintragen.

Nach dem Schriftsteller und “Heidedichter” Hermann Löns sind über eintausend Straßen und Plätze in Deutschland benannt.[1] Damit steht er nicht alleine. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellern, deren Namen in ähnlichem Ausmaß deutsche Stadtbilder prägen: Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin, Heine und Eichendorff sind zwar wie Löns, allesamt Männer, doch damit hat es sich mit den Gemeinsamkeiten. Die Werke der genannten Dichter sind bis heute Teil eines über Jahrhunderte gewachsenen Literaturkanons, und gleichsam tief im kulturellen Gedächtnis dieses Landes verankert.

Hermann Löns gehört einer anderen, jüngeren Generation an. Er starb im Jahr 1914 mit 48 Jahren, das Gros seiner Werke veröffentlichte er im zwanzigsten Jahrhundert. Im Deutschunterricht spielt er heute keine Rolle mehr (Spoiler: zu Recht). Und trotzdem: Kein*e deutschsprachige*r Schriftstellerer*in der Moderne ist in Deutschland derart oft verewigt worden wie er. Kein Mann, kein Kafka, kein Remarque, weder Nietzsche noch Hauptmann, noch Rilke, von Schriftstellerinnen ganz zu schweigen. Zum Vergleich: Es gibt in Deutschland mehr Straßen und Wege mit “Löns” im Namen als solche mit “Schmidt”, “Meier” oder “Adenauer”. Es gibt Apotheken, die nach ihm benannt wurden, es gibt eine ganze Stadt (Hermann-Löns-Stadt Walsrode), es gibt sogar ein Fußballstadion (Paderborn) und einen bis heute beliebten Festzeltschlager (“Hermann Löns, die Heide brennt”).

Wie kommt das? Wie kam es so? Warum ist dieser Mann mit seinen (ziemlich kitschigen) Natur- und Tiergedichten, seinen simplen Jagdgeschichten und seinen Romanen über Heidebauern in nur zwanzig Jahren für immer in das kollektive Gedächtnis eines ganzen Landes vorgedrungen?

Ideelles Bollwerk gegen die Moderne

Geboren wurde Hermann Löns 1866 in Chełmno (damals Culm) im heutigen Polen. Er zog mit seiner Familie nach Münster, machte das Abitur, trat ein Studium an und brach es wieder ab. Sein Alkoholkonsum führte zum Bruch mit seinen Eltern. Er begann als Journalist zu arbeiten, nach ein paar Stationen in verschiedenen Städten landete er 1892 in Hannover, wo er sich nach und nach als satirischer Kolumnist, “Lebemann” und Dandy einen Namen machte. In seiner Freizeit zog es ihn aufs Land, in die “Heide”.

Diese Kulturlandschaft zwischen Hannover und Hamburg, die bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts große Flächen Norddeutschlands bedeckt hatte, befand sich zu Löns Lebzeiten bereits unwiederbringlich in der Auflösung. Die voranschreitende Industrialisierung hatte die traditionelle Heidebauernwirtschaft, deren Hauptprodukte Honig und Wolle waren, innerhalb weniger Jahre unrentabel gemacht. Industriezucker verdrängte den Bedarf an Honig, die raue Wolle der Heidschnucken war gegen die Baumwolle aus den USA und Schurwolle aus Australien und Neuseeland nicht konkurrenzfähig. Zusätzlich war es durch den Einsatz von Industriedüngern Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erstmals möglich, die bis dato nahezu unfruchtbaren, sandigen Flächen intensiv zu bewirtschaften. Der Rest wurde mit genügsamen Kiefern aufgeforstet.

Der Stadtmensch und Dichter Löns jedoch fand in den kargen Flächen seine Heimat. Die Ödnis wertete er innerhalb weniger Jahre in ein urdeutsches Landschaftsideal um, das er in Liedern und Gedichten besang, und das er als Gegenentwurf zum komplexen Gewusel der Städte und zum Dreck der Fabriken in Stellung brachte. Die Heide war sein ideelles Bollwerk gegen die Moderne. Die Heidebauernfamilien, die Bewohner des dünn besiedelten Landstrichs, waren in diesem Konstrukt die idealen Menschen: Reinrassig, blond, tief verwurzelt in Natur und Landschaft, hart, wortkarg, leidgeplagt und doch herzlich. Löns behauptete: “Der Bauer ist das Volk, ist der Kulturträger, der Rasseerhalter.”[2]

Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch

Im Gegensatz zur Naturdichtung der Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fand Hermann Löns fern der Städte keinen Zauber und keine Mystik. Er fand das, was er für das echte Leben hielt: Die Idylle im Gleichschritt mit der Härte der Natur, den darwinistischen Überlebenskampf der Arten, der seinem Blick nach Stärke und Schönheit hervorbrachte und den er ganz im Geist seiner Zeit vollumfänglich auf menschliche Verhältnisse übertrug. Die Helden seiner Erzählungen sind Jäger und Bauern, oder die Tiere selbst. Es sind nahezu immer Männer. Gewalt und Tod sind allgegenwärtig. Pompös beschreibt er Kämpfe, herabsausende Knüppel, spritzendes Blut, röchelnde Kehlen, erlahmende Muskeln. Blut und Boden, “Rasse” und Heimat sind Motive die sich durch das Lönssche Werk ziehen, manchmal motivisch versteckt in seinen fast kindlich anmutenden, hingeplauderten Jagdgeschichten, manchmal offen geäußert, beispielsweise und exemplarisch wenn er behauptet: „Ich bin Teutone hoch vier. Wir haben genug mit Humanistik, National-Altruismus und Internationalismus uns kaputt gemacht, so sehr, dass ich eine ganz gehörige Portion Chauvinismus sogar für unbedingt nötig halte. Natürlich passt das den Juden nicht.“  Seine Briefe unterzeichnete er mit der Wolfsangel.

Zu seinen Lebzeiten im wilhelminischen Kaiserreich fanden seine Naturerzählungen, Romane und Gedichte schnell eine große Leser*innenschaft, durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. “Die Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch”[3] in Löns Werk sprachen eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung an. Er verpackte seine Botschaften einfach und klar, sie waren sehr anschlussfähig an den Nationalismus und den preußischen Soldatenkult, überzeugten konservative Intellektuelle ebenso wie die gerade entstehenden Naturbewegungen der Jugend. Später, in den Dreißigern, lange nach seinem Tod im Jahr 1914, ließ sich sein Werk nahezu perfekt in die Ideologie und die Propaganda der Nationalsozialisten einfügen. Das “Matrosenlied”, das Löns 1910 im Zuge des Flottenwettrüstens des Deutschen Reichs gegen das Englische Empire geschrieben hatte, wurde schon im Ersten Weltkrieg von hunderttausenden Marinesoldaten gesungen. Im Zweiten Weltkrieg vertonte es Goebbels oberster Propagandakomponist Herms Niel unter dem Namen “Englandlied” zu dem Kriegslied der Nazis.

„Grün ist die Heide“

Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus scheinen in vielen der Lönschen Texte durch, besonders und vor allem aber in seinem Roman “Der Wehrwolf”. Eine Gruppe Heidebauern kämpft darin zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gegen alle anderen, gegen “schwarzbärtiges Ungeziefer”. Diese extrem simple Us vs. Them Konstruktion, in der sich eine reinrassige Volksgemeinschaft gegen Einflüsse von Außen zu verteidigen gezwungen ist, die es zu zersetzen und zu vernichten drohen, zog im Kaiserreich, genauso wie in Weimarer Republik unter völkisch-nationalen Kreisen. Die Nazis priesen den Roman als “Werk nationalsozialistischen Geistes” und Löns als “Künder des Reiches Adolf Hitlers”. Der “Wehrwolf” wurde Schulstoff, wurde millionenfach als Feldlektüre für Wehrmachtssoldaten und Flakhelfer gedruckt und kann zudem als ideeller Wegbereiter für Himmlers Werwolfverbände gesehen werden, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die Alliierten Besatzer innerhalb Deutschland bekämpfen sollten.

Nach dem Krieg wurde es jedoch nicht still um Hermann Löns, im Gegenteil: 1951 erschien mit “Grün ist die Heide” ein auf Lönsschen Motiven basierender und mit Lönsschen Liedern versehener Heimatfilm. Er wurde einer der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten (sechzehn Millionen Menschen sahen ihn damals). Löns wurde weiter verehrt, jede Schuld und jeder Verdacht wurde aus seinem Werk gelöst, indem man nach außen nun vor allem seine Rolle als vermeintlicher früher “Naturschützer” hervorhob. Es sei von Anfang an eben nur um die Natur, die Tiere und das einfache Landvolk gegangen. Seine Werke wurden neu aufgelegt und millionenfach gedruckt, ein verlorener Krieg, Besatzung, die Verantwortung für die Shoah: Löns simple Heideidyllen waren Balsam für die der einfachen Nachkriegsseelen, seine Literatur funktionierte wie Schlager. So pflasterte man die Neubaugebiete Westdeutschland mit Hermann-Löns-Wegen, -straßen und -plätzen, man gründete Hermann-Löns-Kreise und Gesellschaften. Besonders von den Vertriebenenverbänden, die von Beginn an Sammelbecken rechter Ideologen und Ideen waren, wurde der gebürtige Westpreuße Löns verehrt. Parallel zur unvergleichlichen Schuld, die die Deutschen in der Nachkriegszeit kollektiv fortschwiegen, zu den Waffen, Parteibüchern und Abzeichen, die in Güllegruben oder unter losen Bodendielen verschwanden und den arisierten Vermögen, die in den Wohnzimmern und den Handelskontoren nach und nach im Wirtschaftswunder aufgingen, ließ man wortwörtlich Gras über den anderen Teil des Lönschen Werkes wachsen. Man erinnerte den Jäger und das Idyll für das er stand, aber nicht jene, auf die er schoss. Der brave Deutsche fühlte sich ihm verbunden, wenn er die grünbraunen Landschaftsgemälde mit den Hirschen und den Hunden über dem Küchentisch betrachtete, während man seine Kinder anschwieg.  Die Antwort auf die Frage, warum sein Name derart häufig auftaucht ist, also relativ simpel: Er war und ist unglaublich beliebt, er wurde millionenfach gelesen.

Die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen

Vor allem nördlich von Hannover und südlich von Hamburg, in der sich touristisch genutzte Heideflächen erhalten haben, ist Löns Name bis heute absolut allgegenwärtig. Es mag stimmen: Ohne Löns und sein Werk würde die Heide, wie sie in Niedersachen vorzufinden ist, vielleicht nicht mehr existieren. Er selbst war ein früher Mitinitiator des ersten Deutschen Naturschutzgebiets, der Lüneburger Heide (die im Grunde nie Natur war). Er festigte und mystifizierte die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen.

Doch was sagt das im Umkehrschluss aus? Ist die Lüneburger Heide nicht in gewisser Weise Löns Heide? Kann sie überhaupt getrennt von ihm gedacht werden? Was würde das bedeuten? Denn für Löns war die Natur und die Heide immer auch Projektionsfläche für sein eigenes Weltbild, eines, in dem Menschen in Rassen eingeteilt sind, in dem Gewalt das oberste Ordnungsprinzip war, man alten Zeiten nachtrauerte, wo Humanismus und Altruismus mit Jubel und Trara zurechtgeknüppelt wurden und in dem der Mann als Jäger und Heger das Recht besaß, über Leben und Tod und als Patriarch über sein Weib zu bestimmen.

Vielleicht hängt es auch mit diesem problematischen Erbe der Landschaft zusammen, dass sich seit Jahren völkische Siedlerfamilien in der dünn besiedelten Region ansammeln.

Was sagt es im Umkehrschluss über ein Land aus, dass es diesem Mann vehement Denkmäler gebaut hat und sich bis heute tausendfach mit seinem Namen schmückt? Löns war ein Chauvinist, ein Rassist, und ein Sexist, er war besessen von Gewalt, gleichzeitig neigte er zur Sentimentalität. Der allgegenwärtige Diminutiv der Tiernamen, Hasen, Rosen und Blut, schwülstige Liebesschwüre und der gegen alles Artfremde gerichtete Schlachtruf “Shlaah doot” der “Wehrwölfe”. Diese Mischung scheint die Deutschen bis heute zu berühren. Es ist ein wenig so, als sei die Lönssche Idee der Heimat die deutsche Idee von Heimat und umgekehrt: Ein Ort der Idylle und der vermeintlichen Wahrheit, der wahren Natur und der wahren Rasse, der den Deutschen unter Anwendung von Gewalt zusteht, und sonst niemandem.

Diese Idee von Heimat, von der Heide, vom “Land”, ist ein reales, gefährliches Problem. Denn im Geiste einer solchen Heimat werden in Deutschland Menschen ermordet, bis heute. Hunderte deutsche Gemeinden sollten sich deswegen Gedanken machen, welche Art der Heimat sie sein wollen, und ob eine Hermann-Löns-Straße dazu passt.


[1] Bei Zeit Online gibt es ein frei zugängliches, sehr faszinierendes Tool, mit dem sich die Häufigkeit eines Straßennamens in Deutschland überprüfen, sowie seine Verteilung auf einer Karte zeigen lässt: Straßennamen: Wie oft gibt es Ihre Straße? | ZEIT ONLINE

[2] Dupke Mythos Löns, 171, nach Löns, Bauernrecht und Bauernmoral.

[3] Dupke, Mythos Löns, 179

Beitragsbild von Chiara Wolf auf Unsplash

„Ich darf das!“ – Warum Meinungsfreiheit kein Selbstzweck ist

von Simon Sahner

Vor einiger Zeit gab Elon Musk dem US-amerikanischen Journalisten David Faber ein Interview in den Werkshallen von Tesla. Gerade war die jährliche Aktionärsversammlung zu Ende gegangen. Im Verlauf des einstündigen Gesprächs fragte Faber den CEO von Twitter, warum er wiederholt Statements poste, die außerordentlich kontrovers seien und den Eindruck erweckten, er sei unter anderem antisemitisch eingestellt oder hänge Verschwörungserzählungen an, und die ihn so ins Zentrum einer großen gesellschaftlichen Auseinandersetzung rückten. Das würde doch vermutlich seinen Unternehmen schaden.

Musk schaute irritiert, er zögerte, begann unsicher zu sprechen und sagte dann, immer noch sichtlich überrascht von der Frage: „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Auf Nachfrage des Journalisten, der ihm versicherte, dass er absolut das Recht habe, seine Meinung zu sagen, war Musk immer noch erkennbar verwirrt, schwieg fast zehn Sekunden, setzte wieder an, schwieg dann erneut und antwortete schließlich sinngemäß, ihm sei jede Konsequenz egal, er sage, was er will, weil er es darf.

Zehn Tage später twitterte Musk eine Karikatur, in der eine große Hand eine Menge sehr kleiner Menschen niederdrückt, daneben der Schriftzug „Um zu verstehen, wer über dich herrscht, finde einfach heraus, wen du nicht kritisieren darfst.“ Laut der Karikatur stammt das Zitat von Voltaire, dem großen Philosophen der europäischen Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert. Das ist nachgewiesenermaßen falsch, vielmehr stammt die Aussage von dem US-amerikanischen Neo-Nazi und Holocaust-Leugner Kevin Alfred Strom. Solche falschen Voltaire-Zitate sind nicht weiter ungewöhnlich. Es scheint vielmehr eine nicht unübliche Praxis zu sein, dem bekannten Philosophen Aussagen zuzuschreiben, um ihn dann als Gewährsmann für das unbedingte Recht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen. Der berühmteste Fall ist mit Sicherheit „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ Wahrscheinlich liegt der Ursprung dieser Fehlzuschreibung bei der Autorin Evelyn Beatrice Hall, die Voltaire in ihrer Biografie über den Aufklärer so zitiert, um seine Haltung zur Meinungsfreiheit pointierter zu formulieren, als es der Philosoph selbst getan hatte.

Das Heiligtum der aufgeklärten Gesellschaft

In diesen beiden beispielhaften Äußerungen von Elon Musk, der sich selbst wiederholt als „free speech absolutist“ bezeichnet hat, liegt meines Erachtens eine Aussage darüber, in was für eine schwierige Situation Meinungsfreiheit als Wert geraten ist, und darüber, was diese Situation über aktuelle gesellschaftliche Konflikte aussagt. Denn was für eine Bedeutung hat der Begriff Meinungsfreiheit für unser Zusammenleben in einer Kultur und einer Gesellschaft noch, wenn seine Erwähnung schon ausreichen soll, potenziell antisemitische und verschwörungstheoretische Aussagen eines Multimilliardärs zu rechtfertigen? Sich auf Meinungs- und Gedankenfreiheit, auf Philosophen der Aufklärung, auf populäre Freiheitslieder und am Ende beinahe immer auf George Orwells 1984 zu berufen, scheint inzwischen vor allem die Indienstnahme von kulturellem Kapital zu sein. Wenn Musk das vermeintliche Voltaire-Zitat postet, postet er das kulturelle Kapital der Aufklärungsbewegung gleich mit. Und wer sich auf diese und andere Größen der Aufklärungsgeschichte beruft, kann – so der Gedanke – nicht ganz falsch liegen.

Aber der Reihe nach. Die Meinungsfreiheit ist nicht zu Unrecht das Heiligtum der demokratischen, liberalen und aufgeklärten Gesellschaft. Geboren aus der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts und den Barrikadenkämpfen der Französischen Revolution, legt das Recht auf freie Äußerung der Meinung den Grundstein für jede Gesellschaft, die sich als demokratisch bezeichnet. Ein Staat, in dem dieses Recht nicht grundsätzlich garantiert ist, kann nicht frei und demokratisch sein. Der literaturgewordene Schlachtruf dazu stammt von Friedrich Schiller aus dem Drama „Don Karlos“, in dem der Marquis von Posa an König Philipp II. von Spanien gerichtet ausruft „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Aus der gleichen Zeit stammt wohl ursprünglich der Text zu dem Lied „Die Gedanken sind frei“, das derzeit als Hymne zahlreicher Verschwörungsbewegungen missbraucht wird.

Es lässt sich generell beobachten, dass Meinungsfreiheit und die dahinterstehenden Werte der Aufklärung derzeit nicht zuletzt von denjenigen mit Inbrunst hochgehalten werden, die sich dafür rechtfertigen wollen, ignorant oder rücksichtslos zu sein. Das gilt für Leugner*innen der Klimakrise ebenso wie für Boris Palmers Auftritt bei der so genannten Migrationskonferenz Anfang Mai in Frankfurt. Mit beeindruckender Penetranz wiederholte Palmer dort das N-Wort vor protestierenden Student*innen ebenso wie später erneut auf der Bühne der Konferenz, schlicht weil er das Recht dazu hat. Mit der gleichen Haltung werden wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet, Menschen diskriminiert und beschimpft. Der Satz „Das ist meine Meinung.“ ist zur Universalrechtfertigung geworden, jedem alles zu sagen und alles zu behaupten. Dabei entsteht der Eindruck, viele dieser Dinge würden nicht zuletzt deshalb gesagt und behauptet, um zu demonstrieren, dass man sie sagen darf. Wenn Palmer vor mehreren nicht-weißen Student*innen ohne erkennbaren Grund das N-Wort wiederholt, dann handelt es sich dabei rein um die Demonstration seines Rechts, genau das zu tun – Meinungsfreiheit wird zum Selbstzweck.

Freiheit trotz juristischer Grenzen

Das Recht soll und darf ihm juristisch auch nicht verwehrt werden. Genauso wenig darf grundsätzlich rechtlich verboten werden, faktisch falsche Ansichten zu verbreiten. Gleichzeitig gibt es aber auch in einem Staat mit Meinungsfreiheit wie Deutschland juristische Grenzen. Beleidigungen können beispielsweise Strafen nach sich ziehen, gleiches gilt für den Tatbestand der Volksverhetzung, der unter anderem die Leugnung der Shoa miteinschließt. Meinungsfreiheit ist also selbst in einem freien, demokratischen Staat, in dem keine Zensur ausgeübt wird und das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, zumindest juristisch gesehen kein Selbstzweck. Dennoch kann man festhalten, dass hierzulande erst einmal fast alles gesagt oder anderweitig geäußert werden kann. 

Wie sehr diese Tatsache aber inzwischen in Vergessenheit geraten ist oder generell in Abrede gestellt wird, offenbarte vor wenigen Tagen erst der vielleicht beliebteste deutsche Fußballtrainer Jürgen Klopp. In einem langen Gespräch im Podcast Hotel Matze äußerte er seine Sorge um Meinungsfreiheit, insbesondere für Menschen in den Medien. “Wer hat denn die Freiheit, zu sagen, was er will?”, fragte er mit Blick auf Comedians unter anderem wie Dieter Nuhr. An solchen Äußerungen lässt sich ablesen, welche Verschiebung eines zentralen Begriffs stattgefunden hat. Die Meinungsfreiheit von Dieter Nuhr, der eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat, und allen anderen steht außer Frage. Meinungsfreiheit geht gerade auch in Deutschland mitunter sogar sehr weit.

Das gilt zum Beispiel auch für Produktion und Verkauf von sternförmigen Aufklebern, auf denen auf gelbem Hintergrund die Aufschrift „Dieselfahrer“ abgebildet ist und die an die so genannten Judensterne erinnern. Die Staatsanwaltschaft Halle stellte eine Anzeige gegen den Verkauf dieser Aufkleber mit der Begründung ein, es handle sich um eine zulässige, frei geäußerte Meinung. Unabhängig davon, wie in den Rechtswissenschaften solche Fälle diskutiert werden, kann man also feststellen: Das Grundgesetz hält, die Meinungsfreiheit steht, eine Zensur findet nicht statt. Von einem juristischen Standpunkt aus, würden das selbst diejenigen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen, wohl kaum bestreiten. Vielmehr fühlen sie sich von einer gesellschaftlichen Stimmung angegriffen, die mit harscher Kritik und Protest reagiert, wenn das N-Wort ausgesprochen oder geschrieben wird, wenn sich erwachsene Menschen als amerikanische Ur-Einwohner*innen verkleiden oder wenn trans Menschen ihre Identität oder gleich ihre Existenz abgesprochen wird. Man dürfe ja nichts mehr sagen, man traue sich ja gar nicht mehr auszusprechen, was man denkt, man betreibe Selbstzensur – es herrscht die „Cancel Culture“ und Deutschland ist „Wokeistan“. Das erscheint nicht zuletzt deshalb absurd, weil diejenigen, die meisten Menschen, die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen, gesamtgesellschaftlich weiterhin in der Mehrheit sind und die Machtpositionen der Gesellschaft innehaben. Dennoch sind es nicht zuletzt oft Politiker*innen in eben jenen Machtpositionen, die vor “Cancel Culture” und der so genannten “Wokeness” warnen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verkündete beispielsweise stolz, in Bayern dürfe man – anders als in Berlin – “sagen und singen, was man will”. Dass seine Partei im Bundestag sitzt und de facto auch ohne Regierungsbeteiligung Macht hat, spielt offenbar keine Rolle. Bei der Freiheit, alles sagen zu dürfen, ging es zwar immer schon um Macht; allerdings vor allem darum, keine Angst haben zu müssen, sich gegen die Mächtigen zur Wehr zu setzen. 

Eine einfache Forderung

Dabei kann man sich durchaus und mit Recht fragen, wo eigentlich das Problem liegt. Menschen, die Diskriminierung erleben, sagen anderen, verwendet bitte nicht dieses oder jenes Wort, macht keine Witze über uns, nehmt uns ernst, erkennt unsere Identität an, sonst verletzt ihr uns. Letztlich steckt hinter dem gesamten Diskurs ein berechtigter Anspruch auf Rücksichtnahme, auf einen Wert also, der essentiell ist für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Und hier kommt wieder die Aussage von Elon Musk ins Spiel „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Denn, wo das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, herrscht noch kein Zwang zur Meinungsäußerung. Genauso wie Musk mit Blick auf seine ökonomischen Interessen darauf verzichten könnte, Verschwörungserzählungen zu äußern, also sich selbst nicht zu schaden, könnten andere Menschen aus Rücksichtnahme auf andere auf das N-Wort verzichten oder darauf einer trans Frau zu sagen, sie sei in Wahrheit ein Mann. Sie könnten darauf verzichten, anderen zu schaden, indem sie Rücksicht nehmen.

Diese Form der Selbstbeherrschung, die manche als Selbstzensur empfinden, ist ein grundlegender Bestandteil unseres Zusammenlebens. Niemand sagt immer alles, was er denkt und meint, darauf haben wir uns als Gesellschaft geeinigt, auch wenn wir es nicht durch Gesetze geregelt haben. Die meisten von uns würden ihrem Unmut über langes Warten nicht lautstark Ausdruck verleihen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die Person an der Kasse gerade richtig lahmarschig arbeitet. Die meisten von uns sagen auch fremden Menschen im Aufzug nicht, dass wir ihr Outfit ausgesprochen geschmacklos finden und dass der Pickel auf ihrer Nase richtig eklig aussieht, auch wenn das unsere Meinung ist. Meinungen sind teilweise unverschämt, beleidigend und sogar falsch und es gehört zu den Grundregeln zwischenmenschlicher Kommunikation und einem funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenleben nicht alles zu sagen, was man denkt und meint, auch wenn man es darf. Letztlich geht es dabei um Anstand und Respekt, Werte, die gerade in konservativeren Kreisen immer wieder gefordert werden. Es hätte aber auch mit Anstand und Respekt zu tun, auf das N-Wort zu verzichten, sich nicht als amerikanischen Ureinwohner zu verkleiden oder anzuerkennen, dass auch Menschen, die nicht der eigenen Vorstellung von Männlichkeit entsprechen, männlich sein können. Denn letztlich geht es dabei um nichts anderes als darum, andere Menschen nicht zu verletzen.

Die absolute Freiheit des einen ist die Einschränkung des anderen

Deswegen erscheint der Kampf, den derzeit viele um Meinungsfreiheit führen, in sein Gegenteil verkehrt worden zu sein. Der zentrale Wert der Aufklärung wird zum Instrument, um die Freiheit diskriminierter Gruppen zu beschneiden. Die Freiheit, das N-Wort zu sagen, geht am Ende zu Lasten der Freiheit der Menschen, die dadurch verletzt werden. Sich mit Elementen anderer Kulturen zu verkleiden, ohne deren Bedeutung zu respektieren oder gar zu kennen, greift in die Freiheit der Menschen ein, ihre Identität und Kultur in ihrem Sinne zu repräsentieren. Man kann also tatsächlich nicht ohne Konsequenzen alles sagen oder tun, was man möchte. Das kann auch zu Unsicherheit führen und zur Angst davor, das Falsche zu sagen. Wer das aber als Einschränkungen der Meinungsfreiheit deklariert, verkennt die Komplexität von Freiheiten. Es ist eine der größten Herausforderungen, die es für eine Gesellschaft geben kann, das Zusammenleben so zu gestalten, dass möglichst vielen Menschen, möglichst viele Freiheiten zukommen. Deswegen ist es so elementar, dass Freiheiten mit Verantwortung, Respekt und Rücksicht verbunden werden. Es kann deswegen hilfreich sein, sich zu fragen, warum man etwas sagen oder tun möchte, und was passieren würde, wenn man darauf verzichtet. Denn Freiheiten sind meistens eine Sache der Aushandlung, die auf der Überlegung basiert, welche Konsequenzen die freiwillige Einschränkung der eigenen Freiheit hätte. Man kann sich fragen, ob der Verzicht auf ein Wort, für das es einen Ersatz gibt, wirklich schwerer wiegt, als die Freiheit anderer. Oder ob die eigene Auswahl eines Kostüms relevanter ist, als die Repräsentation einer Kultur. Ebenso kann man, bevor eine Aussage trifft, für einen Moment innehalten und die eigene Meinung in Frage stellen. Es sollte nicht zu viel verlangt sein, auch lang gehegte Ansichten oder vermeintliches Wissen zu hinterfragen. Wenn die Antwort auf diese Frage dann lediglich darin besteht, zu sagen “Ich darf das“, hat man es sich wahrscheinlich zu leicht gemacht. 

Es kann also gute Gründe geben, nicht alles zu sagen, was man sagen will. Dazu gehören rein egoistische Gründe, wie, dass man seine Anleger*innen und Werbekund*innen nicht verprellen will, ebenso wie, dass man anderen Menschen durch eigene Aussagen kein Leid zufügen will. Selbst die elementarsten Freiheiten, die juristisch garantiert sind, stehen im Kontext eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das nur mit Rücksichtnahme funktionieren kann. Die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung vorzuschieben, um einfach alles zu sagen, was man sagen möchte, egal, welchen Schaden man damit anrichtet, zeugt hingegen von Respektlosigkeit gegenüber den Werten von Freiheit und Demokratie. Dadurch verkommt eine der zentralsten Voraussetzungen für eine freie Gesellschaft zu einer leeren Hülle, unter der sich jeder verstecken kann, der sich angegriffen fühlt, weil ihm Kritik oder Widerspruch entgegenschlägt, oder dem gesagt wird, seine Äußerungen seien diskriminierend. Das ist nicht nur den Menschen gegenüber respektlos, die diskriminiert werden oder denen ihre Identität abgesprochen wird, sondern auch denen gegenüber, die in repressiven und diktatorischen Staaten wie dem Iran oder China darum kämpfen, nicht für ihre freie Meinungsäußerung verfolgt, gefoltert und getötet zu werden. Denn auch wenn Voltaire vieles nicht gesagt hat, was ihm zugeschrieben wird, dürfte sein Verständnis von Meinungsfreiheit vor allem darauf gezielt haben, gegen staatliche Unterdrückung vorzugehen.

Übrigens ist Voltaire trotzdem kein guter Gewährsmann für Freiheit und Demokratie. Seine Schriften sind voll von zweifelsfrei antisemitischen und zutiefst rassistischen Aussagen, die heutzutage vermutlich sogar unter Volksverhetzung laufen würden und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt wären. Voltaire dürfte heute wirklich nicht alles sagen, was er meinte, und selbst das wäre richtig so. Man muss – um Evelyn Beatrice Hall Aussage zu variieren – wahrlich nicht für jede Meinung bereit sein zu sterben.

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Barbiecore und der Kampf gegen das Patriarchat: Trägt die neue feministische Welle pink?

von Katharina Walser

“Wie Barbie zur feministischen Ikone wurde”, erklärt ein Artikel im Icon. Dass der Barbie Film in der Mode noch “Spuren hinterlassen” werde, mahnt ein Artikel in der Annabelle an, und “Warum Barbie und Pink jetzt als Feminismus-Symbole gefeiert werden” will das Emotion-Magazin erklären. So oder so ähnlich stand es in den vergangenen Monaten in zahllosen Artikeln in Lifestyle-Magazinen, Feuilletons und Newslettern. Die oft wiederholten Kernaussagen all dieser Texte wirken erst einmal simpel, aber einiges daran lohnt einen zweiten Blick. Am vordergründigsten die folgenden zwei Behauptungen: (1.) die zeitliche Chronologie und logische Kausalität “Barbie-Film führt zu Mode-Trend” und (2.) Greta Gerwigs kinematografischer Ausflug in Barbies Traumland ebenso wie der Modetrend selbst seien feministisch. 

Schauen wir uns das Ganze genauer an: Was war zuerst da? Die Barbiecore-Henne oder das Barbie-Film-Ei? Und was genau ist an beiden potenziell “feministisch”? Und zuallererst: Was um alles in der Welt ist eigentlich Barbiecore?

Wurzeln des Barbiecore im “Dopamin Dressing” und Y2K Revival

Wer den Begriff “Barbiecore” als Hashtag bei TikTok eingibt, stellt fest, dass es zu dem Schlagwort die absurde Zahl von über 500 Millionen Aufrufe gibt. Schnell erfasst man die große Palette an Produkten, die sich hinter dem Mode-Trend verbirgt: von knallpinken Kleidern über durchsichtige Plastik-Accessoires, Glitzer-Schuhen im Mules Stil (das sind die Peep-Toe-Pumps, die hinten wie ein Flip-Flop offen sind) bis hin zu allen anderen Kleidungsstücken, die geradewegs aus der Garderobe der ikonischen Plastik-Puppe stammen könnten. Aber man findet auch Beauty Trends wie den “Barbie Girl Blush” (eine sanft-pinke Rouge-Tönung) oder die “Barbie Nails”, die mal mit aufgesetzten Perlen-Details, mal mit aufgeklebten Barbie “B’s” vor allem dem Motto folgen: make it pink and make it bright! 

@namvoglow

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♬ Puff – Hany Beats

Aber ist der Trend, der so augenscheinlich die Ästhetik der Barbie-Puppe imitiert, wirklich eine direkte Folge auf Greta Gerwigs Barbie-Film, in dem wir Margot Robbie, Ryan Gosling und Co. durch eine detailreich inszenierte Spielzeuglandschaft wandeln sehen – unbiegsame Plastikwellen und abgehobene Fersen inklusive?

Ganz so einfach ist es mit keinem Modetrend. Denn Trends werden nicht einfach so geboren, sie sind lang gewachsene und kompliziert verwobene Netze des Zeitgeistes. Natürlich stimmt es, dass die Ankündigung des Barbie-Filmes im Juni 2022 wie ein Brennglas auf alles pinke und glitzernde funktionierte. Das schweizerische Lifestylemagazin Annabelle berichtete etwa, dass nach der Veröffentlichung des ersten Trailers laut der Shopping-App Lyst die Suchanfragen nach Mules, um 115 Prozent und die Anfragen nach pinker Mode um 80 Prozent höher waren als noch am Vortag. Die Google-Suche zu Haar-Blondierungen habe sich außerdem über Nacht verdreifacht. Und trotzdem – kein Trend der Welt kann so schnell durch eine Filmankündigung hochkochen, wenn er nicht schon vorher vor sich hin gebrodelt hatte.

Und es brodelte auch vor Trailer-Release stark im Barbie-Dreamland – sowohl bei Content-Creator:innen in den sozialen Medien als bei den Houte-Couture-Schauen einiger Luxus-Labels, die ihre Frühjahrs-/Sommer-Kollektionen 2022 der pinken Renaissance widmeten. Wohl mit am eindrucksvollsten ist die Valentino “Pink PP Collection”, für die ein individueller Pink-Ton entwickelt wurde, den es so nur bei Valentino geben sollte. Wer High-Fashion-Fashion-Schauen eher weniger verfolgt, erinnert sich vielleicht trotzdem an Florence Pugh, die bei der Vorstellung der Kollektion in Rom in einem transparenten pinken Tüll-Traum auftauchte (und daraufhin in den sozialen Medien für ihre Freizügigkeit angegangen wurde). 

Ähnliche Entwürfe sah man auch bei Chanel, Marine Serre, Versace, Moschino oder Pucci und die pinken Designs hatten schnell weitere prominente Schirmherrschaft, mit Sängerin Lizzo, die das Valentino Pink auf Instagram bewarb, oder Kim Kardashian, die sich (zugegebenermaßen pünktlich zum Trailer-Release) im Juni 2022 in einem pinken Ganzkörper-Anzug auf rosafarbener Satin-Bettwäsche räkelte. Sängerin Dua Lipa – die dem Soundtrack zum Barbie-Film ihre Stimme leiht und auch einen Cameo Auftritt im Film selbst hat – hat mit Donatella Versace im Rahmen ihrer “La Vacanza” Kollektion einen Bikini entworfen, der Barbie neidisch machen würde, und Hailey Bieber ist quasi seit einem Jahr eine wandelnde pinke Werbetafel. 

Da man die Barbie-Ästhetik nun so häufig sieht, vergisst man auch schnell, dass sie absolut kein neues Phänomen ist. Schließlich hat Moschino bereits 2015 den Barbie-Style im Rahmen der Frühjahr/Sommerschauen neu zum Leben erweckt und prominente Frauen wie Britney Spears oder Paris Hilton haben aus dem Barbie-Image schon in den 2000er Jahren Ruhm und finanzielle Imperien aufgebaut. Allerdings wurden sie dabei entweder abschätzig belächelt oder als nicht ernstzunehmende, kurzweilige popkulturelle Referenz abgetan (wie bei Moschino). Woher kommt nun also das Überschwappen vom Laufsteg zu TikTok, Instagram und den High-Street-Retailern der Welt? Denn der Barbiecore-Trend gewinnt dieses Jahr auch deshalb so richtig an Fahrt, weil die pinken Glitzerteile längst nicht mehr nur bei Valentino und anderen Luxusmarken zu kriegen sind, sondern auch bei H&M, Asos, Zara und Co. 

Der endgültige Durchbruch des Barbiecore-Trends ist, wie eigentlich alle Trends, dem richtigen Timing geschuldet. In diesem Fall spielen auch Post-Pandemie-Trends – Stichwort “Dopamin Dressing” – und das Y2K-Revival der Gen Z eine elementare Rolle. Aber auch die über Jahre erstarkte feministische Debatte um stereotypisierte Weiblichkeit.

“Dopamin Dressing” ist schnell erklärt: Nach den extrem auf Reduktion ausgerichteten Mode-Bewegungen während der Pandemie – wir erinnern uns an einen Einheitsbrei von farblich zusammenpassenden Loungewear-Twinsets in Beigetönen und farblose Trends wie die monochrome “Vanilla Girl Ästhetik” inklusive Nude-Make-up und “natürlich” gesträhnten Blondtönen, die 2021/2022 überall zu sehen war – folgte nach der Pandemie, wie es einige Modeexpert:innen bereits prophezeit hatten, die Rückkehr auf die Laufstege und das Street-Style-Leben mit einem Knall: sowohl farblich als auch, was die ausladenden, asymmetrischen Schnitte und hypertransparenten Stoffe anging. 

Beinahe gleichzeitig entdeckte die Gen Z die Mode der Nullerjahre wieder für sich: enge Croptops zu Baggy Jeans kamen zurück, genauso wie Hüftketten, Strassverzierungen und lange Baguette-Taschen. Also eigentlich alles, was Carrie Bradshaw in den ersten drei Staffeln “Sex and the City” getragen hatte.

Und, was Spears und Hilton um die Jahrtausendwende auf dem roten Teppich zeigten. Barbiecore ist quasi die unausweichliche Folge aus beiden Trendbewegungen. Und wie bei jedem Revival kommt es zu einer Umdeutung einiger Bestandteile des ursprünglichen Trends. Im Falle des Barbiecore ist es die Dekonstruktion seiner vermeintlichen Banalität und angeblich fehlenden Authentizität.

Die feministische Rückeroberung des Glamours

Wie funktioniert das feministische Rebranding des Barbiecore Trends, von dem TikTok- Creator:innen und Modeketten sprechen? Antworten findet man bei unserer lokalen Schirmherrin des Barbiecore – quasi bei unserer “Spitzenreiterin” (so auch der Titel ihres Romans) des pinken Trends: bei Autorin Jovana Reisinger. 

Nicht nur das Cover ihres aktuellen Buches “Enjoy Schatz”, eine kluge Verwebung der Themen Lust, Kapitalismus und Patriarchat, leuchtet strahlend pink,  auch im semi-privaten Raum auf Instagram und bei Lesungen lebt die Autorin den “Tussi-Lifestyle”, wie sie selbst sagt. Dass Tussi und Barbie nur zwei Begriffsseiten derselben Medaille sind, zeigt Reisinger schon durch die synonyme Verwendung des Begriffs in ihrem Text “Die subversive Kraft der Tussi, oder: In Barbiecore gegen das Patriarchat” für Vogue Germany. Darin erklärt sie, worin die empowernde Kraft eines Lifestyles zwischen gemachten Nägeln, blondierten Haaren und Glitzer-Tops liegen kann. Nämlich in der Rückeroberung eines misogyn gelabelten, “hyperfemininen” Looks. Es ist höchste Zeit, denn Reisinger zeigt in ihrem Text, wie unhaltbar und verheerend die Vorstellung ist, jemand, der:die dem klassischen “Tussi-Bild”entspreche, könne nicht clever, weltgewandt und interessant sein und zeigt deutlich, dass sich hinter dieser Parallelisierung in den letzten Jahrzehnten eine große antifeministische Agenda versteckte.

Aber sie zeigt ebenso auf, dass ein großes Potenzial darin liegen kann, auf diese Weise unterschätzt zu werden und zitiert am Ende ihres Essays eine befreundete Schriftstellerin, die ihr gesagt habe, “harmlos eingeschätzt zu werden, hat auch seine Vorteile – die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, wenn wir sie zerlegen.” Die, das sind diejenigen, die Profit daraus schlagen, Ästhetiken, die als “typisch weiblich” gelabelt werden,  abzuwerten. Die moderne Barbie zelebriert also den Glamour neu, den das Patriarchat ewig als “unauthentisch”, “hohl” und “fake” gelabelt hat – vielleicht nicht als Rache, aber doch als Abrechnung mit diesem unterkomplexen Stereotyp. Fun Fact Nummer 1: Glamour ist ursprünglich ein Begriff, mit dem unredliche Zauber oder Hexereien bezeichnet wurden, und ist somit geradezu prädestiniert misogyn besetzt zu werden. Fun Fact Nummer 2: 1993 vertauschten US-amerikanische feministische Aktivist:innen in verschiedenen Spielzeugläden die Stimmen der Barbie-Puppe mit der im Inneren der Militär-Action-Figur G.I. Joe, woraufhin Barbie auf Knopfdruck ​“vengeance is mine” rief. 

Barbie als Antitypus des Pick-Me-Girls

Barbiecore ist, wenn man ihn denkt wie Reisinger, auch die ultimative Versöhnung mit allen Britneys und Parises, die nicht nur von Männern im Patriarchat abgewertet wurden, sondern auch von Frauen, die zu lange versucht haben, dem Male Gaze gefällig zu sein. Hier kommt die dritte Säule ins Spiel, die der Rückkehr des Barbiecore mit seiner neuen politischen Schlagkraft die Bühne bereitet hat. Nämlich die Debatte um eine der größten Antagonistinnen der vierten feministische Welle: das Pick-Me-Girl. 

In feministischen Kreisen, die sich aktiv den Schnittstellen von Kapitalismuskritik und Patriarchatskritik widmen, steht das Pick-Me-Girl synonym für eine Ellenbogen-Kultur mancher Frauen, die sie anwenden, um innerhalb eines patriarchalen Systems nach oben zu kommen, statt dieses selbst zu unterwandern. Typische Sätze des Pick-Me-Girls sind: “Ich bin nicht wie andere Frauen”, “Ich kann viel besser mit Männern, die machen weniger Drama” oder auch: “Eine Frauenquote finde ich unnötig – wer sich anstrengt kann alles schaffen”. Das Pick-Me-Girl ist der Antityp zu solidarischen Bewegungen und die (weibliche) Galionsfigur der Hustle Culture. 

Barbiecore entfaltet also feministisches Potenzial, indem die Träger:innen mal ernsthaft, mal spielerisch in alle Klischees eintauchen, die das Pick-Me-Girl ablehnt – inklusive pinker Stilettos und Gespräche über das beste Maniküre-Studio.

Der Barbiefilm als kapitalistische Vermarktungsmaschine

Und wenn wir schon bei Kapitalismuskritik in Verschränkung mit Feminismus sind, sind wir auch schon bei Greta Gerwigs Barbie-Blockbuster, beziehungsweise bei der nicht so leicht zu beantwortenden Frage, inwieweit in ihm feministisches Potenzial steckt. Vorneweg: ein Film ist niemals feministisch. Er kann feministische Figuren inszenieren, er kann sicherlich auch im Plot feministische Fragen verhandeln und implizit feministische Aussagen über das Schicksal seiner Figuren treffen – aber der Film selbt, insbesondere einer in der Größe wie Gerwigs “Barbie”, ist in erster Linie eine Vermarktungsmaschine. In diesem speziellen Fall vielleicht eine der besten Film-Vermarktungsmaschinen aller Zeiten. Inklusive Barbie-Filtern, mit dem jede:r Instagram-User:in eine individuelle Selfie-Version der Film-Poster erstellen kann, einem pinkes Dreamhouse, das Airbnb-Gäste ein paar Wochen vor Film-Release plötzlich in den Inseraten in Malibu entdeckten und legendären Press-Tour-Looks von Margot Robbie, deren Stylist für jede Premierenfeier ein anderes Outfit rekreierte, das die echte Barbie-Puppe in der Vergangenheit trug. 

Diese extreme Anstrengung, ein signifikantes popkulturelles Erlebnis zu schaffen, das über den Film hinausweisen soll, ist kein Wunder, bedenkt man, dass Mattel – der Spielzeughersteller der Barbie-Puppe – nicht nur Rechte für den Film freigegeben hat, sondern diesen initiiert und gesponsert hat. Mattel verfolgt mit dem Barbie-Film ein zeitgemäßes Rebranding seiner Puppen mit ökonomischem Kalkül. Ein Fakt, der spätestens nach einem Artikel des Time Magazine klar wird, das von Mattels Plänen berichtete, nach Barbie auch Polly Pocket, He Man und andere Plastik-Figuren aus dem Spielzeughaus ihren Weg auf die Leinwand finden.

Die Anstrengungen, Barbie wieder populär zu machen, leistet der Hersteller bereits seit 2014. Zuvor hatte das Unternehmen Rekord-Tiefs in seinen Umsatzzahlen verzeichnet – nicht zuletzt aufgrund von umfassender Kritik an dem problematischen Body/Diversitäts-Image, das die weiße, normschöne, dünne, cis-Puppe verkörpere.   Es folgten Schwarze Puppen, behinderte Puppen, Plus-Size Puppen, und jetzt eben ein Film, der von vornherein wusste, was er zu tun hatte, um als zeitgemäß zu gelten. 

Allen voran Greta Gerwig als Regisseurin einzusetzen, denn schon lange bevor der Trailer zum Film erschien, waren sich Content-Creator:innen in den sozialen Medien und Greta-Fans einig: der Film würde eine feministische Botschaft haben. Schließlich sei die Frau am Werk, die mit dem emanzipatorischen Coming-of-Age Film Lady Bird und der Neuerzählung des Historiendramas Little Women als Erfolgsgeschichte einer jungen Autorin, bekannt wurde. 

Auch die Plakate der Barbie-Film sprächen für eine feministische Botschaft, hieß es von allen Seiten. Diese zeigten nämlich nicht nur die verschiedenen Body-diversen Schauspieler:innen, die unterschiedliche Barbie und Ken-Versionen verkörpern sollten, von einer Schwarzen Schauspielerin zu einer trans Frau – sondern konzentrierten sich auch auf die Bewerbung des wohl feministischen Attributs der originalen Barbie-Puppe. Ihre Karriere. So waren die Protagonist:innen auf den Postern alle von ihrer (sehr angesehen) Berufsbezeichnung begleitet. “This Barbie is a doctor” (Hari Nef), “This Barbie has a Nobel Prize” (Emma Mackey), “This Barbie is a diplomat” (Nicola Coughlan). Die Ken Poster hingegen waren begleitet von den Phrasen “He is just Ken”, “He is also Ken”, “He is ken, too”. Es sei der ultimative Kommentar darauf, dass Ken schon immer bestenfalls ein menschliches Accessoire für Barbie war, während diese in ihrem langen Puppenleben schon in über 200 Karrieren brillierte. Als Astronauten-Barbie von 1986, als Piloten-Barbie 1991 oder als Sportlerin bei den olympischen Spielen 2001. 

Eines hat das Marketing in jedem Fall geschafft: Einen Hype kreiert – ob es darum ging, dass Personen in den sozialen Medien teilten, welches ihre erste Barbie war, oder Kolleg:innen in der Kaffeeküche davon sprachen, was sie zur Premiere tragen würden. Ein Hype der durch die Oppenheimer/Barbie-Memefication zu Barbenheimer (beide Filme wurden auf den 20.07. geplant) nur noch größer wurde. 

Aber kann eine Verfilmung, die bereits im Vorfeld so viel Erwartungen entfacht hat, das Versprechen des Barbiecores einlösen, wenn sie die Barbie bereits auf den Plakaten ausgerechnet als Girl Boss (übrigens die Schwester des Pick-me-Girls) und Ken als bloßes Beiwerk inszeniert, wo doch das neue Pink – zumindest im echten Leben – nicht nur eine Befreiung von veralteten Bildern zu Weiblichkeit sein soll (niemand muss mehr Anwältin, Mutter und Model zugleich sein), sondern darüber hinaus alle Formen von binären Genderstereotypen unterlaufen soll. Auch, und vielleicht sogar allen voran, die Vorstellung von Maskulinität. Denn das ist es schließlich, was die Idee des Pick-me-Girls aufrechterhält. Barbiecore ist Teil dieser unterlaufenen altmodischen Männlichkeit, ob in Harry Styles plüschiger Bühnenästhetik oder als Daniel Craig, der zur letzten Bondpremiere in einem fuchsiafarbenen Samtanzug erschien. Nicht zuletzt deshalb ist die Gleichsetzung des Barbiecores mit der Hyperfeminität, die man nun in zahlreichen Rezensionen liest, unzureichend.

Ab hier Spoiler-Warnung zum Film.

Ken muss also mindestens mit der Inszenierung seiner reinen Männlichkeit hadern, wenn Greta Gerwigs Film zeitgemäßen Feminismus porträtieren will. Und der Film muss clever mit dem Übertritt in die “echte Welt” arbeiten, den Barbie vollziehen muss, nachdem sich ihre Fersen absenken und sie plötzlich – statt wie sonst elegant schwebend – plump von ihrer Veranda neben ihr Cabrio zu Boden fällt. So verkündet es ihr zumindest die “weird Barbie”, die die Rolle eines Orakels einnimmt. Barbie müsse nun wählen, heißt es, zwischen ihrem alten, sorglosen Leben im Barbie-Matriachat (sie hält symbolisch einen pinkfarbenen Stiletto in die Höhe) und der Rettung des Mädchens, das im echten Leben (symbolisiert durch eine dunkelbraune Birkenstock-Latsche)  mit ihr spiele. Denn die seltsamen Vorkommnisse samt flacher Fersen, seien ein unweigerliches Indiz, dass es besagtem Mädchen im echten Leben nicht gut ginge. 

David Pfeifer vermutete bereits im September 2022 in der SZ, was hinter diesem Plot-Kniff stecken könnte: “Barbie muss Barbieland aufgrund ihrer Makel verlassen und stellt in der echten Welt fest, wie wenig äußere Schönheit bringt, wenn es drinnen nicht stimmt.” Das wäre – nicht nur für die Idee des Barbiecores, sondern auch aus feministischer Sicht – mehr als enttäuschend in seinem über simplifizierten Gegensatz von äußerer Ästhetik und inneren Werten. Und zum Glück kommt es im Film auch nicht zu dem vereinfachten Dualismus zwischen echter Welt und Barbieland – ebenso wenig, wie er sich darauf festnageln will, dass Barbie eine feminstische Heldin ist. 

Noch keine drei Minuten des Films sind vergangen, da hört man bereits Helen Mirren als Erzählerin sehr überspitzt formulieren, dass Barbie wirklich jedes Problem gelöst habe, das Frauen in der realen Welt so haben. Und wir gehen mit diesem schmunzelnden Bewusstsein in den Film, dass Barbie vielleicht eine Idee sein kann, aber eben auch nicht mehr als das. Unter diesen Vorzeichen begleiten wir sie dabei, wie sie in der echten Welt auf den CEO von Mattel und Entscheidungsträger über die neuen Barbies trifft, die auf den Markt kommen sollen und der es nicht für nötig erachtet, Frauen in seinem Führungsstab zu haben. Wir sehen, wie Ken in der echten Welt zum ersten Mal den für sich süßen Nektar des Patriarchats schmeckt – und ihn direkt mit ins Barbieland nimmt, um mit allen anderen Kens eine cowboyeske Parallelgesellschaft zu erschaffen. Und wir sehen, wie Barbie Barbieland von den Einflüssen der echten Welt wieder befreien will. 

Ob diese echte Welt gerettet wird, darum ging es nie – ebenso wenig darum, dass Barbie ihren Glamour ablegen muss, um das Patriarchat zu bekämpfen. Vielmehr war es die Rettung von Barbieland und der Idee Barbie, der sich “Stereotypical Barbie” annehmen muss, um dem sehr natürlichen, ernüchternden Prozess des Erwachsenwerdens als Frau entgegenzutreten. Sehr im Modus des Kindes auf der Schwelle zum Jugendalter ist es schließlich der Gedanke an den Tod, der Barbies erste Verbindung mit der echten Welt eröffnet, in der die Männer regieren und die Erfinderin der Barbie, Ruth Handler, nur noch in einem abgeschiedenen Zimmer in der Traumfabrik Mattel an einem kleinen Küchentisch vor sich hin denkt. 

Barbie als feministische Befreierin hat in diesem ernüchternden Prozess keinen Platz mehr, das macht ihr das Mädchen in der echten Welt schnell klar, die schon seit Jahren nicht mehr mit Barbie spiele, ebenso wie die Idee der reinen Männlichkeit, nicht mit Barbieland vereinbar ist, in dem nach der patriarchalen Kenifizierung Präsidentinnen-Barbie, Nobel-Preis-Barbie und Co. nur noch eisgekühlte Getränke servieren. Man ahnt es bereits in den ersten Szenen, lange vor dem finalen Kampf, der eigentlich ein Dance-Battle der Kens ist, dass in der Befreiung der Kens ein zentraler Schlüssel der neuen Barbie-Idee liegen muss, die zu Beginn des Filmes nur dann zusammenkommen, wenn es darum geht, Macht gegeneinander zu markieren. Der andere elementare Bestandteil der Überdauerung der Barbie-Idee kommt, wie sollte es auch sonst sein, von der einzigen Person in der Geschichte, die noch aktiv mit Puppen spielt, ihre Geschichten weiterdenkt und Barbie in ihren Mode-Skizzen neue Kostüme zurechtschneidert. Ihr Vorschlag: die Entwicklung einer “ordinary barbie”, die, so die menschliche Protagonistin des Filmes, einfach nur durch ihren Tag kommen will, vorzugsweise in einem cuten Top – also quasi die Anti-Girl-Boss-Barbie. Das ist alles sehr viel besser als die Vorstellung, dass Barbie in der echten Welt erkennen muss, dass ihre Barbie-Welt nichts als Schaum und Traum ist – und es wäre der natürlichen Bewegung von Kindheitsträumen und dem Identifikationsspiel mit Puppen auch nicht gerecht. 

Wenn der Film allerdings dieselbe Bewegung machen würde, wie der Barbiecore Trend, dann wäre es nicht Barbieland, was gerettet werden müsste, sondern es wäre Barbie, die, mit all ihrer Widersprüchlichkeit und pinkem Glitzer, die echte Welt rettet. Und Barbie würde, wenn sie sich zuletzt entscheidet, lieber in der echten Welt zu leben, auch nichts von ihrem Glitzer oder Make-up einbüßen müssen, wie sie es leider im Film letztlich tut. Über diese Enttäuschung tröstet dann leider auch nicht mehr das verkitschte Gespräch mit Ruth Handler hinweg, die ihr Dea ex Machina nach der Rettung des Barbielands begegnet, um ihr die Absolution zu erteilen, ein ordinäres Leben mit all seinen Höhen und Tiefen in der echten Welt zu leben. Nicht nur wird in dieser Szene ein durch und durch unangenehmer Mutter-Komplex auf den Plan gerufen, das Publikum wird außerdem noch einmal daran erinnert, dass der Film, so viel an ihm in feministischer Hinsicht aufgehen mag, auch zur aktiven Neuschreibung der Firmengeschichte Mattels durch die Inszenierung der Gründerin als sanftmütige Gerechtigkeitskämpferin dienen soll. 

Zumindest rettet “Steretypical Barbie” – im Kollektiv mit den anderen Barbies wohlgemerkt – Barbieland vor den Einflüssen des Patriarchats, das Ken aus der echten Welt miteingeschleppt hat. Die Erkenntnis, die das Kenoversum schließlich zum Bröckeln bringt, besteht darin, dass Ken (oder die Männlichkeit) nicht als Einheitsbrei funktionieren muss, sondern von der Vielzahl der individuellen Kens lebt, die die Kenergy aktiv selbst gestalten können. Und ganz am Ende bekommen die Barbiecore-Feminst:innen doch noch ein kleines metaphorisches Versöhnungsgeschenk-Geschenk in der echten Welt, wenn die ursprüngliche Wahl zwischen pinken Stilettos und Birkenstocks in Margot Robbies letztem Kostüm des Filmes in pinkfarbenen Glitzer-Latschen aufgelöst wird. Ganz so als sollten wir mit der Botschaft den Kinosaal verlassen, die auch Barbiecore mitliefert, nämlich dass wir – die Feminist:innen der Gegenwart – uns nicht entscheiden müssen zwischen einem glamourösen Leben und dem politischen Kampfgeist – beides geht zu gleichen Teilen und miteinander vielleicht sogar noch besser als vorher.

Foto von Avinash Kumar auf Unsplash

Wettlesen bei Susi’s Backhendlstation – Der Bachmannpreis 2023

von Eva-Sophie Lohmeier

Die Unterkunft lag in einem Dreieck aus Polizei, Laufhaus und Friedhof, und hinter dem Friedhof war Susi’s Backhendlstation, mehr braucht man im Leben und im Sterben nicht. Vielleicht noch die Konditorei unten im Haus. Vielleicht noch den See bei der Hitze im Sommer, aber dann ist wirklich Schluss. Hier könnte man in Ruhe existieren und jeden Tag diese unfassbaren Berge an Backhendl essen, die aufgetischt werden. Danach wahlweise einen monströsen Eisbecher oder einen Zirbenschnaps. So könnte es gehen in Klagenfurt, der kleinen Stadt in Kärnten, die von einem regiert wird, der einmal Jörg Haiders Tennislehrer war. Auch das könnte man herrlich ignorieren, kämen nicht ab und zu Stadtschreiber:innen, die einen in aller Öffentlichkeit daran erinnerten.

Die Stadtschreiber:innen sind ein Kollateralschaden des jährlich ausgetragenen Bachmann-Wettlesens, das offiziell „Tage der deutschsprachigen Literatur“ heißt beziehungsweise „Ingeborg-Bachmann-Preis“ nach dem höchstdotierten der Preise, die stets Ende Juni, Anfang Juli vergeben werden. Daneben gibt es ein ganzes Rahmenprogramm, das etwas despektierlich „Häschenkurs“ genannte Förderstipendium, Lesungen, Konzerte, ein Quiz und einen Empfang beim ehemaligen Tennislehrer, der nun als Bürgermeister arbeitet und sich auch dieses Jahr sehr große Mühe gab, wie jemand zu wirken, dem die schöne Literatur am Herzen liegt. Außerdem kann man in der Stadt kaum einen Schritt tun, ohne versehentlich in einen Autor oder zumindest Verlagsmenschen zu rumpeln. Und dann geht es sofort los: Wie fand man die Rede, wie war der Lesetag, wer war gut, wer weniger, was hat die Jury wieder abgelassen und wer hat es verdient, zu gewinnen? Nicht einmal auf der Buchmesse wird so viel über Literatur und Texte gesprochen, und dort betreibt man einen erheblich höheren Personalaufwand als das kleine ORF-Landesstudio Kärnten mit seiner dauerüberforderten Kantine, der ständig die Semmeln für die Leberkässemmeln ausgehen. 

Alles beginnt also am Mittwoch Abend mit vielen Reden. Diese Reden, wie sie unter anderem in Klagenfurt gehalten werden, beschwören regelmäßig Gründe, die Literatur gegen irgendeinen Feind von außen zu verteidigen. Gern lauert dieser Feind im Internet, er besteht in Schnelllebigkeit, in Geschwätzigkeit, in Seichtheit und Dauerverfügbarkeit. Im Internet ist alles billig und doof, und die Literatur wird diesen Zeitgeisterscheinungen entgegengehalten. Denn man kann, in den unvergessen kryptischen Worten des einstigen Juryvorsitzenden Hubert Winkels, das „Numinose“ nicht einfach so unters Volk schleudern. Und jetzt sollen auch noch KI und ChatGPT Texte produzieren? Da ist es gut, schon einmal prophylaktisch zu dem Schluss zu kommen, dass richtige Literatur natürlich auch dazu wieder ein Gegenentwurf ist und künstliche Intelligenz die menschliche Kreativität nicht ersetzen kann. 

Hätten wir das also schon einmal geklärt. Und sogar schon in der ersten Rede bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur – gehalten von der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard, unterstützt von einem animierten Avatar ihrer selbst. 

Wodurch Literatur aber wirklich gefährdet wird, das erfuhr man erst später. Zum Beispiel von Tanja Maljartschuk, der ukrainischstämmigen Bachmannpreis-Gewinnerin des Jahres 2018, die in ihrer Rede zur Literatur zugab, eine ehemalige Schriftstellerin zu sein, denn ihr versagten die Worte angesichts des Angriffskrieges, unter dem ihr Land und, ganz konkret, ihre Familie leidet. Ein angefangenes Buch über das Schtetl, das sich einst im Dorf ihrer Eltern befand, wird wohl niemals zu Ende geschrieben werden. Gefährdungen anderer Art sprach Jacinta Nandi an, die in diesem Jahr unter den lesenden Autor:innen im Wettbewerb war. Kinderbetreuung für die Beteiligten gebe es keine, und am Ende war die Reise, so berichtet sie auf Instagram, finanziell ein Minusgeschäft. Auch das ist Literaturverhinderung, aber eine, die sich nicht für Eröffnungsreden eignet. Die hat mit diesem Ding namens Alltag zu tun, was sich da draußen abspielt, weit außerhalb des ORF-Gartens, zwischen Laufhaus, Polizei, Friedhof und Susi’s Backhendlstation.

Umso dankbarer war man Insa Wilke, der Jurypräsidentin, der nach der Lesung von Laura Leupi dann doch kurz der Kragen platzte. Leupi las, nein, sie trug vor, und zwar „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Der Text handelt von Gewalt, einem Ich wurde Gewalt angetan, und es setzt sich nun neu zusammen. Wer jedoch dachte, man könne über diesen Vortrag sprechen, der eine Performance war, über die Textstruktur, über Listen als Stilmittel, über Schlagworte und wie sie auf die zarteren, subtileren Teile des Textes wirken, über die Ansprache an das Publikum, dem etwas zu pauschal unterstellt wurde, all das nicht zu kennen, und über die Sprache, die einem bleibt, wenn einem nach einer Vergewaltigung eigentlich eher nach Schreien oder Schweigen zumute ist, der wurde durch die Jurydiskussion eines besseren belehrt. Juror Philipp Tingler war es, der sagte, der Text sei nicht feministisch, der Text betreibe, was er kritisiere, er leide an einem Moralisierungsüberschuss und verwende Sprache totalitär. 

Drunter macht er’s wohl nicht, diese Suada einer gebrochenen Frau verwendet also totalitäre Sprache, und sofort bleiben einem angesichts dieser Geschütze sämtliche Einwände stecken und man seufzt und sieht ein, dass es anscheinend noch immer nicht möglich ist, bestimmte, weiblich besetzte Themen halbwegs sachlich zu verhandeln. Noch immer, so schließlich Insa Wilke, sei die Literaturkritik patriarchal geprägt und es sei schwer, da Durchlässigkeit zu schaffen. Umso dankbarer muss man sein, dass die Jurypräsidentin das sieht und ausspricht, und auch dem Jury-Neuzugang Thomas Strässle, dass er die Qualitäten in diesem Text gesehen und Laura Leupi eingeladen hate. Dennoch, man fühlte sich ungut an die frühen Jahre des Literarischen Quartetts erinnert und an die genervten bis abwehrenden Reaktionen der männlichen Kritiker, sobald ein weiblicher Alltag verhandelt wurde wie etwa in Marlene Streeruwitz’ Roman „Verführungen“, oder gottbewahre, weibliche Körperfunktionen, die nicht dem männlichen Amüsement dienen.

Nicht jeder Text ging in diesen Tagen in Klagenfurt so sehr ans Eingemachte wie der von Leupi, aber vielen merkte man an, dass sie sich an persönlichen Erfahrungen und Biographien entlanghangeln. Jayrôme C. Robinet, eingeladen von Mithu Sanyal, erzählt die Geschichte eines französisch-sizilianischen Mädchens, das zu einem deutschen Mann wurde, eingebettet in eine traumatische und anrührende Familiengeschichte. Er bekam viel Applaus und Zustimmung, am Ende aber keinen Preis. Jacinta Nandi erzählt mit bösem Humor von einer Mutter, die sich einredet, die Beziehung zu ihrem Mann sei keine Gewaltbeziehung. Deniz Utlu und Yevgeniy Breyger hadern mit Vätern mit Schlaganfall, allerdings in sehr unterschiedlichen Stilregistern.

Martin Piekar hadert sehr laut mit seiner polnischen Mutter, und überlässt ihr den zweiten Teil des Textes, in dem sie in ihrem eigentümlichen Deutsch zu Wort kommt. Ein Deutsch, so wird Piekar später in der Pause erklären, das in Millionen Haushalten gesprochen wird und es verdient, endlich Eingang in die Literatur zu finden. Seine Mutter fand es selbst nicht literaturwürdig, obwohl sie immer schrieb. All diese Geschichten handeln von Einwanderung, von Anpassung und Selbstfindung und zeigen, dass dieses Thema noch sehr, sehr lange nicht auserzählt sein wird. Oder, wie Sanyal in der Diskussion zu Robinets Text bemerkte: „Es gibt doch mehr als eine von uns.“ 

Zwei der Siegertexte, der von Valeria Gordeev (Bachmannpreis) und Anna Felnhofer (Deutschlandfunkpreis) berichten in sehr subtiler Weise von Gewalt. Felnhofer, die als Psychologin arbeitet, erzählt von einem Opfer von Schulhof-Mobbing, das sich in seine Rolle zu fügen beginnt, und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Auch Gordeevs Protagonist, der die Zumutungen des Alltags nur im Putzwahn übersteht, weist über seine kleine enge Bakterienwelt hinaus. Bei beiden Lesungen verstummte das Publikum, nur das gelegentliche Geraschel des Seitenblätterns war im Garten unter den Pavillons zu hören und ab und zu das Heulen einer Sirene, weil die Freiwillige Feuerwehr gleich nebenan ist. 

Aber ist ein Text dann ein guter Text, wenn er einen aufwühlt? Mithu Sanyal sprach sich energisch dafür aus. Mara Delius und Philipp Tingler waren die Vertreter der objektiven Kriterien, die sie an einen Text anlegen wollten wie ein Maßband. Insa Wilke wiederum beharrte darauf, dass jeder Text nur aus sich selbst heraus zu beurteilen sei. Leider sprach gegen Tingler und Delius, dass sie die konsequent langweiligsten Autoren eingeladen hatten. Ist Langeweile ein objektiv messbares Kriterium? Sicher nicht, aber irgendetwas in einem anstoßen darf ein Text dann doch, und sei es ein ganz unaufwühlender Denkprozess. Mara Delius lud zum einen Andreas Stichmann ein, der das Publikum mit einem Mann in Midlife-Crisis konfrontierte, der an Nesselsucht leidet und Menschen miteinander verwechselt. Ein „mittelalter Mann mit Männerkrise“, so formulierte es Insa Wilke, die an dieser Stelle noch ein wenig Restmitleid mit dem Patriarchat aufbringen konnte. Mittelprächtig genervt war die Jury bei Delius zweiter Autorin, Anna Gien, und ihrem somnambulen Traumtagebuch einer Erzählerin mit Thomas-Bernhard-Fetisch. Ja, das ist exakt so unangenehm wie es klingt. 

Philipp Tingler hat eine Vorliebe für Gesellschaftsromane, er hat selbst welche geschrieben, und nun lud er zwei Autoren ein, die ungefähr das lieferten. Sophie Klieeisen mit einem Hauptstadtevent im Humboldtforum, in dem neben Polit- und Kulturschickeria auch der leibhaftige Teufel auftritt, wenn man ihn germanistisch zu enträtseln vermochte. Zudem Mario Wurmitzer mit dem jährlichen, obligatorischen Beitrag zur Kritik modernen Dienstleistungswesens, in dem ein Mann in einem Tiny-House-Musterhaus lebt und sich dabei zuschauen lässt, das Modell muss schließlich verkauft werden Das klingt recht witzig, bleibt aber letztlich brav und harmlos. Oder, um ein Reizwort der diesjährigen Debatte einzubringen: konventionell. Darunter allerdings verstand jeder etwas anderes. Geklärt wurde dieser Komplex in diesem Jahr nicht, das wurde vertagt und lieber in der Schlussrunde noch ein wenig ausgekeilt. Weil die Jurysitzungen zur Ermittlung einer Shortlist abgeschafft wurden, finden letzte brachiale Überzeugungsarbeiten nun anscheinend vor den Kameras statt. 

Am Sonntag wurden die Preise vergeben und in allen Nachrichtensendungen vermeldet. Valeria Gordeev und Anna Felnhofer bekamen Preise, dazu Laura Leupi einen und Martin Piekar gleich zwei. Sie packen die Preise ein und verlassen noch am selben Tag die Stadt. Nur der Stadtschreiber darf im Sommer mehrere Monate in der Künstlerwohnung verbringen und daran erinnern, dass die Stadt von Jörg Haiders ehemaligem Tennislehrer regiert wird. Diese Aufgabe fällt im nächsten Jahr Martin Piekar zu. Er ist Lehrer von Beruf, er wird es den Einwohnern sicherlich pädagogisch behutsam beibringen. 

Foto von Eva-Sophie Lohmeier